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Die Nacht der langen Messer

von Martina Strobelt

Kapitel 1

Miles Edward O’Brien zupfte unbehaglich an dem steifen Kragen seiner weiß-roten Uniform, dann an dem Gürtel, der seine Taille unangenehm einschnürte und zu allem Übel auch noch seinen leider recht deutlichen Bauchansatz unvorteilhaft zur Geltung brachte.
„Diese Kleidung ist unbequem“, sagte er missmutig.
„Nicht unbequemer als die Rüstungen vor einem Monat“, erwiderte Julian Bashir, der neben ihm im Quark’s stand, ungerührt. „Und mit Sicherheit kleidsamer als die Felle vor vierzehn Tagen.“
„Braveheart war einer der größten irischen Freiheitshelden!“
„Was ich nicht bezweifeln will, Miles. Aber mal ehrlich, kamen Sie sich nicht auch ein wenig, nun ... lächerlich vor, mit diesem Ziegenfell um die Hüfte? Und dazu noch diese blaue Bemalung.“
„Diese Tracht war Ausdruck der Erdverbundenheit meiner Vorfahren, diese Uniform aber ist nichts als Ausdruck der Unterdrückung!“
„Aha, das ist also der springende Punkt, es stört Sie, ausnahmsweise einmal auf der Seite der Engländer zu stehen, nicht wahr?“
Der Chief verzog das Gesicht. „Ich habe nichts gegen die Briten.“
Julian lächelte nur.
„Na schön“, gab O’Brien zu. „Verdammt, ich bin Ire. Ich habe keinen Grund, die Engländer zu lieben. Soll ich sie vielleicht dafür mögen, dass sie mein Volk geknechtet haben?“
„Die irischen Freiheitskämpfe sind Jahrhunderte her.“
„Es gibt eben Dinge, die vergisst ein Ire nicht.“
„Miles!“
„Okay, es ist Ihr Ausflug, Julian. Aber wenn es schon Indien zur Kolonialzeit sein muss, wieso können wir nicht Inder sein? Warum müssen wir ausgerechnet Briten sein?“
„Weil Graf Kensington und sein Cousin Lord Asherton nun einmal Engländer und keine Inder waren. Falls es Sie tröstet, die beiden haben sich damals 1870 in der Nacht der langen Messer auf die Seite eines indischen Stammesfürsten geschlagen. Es kann also keine Rede davon sein, dass Sie von mir gezwungen werden, für die britischen Unterdrücker zu kämpfen.“
„Die Nacht der langen Messer“, wiederholte der Chief gedehnt. „Ein ungewöhnlicher Name für eine Schlacht.“
„Sehr bezeichnend, wenn man bedenkt, dass über dreihundert Inder damals ihren erfolglosen Aufstand mit dem Leben bezahlt haben. Den historischen Datenbanken zu Folge haben die engländischen Truppen ein furchtbares Blutbad angerichtet.“
„Wen wundert das“, murmelte O’Brien. Laut sagte er: „Ich dachte immer, Sie mögen solche Gemetzel nicht, Julian.“
„Tue ich auch nicht. Und um Ihrer Frage zuvorzukommen, ich habe dieses spezielle Holo-Programm nicht ausgewählt.“
„Nein?“ Der Chief zeigte sich überraschter als er war. Sofern es ihre Zeit zuließ, besuchten er und der Arzt einmal in der Woche gemeinsam eines von Quark’s Holodecks, um sich zu entspannen. Wann sie damit angefangen hatten, wusste keiner von ihnen genau, aber es machte Spaß, ebenso wie das regelmäßige Dart-Spiel. Nur, dass dort die Regeln klar vorgegeben waren, im Gegensatz zur Unterhaltung auf dem Holodeck. Nachdem sie sich einige Male nicht über das Programm hatten einigen können, hatten sie die Vereinbarung getroffen, dass immer abwechselnd einer von ihnen das Programm auswählte, wobei, mit Ausnahme der ganz speziellen Angebote, alles erlaubt war, das gefiel. Für gewöhnlich entschied O’Brien sich, wenn er an der Reihe war, für eine historische Schlacht, vorzugsweise gegen die Briten, wobei ihm die Schottenkriege aus den Jahren 2017-2028 ebenso genehm wie die irischen Freiheitskämpfe waren. Bashir hingegen wählte meistens sportliche Aktivitäten, wie Bergsteigen oder eine Kajak-Fahrt durch gefährliches Wildwasser, gelegentlich auch mal ein eher romantisches Abenteuer, das sie in die Zeit der Segelschiffe oder auf eine Südseeinsel versetzte, oder einen verzwickten authentischen Kriminalfall, den sie dann gemeinsam lösen mussten.
O’Brien hatte sich tatsächlich bereits gewundert, warum Julian sich für den heutigen Besuch des Holodecks ein derart brutales und blutiges Ereignis ausgesucht hatte. Aber wenn die Idee nicht von Bashir stammte, von wem dann?
Noch bevor der Chefingenieur seine Frage aussprechen konnte, näherte sich die Antwort in einem farbenfrohen Sarong, mit wehenden schwarzen Haaren und großen dunklen Mandelaugen, die vor Übermut förmlich sprühten.
„Entschuldige die Verspätung, Julian, aber ich habe über meinen Studien glatt die Zeit vergessen. Chief.“ Sie nickte O’Brien freundlich zu. Falls ihr die gerunzelte Stirn des Iren überhaupt auffiel, tat sie so, als ob sie nichts bemerkte.
Bashirs Wangen hatten sich leicht gerötet. Tapfer, und vielleicht auch ein wenig trotzig, hielt er dem vorwurfsvollen Blick O’Briens stand, der stummen Anklage, ihre Vereinbarung verletzt zu haben, niemals einen Dritten mit auf das Holodeck zu nehmen, mochte er - oder in diesem Fall sie auch noch so nett und hübsch sein.
Ayla Khan, ihres Zeichens begeisterte Studentin terranischer Literatur im letzten Semester, war vor einigen Tagen mit einer Gruppe Freundinnen nach DS9 gekommen. Die jungen Frauen hatten ihre Ferien auf Risa verbracht und auf dem Rückflug hier Halt gemacht, um den Bruder einer von ihnen zu besuchen, der bei der Sternenflotte und hier stationiert war. O’Brien kannte ihn flüchtig, ein schüchterner junger Mann. Am ersten Abend hatte die Gruppe das Kasino besucht. Ein betrunkener Gast hatte Ayla belästigt, Bashir hatte das Dart-Spiel mit dem Chief unterbrochen und war dem Mädchen zu Hilfe geeilt - so hatte es angefangen. Seitdem waren die beiden jeden Abend miteinander ausgegangen. Spätestens als Ayla ihre Freundinnen allein hatte nach Hause reisen lassen, war O’Brien klar geworden, dass die Sache zwischen Bashir und der hübschen Studentin über einen Flirt hinausging, begonnen hatte, sich zu einer ernsthaften Beziehung zu entwickeln.
Nun, wer konnte es dem Arzt verdenken, sich Hals über Kopf in ein derart entzückendes, lebensfrohes Mädchen verliebt zu haben. Aylas Vorfahren stammten aus Indien, verständlich, dass sie gemeinsam mit dem Mann ihrer Wahl einen Abstecher in die Vergangenheit ihres Volkes machen wollte, auch wenn O’Brien, sich an ihrer Stelle ein weniger grausames Kapitel ausgesucht hätte.
Aber all das änderte nichts daran, dass Bashir und er eine Vereinbarung hatten.
„Sind Sie auch so aufgeregt, Miles?“ Ayla strahlte ihn an. „Ich darf Sie doch Miles nennen, oder? Julian hat mir erzählt, dass Sie sein bester Freund sind. Das finde ich wunderbar, wissen Sie, es gibt nichts Wichtigeres als Freundschaft, naja...“ Sie warf Julian einen zärtlichen Blick zu. „Mit einer Ausnahme vielleicht.“ Ayla schob ihren linken Arm unter den Bashirs und ehe O’Brien sich versah, hatte sie ihn ebenfalls untergehakt. „Es ist sehr nett von Ihnen, Miles, dass Sie mich mitnehmen, wo Sie mich doch praktisch gar nicht kennen. Julian hat recht, Sie sind wirklich in Ordnung. Also, worauf warten wir, hinein ins Abenteuer!“
Himmel, der Charme dieses Mädchens war einfach umwerfend. O’Briens Ärger schmolz unter ihrem Lächeln wie Schnee in der Sonne.
„Na dann.“ Der Chief nickte erst ihr, dann Bashir zu. „Auf nach Indien!“


***

Die Dunkelheit im Schuppen wurde nur vom spärlichen Licht des Mondes erhellt, das durch das vergitterte Fenster fiel. Es roch nach Ziegendung und faulem Stroh.
O’Brien rümpfte die Nase. „Dieser Teil der indischen Geschichte gefällt mir immer weniger.“
Bashir, der neben ihm auf dem kahlen Boden hockte, lachte leise. „Kommen Sie, Miles, Sie sind doch sonst kein Spielverderber, also ich finde das alles ziemlich spaßig.“
„Ach ja?“ O’Brien verscheuchte ein Insekt, bevor es durch den großen Riss seiner Hose fliegen und es sich auf seinem nackten Knie gemütlich machen konnte. Mit Widerwillen betrachtete der Chief seine Hand, die ebenso schmutzig wie der Reste seiner Uniform war. Nicht etwa, dass er etwas gegen Dreck hatte, aber für ihn bestand ein nicht unerheblicher Unterschied zwischen Öl oder Schmiere und Ziegenmist!
„Ach ja“, wiederholte er ironisch. „Sie haben ein seltsames Verständnis vom Begriff Spaß. Soweit es mich betrifft, finde ich es alles andere als spaßig, mich bei vierzig Grad im Schatten über einen glühendheißen Exerzierplatz scheuchen zu lassen. Ich finde es auch nicht besonders spaßig, einen arroganten britischen Offizier mit Sir ansprechen und ihm die Stiefel putzen zu müssen, und wissen Sie was, ich finde es auch nicht sonderlich spaßig, von einer Horde bärtiger Wilder im Kaftan überfallen, entführt und in einem stinkenden Stall eingesperrt zu werden!“
„Vorhin waren es noch arme Unterdrückte.“
„Das sind sie immer noch, aber trotzdem, unter Spaß stelle ich mir etwas anderes vor! Da sind ja die Kajak-Fahrten noch besser, obwohl man da niemals weiß, ob man sie in einem Stück übersteht. Verraten Sie mir wenigstens, wie lange wir in diesem Loch bleiben müssen, bis jemand auf die Idee kommt, uns zu befreien, wir werden doch befreit, oder?“
„Mehr oder weniger, ja.“
„Was heißt hier mehr oder weniger?! Das Programm läuft noch mehrere Stunden! Meinen Sie, ich will die ganze Zeit in einem Raum voller Ziegenmist verbringen?!“
Ein leises Knarren enthob Bashir einer Antwort. Es kam von der Tür, die nun langsam aufschwang und den Blick auf eine schlanke Gestalt mit langem Haar freigab.
„Ayla, was ...“
Mit einigen schnellen Schritten war die junge Frau bei Julian und erstickte den Rest seines Satzes mit einem leidenschaftlichen Kuss. Erst als O’Brien sich vernehmlich räusperte, gab sie Bashirs Lippen wieder frei. Die Brust des Arztes hob und senkte sich schnell. In seiner Stimme schwang Erregung. Gemischt mit einem Hauch Missmut:
„Wieso bist du hier, Ayla? Laut den historischen Fakten sind Prinzessin Shalimar und Lord Asherton sich erst am Morgen des Aufstandes auf dem Richtplatz begegnet. Ich dachte, du wolltest die authentische Geschichte nachspielen. Warum also bringst du die Fakten durcheinander?“
„Tut mir leid.“ Scheinbar schuldbewusst senkte die junge Frau den Kopf, aber das Funkeln in ihren Augen und das winzige Zucken ihrer Mundwinkel, straften ihre Reumütigkeit Lügen. „Aber es dauert noch eine Stunde, bis die Sonne aufgeht. So lange konnte ich einfach nicht warten. Außerdem“, ergänzte sie mit einem schelmischen Lächeln, „nur weil überliefert ist, dass Shalimar und Asherton sich das erste Mal am Morgen vor der Nacht der langen Messer gesehen haben, heißt das doch nicht zwingend, dass es auch wirklich so geschehen sein muss. Shalimar könnte von ihrem Fenster aus beobachtet haben, wie die Wachen ihres Vaters die beiden britischen Gefangenen in den Kerker schafften, und weil sie sich auf der Stelle in einen von ihnen unsterblich verliebt hatte, schlich sie als Dienerin verkleidet zu ihm, um ihn und seinen Freund heimlich zu befreien. Es könnte sein, dass es in Wahrheit so gewesen ist, der Rest könnte später hinzugedichtet worden sein. Um die Ehre der Prinzessin zu schützen, oder die ihres Vaters ...“
„Von mir aus“, gab Bashir sich mit einem gespielten Seufzen geschlagen, während seine Finger über ihr ärmliches Kleid strichen, das keinerlei Ähnlichkeit mit dem prächtigen Sarong hatte, den sie beim Betreten des Holodecks getragen hatte. „Für gewöhnlich ist die historische Datenbank der Föderation zwar für ihre Genauigkeit bekannt, aber wenn es dir besser gefällt, Graf Kensington und Lord Asherton auf diese Weise zu retten, soll es mir recht sein. Der Chief hat bestimmt nichts dagegen, diese anheimelnde Behausung ein wenig früher als geplant zu verlassen, oder?“
„Oh nein, gewiss nicht“, stimmte O’Brien sofort zu. „Je eher desto besser. Ich hoffe für Sie, Julian, dass dieser aparte Ziegen-Duft einer ordentlichen Ultra-Schall-Dusche nicht standhalten wird, ansonsten wünsche ich Ihnen sehr viel Spaß bei der dann fälligen Unterredung mit Keiko.“
Ayla war bereits an der Tür. „Kommt!“, drängte sie. „Wir müssen uns beeilen, ich weiß nicht, wie lange die Wirkung anhalten wird. Ich habe den Wächter mit einem Stück Holz ins Reich der Träume geschickt“, fügte sie erklärend zu, als sie Bashirs fragenden Blick bemerkte.
„Also wirklich, Ayla!“ Der Arzt schüttelte leicht den Kopf.
Sie zuckte mit den Schultern. „Es war die einzige Möglichkeit, ihn auszuschalten. Er ist doch ohnehin nur eine holographische Projektion.“
O’Brien grinste. „Wo sie recht hat, hat sie recht. Also los, Julian, worauf warten Sie? Meine Nase sehnt sich dringend nach einer Briese holographisch frischer Luft!“ Damit lief er an Ayla vorbei zur Tür...
...und prallte dort mit einem hünenhaften Inder zusammen, dessen Schläfe eine gewaltige Beule zierte - was sein grimmiges Gesicht noch bedrohlicher machte.
„Halt Engländer!“, grollte er.
Über zwei Stunden hatte Chief Miles Edward O’Brien sich mit eiserner Beherrschung dem Drill in einer britischen Kaserne unterworfen, auf dem Exerzierplatz geschwitzt, die dreckigen Stiefel eines englischen Offiziers gewienert, den er zum Dank ständig mit Sir hatte ansprechen müssen.
O’Brien hatte es tapfer ertragen, in diesen stinkenden Stall gesperrt zu werden, fast eine Stunde hatte er so flach geatmet, dass sein Kopf unter dem konstanten Sauerstoffmangel angefangen hatte, höllisch zu schmerzen.
All dies hatte Chief Miles O’Brien ohne größere Klagen geduldig über sich ergehen zu lassen, aber diese beleidigende Anrede war zu viel ...
„Jetzt hör mir mal zu, du verdammter Turban-Träger!“, stieß er in heiß aufflammendem Zorn hervor. „Ich habe genug von dir! Und von deinen barbarischen Freunden auch! Ich rieche wie ein Ziegenbock, und meine Frau wird das nicht spaßig finden! Und weißt du was, ich finde das auch nicht spaßig! Und nun rate ich dir dringend, den Weg zu räumen, bevor ich ernsthaft wütend werde!“
Der Inder hatte diesen Ausbruch ohne jede Regung verfolgt. Doch als O’Brien nun Anstalten machte, sich an ihm vorbei ins Freie zu drängeln, zog der Wächter blitzschnell einen Säbel aus seiner Schärpe und hieb zu.
Geschockt starrte der Chief auf seinen zerfetzten Jackenärmel, auf das rote Blut, das an der Stelle, wo die Klinge in sein Fleisch eingedrungen war, den Stoff zu tränken begann.
Sein Blut.
O’Brien empfand keinen Schmerz, nur grenzenlose Fassungslosigkeit über das Undenkbare, das hier gerade passiert war.
Holodecks dienten der Unterhaltung. Die Sicherheitsvorkehrungen verhinderten, dass die Benutzer zu Schaden kommen. Sie hätten sich in dem Moment aktivieren müssen, als ihn der Säbel getroffen hatte.
Bashir war nicht minder entsetzt. Sein geschultes medizinisches Auge verriet ihm zwar, dass der Chief nicht lebensgefährlich verletzt war, zumindest nicht, wenn es ihm gelang, die Blutung rechtzeitig zu stoppen. Nur eine Fleischwunde, tief zwar, aber gemessen an dem, was der Wächter mit seinem Säbel hätte anrichten können lediglich ein harmloser Kratzer, der von Seiten des Inders vermutlich als Warnung gedacht gewesen war. Trotzdem ...
Holodecks unterlagen strengen Sicherheitsbestimmungen, regelmäßigen Kontrollen. So etwas durfte nicht geschehen.
„Computer“, befahl der Arzt heiser. „Programm beenden! Programm beenden!“, wiederholte Bashir lauter, als keine Reaktion erfolgte. „Computer, den Säbel entfernen! Computer, die Figur des Inders löschen! Sofort!“, versuchte er es erneut, wiederum ohne Erfolg.
Der Wächter verzog sein Gesicht zu einem verächtlichen Lächeln. „Du redest wirres Zeug, Engländer. Und nun zurück mit euch beiden!“ Er hob drohend seinen Säbel.
Langsam wich Bashir zurück, wobei er den Chief stützte, der schwankte und sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.
Ayla wollte ihnen folgen, wurde daran jedoch von dem Inder gehindert, der sie an der Schulter packte.
„Du nicht!“, sagte er. „Du kommst mit mir!“
Die junge Frau starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Ihr Blick, in dem Furcht und Entsetzen lag, wanderte hilfesuchend zu Bashir.
„Was haben Sie mit ihr vor?“, fragte der Arzt, um einen festen Tonfall bemüht. Er zwang sich, das Stöhnen des Chiefs zu ignorieren, der mit glasigem Blick schwer an seinem Arm hing.
„Sie ist eine Verräterin, dafür hat sie tausend Tode verdient.“ Der Wächter grinste. „Doch es wäre schade um so ein hübsches, kleines Vögelchen.“
„Julian!“, wimmerte Ayla.
„Nein!“, brach es aus Bashir heraus. „Das können Sie nicht tun, das dürfen Sie nicht! Hören Sie“, fuhr er beschwörend fort. „Das Mädchen ist keine Verräterin. Sie ist ... Shalimar, die Prinzessin. Verstehen Sie nicht, sie ist die Tochter Ihres Fürsten! Er wird Sie bestrafen, wenn Sie ihr auch nur ein Haar krümmen!“
Für einen Moment schien der Inder verunsichert, dann lachte er abfällig. „Netter Versuch, Engländer, aber wenn die da“, er wies mit dem Kopf auf Ayla, „die Tochter von Fürst Chandra ist, dann bin ich ein britischer Offizier.“ Immer noch lachend drehte er sich zur Tür um, Ayla, die offenbar zu entsetzt war, um sich zu wehren, mit sich ziehend.
„Nein!“ Bashir ließ den Chief los, der ohne diesen Halt sofort in sich zusammensackte, und sprang vor, um sich auf den Wächter zu werfen. Aber der Inder, der wohl mit einem solchen Angriff gerechnet hatte, wich zur Seite und holte aus.
Das Letzte, was Julian bewusst wahrnahm, waren Aylas Schreie, die sich mit dem Geräusch des Schlages mischten, der ihn hart am Kinn traf, dann wurde es Nacht um ihn.

***

Als Bashir wieder zu sich kam, hatte er das Gefühl, jemand würde seinen Kopf als Amboss benutzen. Stöhnend richtete er sich auf, dann setzte die Erinnerung ein.
Die Schutzvorkehrungen des Holodecks hatten versagt. Ayla. O’Brien.
„Miles?“, flüsterte der Arzt. „Miles?“, wiederholte er lauter.
Der Chief war verletzt gewesen, sollte er etwa verblutet sein... nein, das konnte nicht sein... das durfte einfach nicht sein...
Bashir achtete nicht auf den pochenden Schmerz hinter seinen Schläfen. Dort links neben sich glaubte er die Gestalt des Chiefs auf dem Boden zu erkennen.
„Miles?!“ Auf allen Vieren kroch der Arzt zu dem reglosen Körper. Es war tatsächlich O’Brien. Und wie Bashir trotz der Dunkelheit sehen konnte, atmete der Chief noch, flach zwar, aber er atmete. Vorsichtig tastete der Mediziner nach dem Puls des Bewusstlosen. Offenbar war es O’Brien mit letzter Kraft noch gelungen, ein Stück Stoff von seiner Uniform abzureißen und seinen verletzten Arm damit abzubinden, bevor ohnmächtig geworden war. Bashir dankte dem Himmel für die Zähigkeit des Iren, ohne die er vermutlich jetzt tot wäre.
O’Briens Haut fühlte sich kalt an. Bashir zog seine Jacke aus und deckte den Chief damit zu. Mehr konnte er im Moment nicht für ihn tun.
Unerwartet begann O’Brien sich zu regen. Seine Augenlider flatterten leicht, seine Lippen bewegten sich. „Julian? Sind Sie das, Julian?“
„Ganz ruhig, Miles, Sie haben eine Menge Blut verloren.“
„Ayla?“
„Der Wächter hat sie mitgenommen.“ Bashir atmete tief durch. Er durfte jetzt nicht an Ayla denken, sonst würde er verrückt werden, und damit war keinem von ihnen geholfen. „Ich weiß nicht, wo sie ist.“
„Ich hoffe, Sie finden sie, Julian. Es ... reicht, wenn einer von uns ... stirbt.“
„Was reden Sie da für einen Unsinn, Miles.“ Bashirs vorgetäuschte Zuversicht klang selbst in seinen Ohren falsch. „Sie werden nicht sterben. Keiner von uns wird das!“
„Das Leben geht schon seltsame Wege, was Julian“, sprach O’Brien weiter so als ob Bashir gar nichts gesagt hätte. „Damals im Krieg gegen die Cardassianer, da rechnete ich ständig, mit dem Tod, wir alle taten das. Aber seit wir Frieden haben. Sicher, es kann immer was passieren, wir alle wissen, dass das All viele Gefahren birgt, aber ich hätte es mir wirklich nie träumen lassen, dass ich einmal in einer von Quarks Holokammern sterben würde, niedergestreckt von einer ... Holographie.“ Er hustete. „Und zu allem Übel auch noch in der Uniform eines verdammten ... Briten! Also, wenn ich meinen Tod schon einer Holodeck-Projektion verdanke, dann wäre es mir lieber gewesen, als echter Ire an der Seite von Iren im Kampf gegen die englischen Unterdrücker zu sterben.“
Trotz der Lage, in der sie sich befanden, musste Bashir angesichts dieses leidenschaftlichen Patriotismus unwillkürlich lächeln.
„Sie werden nicht sterben“, wiederholte er, und diesmal klang es so aufrichtig, wie es gemeint war. „Die Tatsache, dass sie genug Energie haben, sich über Ihre Nationalität aufzuregen, ist ein gutes Zeichen dafür, dass es mit Ihnen aufwärts geht.“
O’Brien brummte etwas Unverständliches. Dann setzte er sich mit einem Ruck auf, so als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen.
„Sagen Sie mal, wie ging diese Geschichte zwischen Shalimar und Asherton damals eigentlich aus?“
„Asherton und sein Freund Kensington sollten auf Befehl von Shalimars Vater, Fürst Chandra, am Morgen nach ihrer Gefangennahme öffentlich hingerichtet werden. Aber Shalimar, die in einer Sänfte der Exekution beiwohnte, verliebte sich auf den ersten Blick in Asherton. Sie bat ihren Vater, die beiden Engländer zu begnadigen. Fürst Chandra vergötterte seine Tochter, er konnte ihr nichts abschlagen. Des Schicksals Fügung wollte es, dass Asherton die Gefühle Shalimars erwiderte - und da er und Kensington mit der Behandlung der Inder durch ihre britischen Landsleute ohnehin niemals so recht einverstanden gewesen waren, nutzten beide die Gelegenheit, um sich Fürst Chandra anzuschließen. Ein wenig zu kitschig für Ihren Geschmack, ich weiß. Doch Ayla .., sie war.. ist ... hoffnungslos in diese romantische Begebenheit vernarrt und ...“
„Mein Gott!“, fiel O’Brien ihm ins Wort. „Soll das etwa heißen, dass die Beiden damals allein durch Shalimars Eingreifen vor dem Henker gerettet wurden?!“
„Wenn man den historischen Daten glauben darf, ja“, antwortete Bashir. Dann ging auch ihm die Bedeutung dieser geschichtlichen Fakten auf. Sein entsetzter Blick zuckte zum Fenster, durch das bereits zaghaft die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne in den Schuppen fielen.
„Im Morgengrauen ...“, flüsterte der Arzt. „Aber Shalimar... Ayla...“
O’Briens Blick war dem Bashirs gefolgt und wanderte nun zurück zu den bleichen Zügen des Mediziners. „Tja“, meinte er gedehnt. „Ich würde sagen, wie die Dingen stehen, haben Asherton und Kensington - sprich wir beide - jetzt wohl ein Problem. Und zwar ein ganz gewaltiges ...“
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