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Der zerbrochene Spiegel

von Martina Strobelt

Auf schmalem Grat – Teil 1

Der Grat zwischen Sieg und Niederlage
ist bisweilen nicht weniger schmal
als der zwischen Recht und Unrecht




Durch die hohen Panoramafenster hatte man einen guten Ausblick auf die funkelnden Sterne und auf die fremd anmutende Form der Raumstation. Von hier oben wirkte DS9 beinahe noch größer als es tatsächlich der Fall war.

Die dunkelhaarige Frau und der bärtige, breitschultrige Mann, die an einem der kleinen Tische saßen und hinaus in die Schwärze des Alls sahen, trugen beide Uniformen der Sternenflotte, die sich jedoch durch die Farben unterschieden. Sowie durch die Anzahl der Rangabzeichen, die den jeweiligen Kragen zierten.

„Ich danke Ihnen, Commander.“ Die Frau wandte dem Mann ihr Gesicht zu. Das diffuse Licht der Bar zauberte goldene Reflexe auf die zarten Züge mit der auffallenden Fleckenzeichnung.

„Ich bin es, der Ihnen danken muss“, wehrte er lächelnd ab. „Es war mir eine Freude, Ihnen das Schiff zu zeigen. Mehr noch, ein Vergnügen.“

Sie erwiderte das Lächeln. „Dann verzeihen Sie mir also, dass Sie Ihr Treffen mit Commander Worf meinetwegen verschieben mussten?“

„Ich bin entzückt. Nichts gegen Mister Worf. Indessen müssen Sie zugeben, dass er etwas weniger Charme besitzt als Sie. Außerdem ist er bei weitem nicht so attraktiv.“

Die Augen der Trill funkelten amüsiert. „Das, Commander, ist wie so Vieles im Leben eine Frage des Standpunktes.“

„Warum nennen Sie mich nicht einfach Will?“

Riker griff nach ihrer Hand, die locker auf der Tischplatte lag, und führte sie an seine Lippen. „Wir haben uns jetzt über eine Stunde förmlich mit unseren Dienstgraden angesprochen. Ich finde, dass wir sämtlichen Protokollen der Sternenflotte damit ausreichend genüge getan haben, meinen Sie nicht auch, Commander Dax?“

Sanft, aber bestimmt entzog sie ihm ihre Hand wieder, bemüht, ihre Erheiterung angesichts seiner offenkundigen Enttäuschung über diese Aktion zu verbergen. Der erste Offizier der Enterprise war kein Mann der verpassten Gelegenheiten, und Dax hatte nicht die Absicht, ihn in irgendeiner Weise zu etwas zu ermutigen, das über einen harmlosen Flirt hinausging. Nicht, dass er nicht attraktiv gewesen wäre. Aber für ihren Geschmack war sein Selbstbewusstsein in dieser Hinsicht etwas zu stark ausgeprägt.

„Ich denke, dass ich Sie lange genug aufgehalten habe, Will.“ Die Trill stand auf. Sie strich ihre Uniform glatt und betätigte ihren Kommunikator. „Commander Worf?“

„Worf!“ erklang die tiefe Stimme des Klingonen aus dem Gerät.

„Commander Riker und ich werden uns in wenigen Minuten nach DS9 beamen lassen. Ich dachte mir, dass Sie vielleicht gerne auf der OPS sein würden, wenn wir ankommen...?“

„Danke, Commander, ich werde Sie dort erwarten. Worf Ende.“

Dax unterbrach die Verbindung und warf dem ersten Offizier der Enterprise einen auffordernden Blick zu.

Dieser erhob sich mit einem stillen Seufzen. Wäre es nach ihm gegangen, hätten sie ruhig noch ein Weilchen hier in Zehn Vorn bleiben können. Er hatte die Bar der Enterprise wegen ihres romantischen Flairs als letzte Station der privaten Besichtigungstour gewählt. Nun musste er sich der Erkenntnis stellen, dass sein Gast sich von der Atmosphäre dieses Ortes ebenso wenig beeindrucken ließ wie von seinem berühmt-berüchtigten Charme.

Riker deutete eine Verbeugung an. „Nach Ihnen.“

Seine Stimme hatte nichts an Freundlichkeit eingebüßt. Wie die meisten liebte er es, ein Spiel zu gewinnen, was nicht hieß, dass er kein guter Verlierer war. Außerdem würde die Enterprise noch eine Woche hier angedockt bleiben. Mehr als genug Zeit also, um diese anfängliche Niederlage doch noch in einen Sieg zu verwandeln.

Schließlich bedeutete eine verlorene Schlacht noch keinen verlorenen Krieg...

Unwillkürlich musste Dax lächeln, als sie sich dabei ertappte, dass sie ihre Hüften beim Gehen intensiver als gewöhnlich schwingen ließ. Obwohl sie dieser Offizier in keinster Weise interessierte, genoss die Trill durchaus die Wirkung, die sie auf ihn ausübte. Sie konnte förmlich spüren, wie sein Blick bewundernd über ihre Figur glitt, als er ihr nun mit einem halben Schritt Abstand zum Ausgang folgte...

So offen begehrt zu werden war ein äußerst angenehmes Gefühl...

In seiner Jugend und auch noch später als reiferer Mann hatte Curzon Dax ausgesprochen gut ausgesehen und die Aufmerksamkeit vieler Frauen erregt. Aber das war etwas anderes gewesen. Die meisten Frauen zogen es vor, ihrerseits angebetet und erobert zu werden. Sie zeigten ihr Verlangen weniger deutlich. Männer hingegen, insbesondere solche wie Will Riker, waren da weitaus weniger zurückhaltend.

Ja, es tat gut, nach all den Jahren als Curzon Dax nun in Jadzia wieder einen weiblichen Körper zu besitzen. Sehr gut sogar...

* * *


Es gab in der Sternenflotte einige, denen allein der Gedanke daran, in winzige Atome aufgelöst und woanders wieder zusammengesetzt zu werden, Unbehagen bereitete. Commander William T. Riker gehörte nicht dazu. Trotzdem wäre es eine Lüge gewesen, zu behaupten, dass er diese Form des Transports liebte. Der Moment der Materialisierung war, ganz gleich in welche Richtung, mit einem Kribbeln verbunden, das man - wenn auch nur auf einer unterbewussten Ebene - deutlich wahrnahm. Es war kein Schmerz im eigentlichen Sinne. Mehr ein Gefühl des Verlustes all dessen, was die eigene Person körperlich und geistig ausmachte.

Obwohl er es niemals zugegeben hätte, empfand der erste Offizier der Enterprise nach jedem erfolgreichen Beam-Vorgang Erleichterung darüber, dass er noch in einem Stück war...

Das Erste, was Will Riker erblickte, als das Transporter-Kribbeln nachließ, war ein zartes Gesicht, umrahmt von einer Fülle langer schwarzer Locken.

„Deanna...?!“

Was machte sie hier im Kontrollzentrum von DS9? Sie hatte die Station doch erst Morgen besuchen wollen, und wieso lag in ihren dunklen Augen kein Zeichen des Erkennens? Statt dessen ein Ausdruck des Erschreckens - und des Abscheus ...

„Deanna?!“ wiederholte Riker verwirrt, als er dicht neben der Betazoidin eine Bewegung bemerkte. „Mister Worf, was zur Hölle...?“ Unbewusst registrierte Will, dass der andere keine Sternenflottenuniform trug, da traf ihn bereits der Energieblitz aus der Waffe, deren Mündung der Klingone auf ihn gerichtet hatte.

Jadzia sah den ersten Offizier der Enterprise neben sich auf der Transporterplattform zusammenbrechen. Instinktiv ließ sie sich fallen, in der Absicht, hinter einem der Kontrollpulte der OPS - oder wo auch immer sie sich hier befanden - in Deckung zu gehen.

Die Trill war schnell.

Aber nicht schnell genug für die funkelnde Klinge, die auf sie niedersauste...

Ein lautes „Nein!“ stoppte die Spitze des Schwertes wenige Millimeter vor ihrer Kehle.

Die Trill kannte die Stimme, die der ihr unbekannten jungen Klingonin Einhalt geboten hatte. Doch sie wagte es nicht, den Kopf in die Richtung zu drehen, aus der sie gekommen war. Nicht solange sie an ihrem Hals kalten Stahl spürte.

„Mister Garak...?!“

„Ich bin entzückt, Sie zu sehen, meine Liebe.“

Eine Hand erschien in ihrem Blickfeld und schob das Schwert beiseite.

„Stecken Sie die Waffe weg, Major Torres und bringen Sie den Terraner...“, der Cardassianer deutete auf den bewusstlosen Riker. „In die Erzveredelungsanlage! - Bitte verzeihen Sie ihr“, wandte Garak sich wieder an Dax, während die Klingonin gehorchte. „Sie ist neu auf der Station und hat lediglich ihre Pflicht getan.“

Die Trill ergriff die ihr dargereichte Hand. Die Erfahrung von sieben Leben half ihr, sich binnen weniger Sekunden auf die veränderte Situation einzustellen. Commander Rikers Leben war - zumindest für den Moment - nicht in Gefahr. Daher hätte es nur wenig Sinn gemacht, das ihre hier und jetzt für einen Rettungsversuch zu riskieren, der ohnehin von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Längst ahnte sie, wo sie hier gelandet waren, wenn ihr auch nicht klar war, weshalb Garak sie wie einen Freund behandelte. Nach ihren Informationen gehörte die Jadzia Dax des Spiegeluniversums der Rebellion an. Doch wie es aussah, hatten sie sich da geirrt. Nun lag es an ihr, sich in der Rolle zurechtzufinden, die sie hier allem Anschein nach spielte.

„Entschuldigt das in Ihren Augen, dass sie mich töten wollte?“ fragte sie betont kühl, während Garak ihr aufhalf. Ihr entging nicht, dass er bei ihren Worten leicht zusammenzuckte. Offenbar war die Dax aus dieser Welt hier einflussreich genug, um sogar einem Mann in seiner Position gefährlich werden zu können.

Eine äußerst beruhigende Erkenntnis...

Jadzias Blick fiel auf Commander Worf...

Nein, korrigierte die Trill sich im Geist. Den Klingonen, der zwar so wie Worf aussieht, möglicherweise auch so heißt, es aber mit Sicherheit nicht ist...

... und jene Frau, die der erste Offizier der Enterprise mit Deanna angesprochen hatte...

Beide starrten sie schweigend an, fast so, als ob sie auf etwas warten würden...

Jadzia überlegte kurz, wie die Spiegel-Dax in dieser Situation wohl reagieren würde. Dann entschied sie, dass es nicht schaden könne, herauszufinden, wie weit ihre Machtbefugnisse auf Terok Nor reichten.

„Wollen Sie mich nicht vorstellen?“ Ihr Ton war kommandierend. Allerdings nicht in dem Maße, dass man ihn - für den Fall, dass sie keine Befehlsgewalt gegenüber Garak hatte - nicht gerade noch als eine etwas energischere Bitte interpretieren konnte.

„Natürlich, bitte vergeben Sie mir meine Nachlässigkeit...“

Der Klang seiner Stimme gestattete ebenfalls mehrere Möglichkeiten der Interpretation.

Nun gut, sie würde schon noch feststellen, wer hier wem rangmäßig untergeordnet war. Für den Moment genügte es ihr, dass er es sich offenbar nicht leisten konnte oder wollte, sie zu verärgern...

„... das ist seine Exzellenz Worf, Sonderbeauftragter des klingonischen hohen Rates...“

Dax verbeugte sich, wobei sie darauf achtete, dass ihre Verneigung ebenso knapp ausfiel wie die des Klingonen, dessen Miene sich sofort verfinsterte.

Garak zuckte mit keiner Wimper. Ein kurzer Seitenblick in das ausdruckslose Gesicht des Cardassianers ließ Worfs Züge wieder glatt werden.

„... und das ist Deanna Troi, offizielle Repräsentantin von Betazed.“

Das leichte Stirnrunzeln, mit dem die andere sie musterte, bevor sie höflich den Kopf neigte, jagte Jadzia einen Schauer über den Rücken.

In ihrem Universum waren Betazoiden voll telepathisch. Wenn das hier auch so war...

Sie erwiderte die Begrüßung. Damit rechnend, jeden Moment von Wachen umringt zu werden. Doch nichts dergleichen geschah. Entweder konnten die Betazoiden in dieser Welt die Gedanken einer Trill nicht lesen, oder sie besaßen überhaupt keine telepathischen Kräfte. Ganz gleich welche dieser beiden Möglichkeiten hier zutraf. In jedem Fall schien ihr von dieser Seite keine Gefahr zu drohen, und dafür war sie aufrichtig dankbar.

„Und mit wem haben wir die Ehre?“ Die sanfte Stimme dieser Deanna Troi wollte nicht recht zu der Kälte in ihren dunklen Augen passen.

Selbst ohne telepathische Fähigkeiten, war diese Frau dort gefährlicher als Worf und Garak zusammen...

„Jadzia Dax, ich bin...“, Die Trill zögerte.

„... eine gute... Freundin unserer hochverehrten Intendantin“, beendete Garak den Satz.

Welche Position auch immer sie hier einnahm, offenbar unterlag sie der Geheimhaltung...

„Die Intendantin wird erfreut sein, Sie nach so langer Zeit endlich einmal wiederzusehen“, unterbrach der erste Offizier von Terok Nor Jadzias Gedankengang. „Ich bin sicher, dass Sie sich sehr viel zu erzählen haben. Möchten Sie, dass ich Sie zu ihr bringe? - Bitte entschuldigen Sie uns“, wandte Garak sich an den Klingonen und die Repräsentantin von Betazed, nachdem Dax zustimmend genickt hatte. Er winkte einen jungen Cardassianer herbei. „Hauptmann Jarok wird Ihnen gerne den Rest der Station zeigen.“

* * *


Feurige Schleier, die sein Bewusstsein einhüllten... Krallen, die nach ihm griffen... Ein zartes Gesicht... Langes schwarzes Haar... Deanna... Kalte Augen, deren Blick ihn durchbohrte... Deanna... Deanna ...

William T. Riker schlug die Augen auf...

...und sah geradewegs in eine ausdruckslose Miene, die ihm mehr als vertraut war.

„Data...?!“

Die Lippen des Androiden verzogen sich zu einem verächtlichen Lächeln. „Mein Name ist Lore. Ich rate dir, ihn dir zu merken, Terraner! Sonst werde ich ärgerlich. Sehr ärgerlich! Ich bezweifle, ob dir das gefallen würde. Und nun, hoch mit dir! Du hast lange genug faul herumgelegen! Es ist an der Zeit, dass sich das ändert!“

Während Riker gehorchte, sah er sich verstohlen um. Es war dämmrig und verraucht. Im ersten Moment glaubte der erste Offizier der Enterprise, sich in einer Mine zu befinden. Dann entdeckte er ein breites Förderband, das steil nach oben direkt in einen riesigen Schmelzofen führte. Offenbar stand er mitten in einer Erzveredelungsanlage...

Worf, der auf ihn geschossen hatte. Deanna, die ihn nicht zu kennen schien. Lore, der eigentlich demontiert sein müsste. All das ergab keinen Sinn...

Zumindest nicht in seinem Universum...


Er hatte sämtliche Berichte von Major Kira, Doktor Bashir und Captain Sisko über jenes Spiegeluniversum gelesen, in welchem eine Allianz aus Klingonen, Cardassianern und Bajoranern den Alphaquadranten kontrollierte - und die Terraner nichts als Sklaven waren.

Keine angenehmen Aussichten. Insbesondere da diesen Berichten zufolge auf dieser Seite die Tatsache, aus seinem Universum zu stammen, gleichbedeutend mit einem Todesurteil war. Da er noch lebte, konnte dies nur heißen, dass man hier nicht wusste, dass er von der anderen Seite des Spiegels kam. Aber wo zum Teufel war Jadzia?

„Worauf wartest du, Terraner? An die Arbeit mit dir! Es sei denn du willst die hier...“, die rechte Hand des Androiden strich fast liebevoll über die geflochtene Peitsche, die zusammengerollt an seinem Gürtel hing, „... näher kennenlernen!“

Diese Drohung verfehlte ihre Wirkung nicht. Mit schmalen Augen beobachtete Lore, wie sich der erste Offizier der Enterprise in die Reihe der ausgemergelten, zerlumpten Arbeiter eingliederte.

Dieser Terraner unterschied sich von den anderen. Es wäre klüger gewesen, ihn sofort hinzurichten. Leider hatte die Intendantin sich anders entschieden. Warum und wieso, würde wohl immer ihr Geheimnis bleiben. Sie unterwarf ihre Handlungen bisweilen weniger der Vernunft, sondern zog es vor, sich von spontanen Entschlüssen leiten zu lassen. Eine Angewohnheit, die sie irgendwann zu Fall bringen würde...

Gegen die Launen der Herrin von Terok Nor mochte er machtlos sein. Doch er würde nicht dulden, dass der rebellische Geist dieses Sklaven auf die anderen übergriff. Bisher war es ihm gelungen, jeden zu disziplinieren. Dieser Terraner würde sich noch wünschen, dass man ihn auf der Stelle exekutiert hätte...


* * *


Kira Nerys ließ ihren Blick langsam über ihren Gast gleiten, bevor sie Garak mit einem herablassenden Wink hinausschickte. Kaum dass die Tür sich hinter dem Cardassianer geschlossen hatte, erhob die Intendantin sich von dem Canapé, auf dem sie sich geräkelt hatte. Sie trat so dicht an Dax heran, dass die Trill den warmen Atem der Bajoranerin auf ihrer Haut spüren konnte.

„Jadzia...“ Die Herrin von Terok Nor sprach den Namen wie eine Liebkosung aus. Sie streckte ihre rechte Hand aus. „Ich habe dich vermisst...“ Ihr Zeigefinger begann, die Flecken auf der Wange der anderen nachzuzeichnen...

Während Dax noch überlegte, was sie von dieser Art der Begrüßung zu halten hatte...

Wie sie darauf reagieren sollte, dass die Jadzia dieses Universums anscheinend eine besonders gute Freundin der Intendantin war...

...holte Kira plötzlich ohne Vorwarnung aus und versetzte ihr eine Ohrfeige.

Dax wich zurück. Instinktiv nahm sie eine Kampfhaltung ein. Eine Reaktion, die der Bajoranerin ein leises Lachen entlockte.

„Der Umgang mit den Rebellen hat deine Reflexe verbessert...“

Die Stimme der Intendantin klang eher amüsiert als bedrohlich.

Die Trill entspannte sich. Sie ließ die Hände sinken und zauberte ein Lächeln auf ihre Züge.

Dies war nicht der geeignete Moment für moralische Bedenken. Wills und ihr Leben standen auf dem Spiel. Um es am Ende zu gewinnen durfte sie nicht vor dem dafür erforderlichen Einsatz zurückscheuen, mochte er auch noch so hoch sein. Und wenn sie ehrlich war, dann fand sie ihn eigentlich gar nicht so hoch...

„Du hast mir gefehlt, Nerys“, sagte sie weich.

„Tatsächlich...?“

Dax bemerkte den Zweifel in den dunklen Augen der anderen.

Es war an der Zeit, die Initiative zu ergreifen. Bevor der Zweifel sich zu Misstrauen verdichtete...

Ihr Blick hielt Kiras fest, während sie nun ihrerseits so dicht wie möglich an die Intendantin herantrat und deren Hände vorsichtig mit ihren eigenen umschloss.

Die Bajoranerin wehrte sich nicht.

Unter ihren Fingern spürte Dax, wie der Puls der anderen sich beschleunigte, sah, wie es in den Tiefen von Kiras Augen zu flackern begann.

„Würde ich dich jemals anlügen, Nerys...?!“

„Ich bin nicht sicher, Jadzia. Du hast dich seit vielen Monaten nicht mehr gemeldet. Ich weiß nicht, was du in all der Zeit getan hast. Wen du verraten hast...“

„Vertraust du mir etwa nicht, Nerys...?!“

Die Intendantin neigte ihren Kopf nach vorn, bis ihre Stirn die der Trill berührte.

„Ich möchte es ja, Jadzia“, flüsterte sie. „Glaub mir, ich möchte es so gern. Aber du musst zugeben, dass dein Verhalten mir nur sehr wenig Grund dazu gibt. Du warst beim Kampf gegen die Rebellion bisher nicht übermäßig hilfreich...“

„Ich habe dir Will Riker gebracht!“ Dax hoffte, dass der Will Riker dieses Universums wichtig genug war, um die unzureichende Unterstützung der Spiegel-Jadzia in den Augen der Intendantin auszugleichen.

„Ja, das ist wahr“, bestätigte Kira.

„Ich wollte dich mit diesem Geschenk überraschen, Nerys. Deshalb habe ich mich nicht vorher mit dir in Verbindung gesetzt. Ich dachte, du würdest dich freuen, ihn in deine Gewalt zu bekommen. Wenn ich geahnt hätte wie begeistert du von meiner Gabe sein würdest, hätte ich ihn zu den Klingonen gebracht. Sie hätten einen solchen Fang sicher gewürdigt, ohne mich mit ungerechten Vorwürfen zu überhäufen. Sie hätten verstanden, dass überflüssige Kontaktaufnahmen die Aktion unnötig gefährdet hätten, warum ich kein Risiko eingehen wollte, und...“

Die Trill gab die Hände der Intendantin frei und trat einen Schritt zurück.

„... sie hätten Rikers Gefangennahme benutzt, um ihre Position gegenüber Bajor zu stärken. Gegenüber dir, Nerys!“

Dax hatte sich um einen gekränkten, anklagenden Tonfall bemüht. Sie registrierte befriedigt, dass der Zweifel in Kiras Blick einem Ausdruck gewichen war, den man durchaus als schuldbewusst bezeichnen konnte.

„Ich denke, es ist besser, wenn ich jetzt gehe...“

Die Trill ersetzte die Anklage durch einen Hauch Bitterkeit. Jeder ließ sich nur bis zu einem gewissen Grad manipulieren, und sie wollte den Bogen nicht versehentlich überspannen...

„Mit deiner Erlaubnis, Nerys...“

Sie drehte sich um und gab sich den Anschein, das Quartier verlassen zu wollen.

„Bleib hier!“ Kiras Ton war Befehl und Bitte zugleich.

Dax blieb stehen. „Und wenn ich mich weigere?“ fragte sie, ohne sich zu der Bajoranerin umzuwenden. „Rufst du dann Garak, damit er mir eine Lektion in Gehorsam erteilt? Oder geruht die Herrin von Terok Nor das selbst zu erledigen?“

„Jadzia!“

Die Trill drehte sich langsam um.

„Jadzia“, wiederholte die Bajoranerin, während sie in einer beinahe bittenden Gebärde die Hände ausstreckte.

Gegen ihren Willen empfand Dax Mitleid mit dieser Frau, die so mächtig war und dabei so allein. So einsam. Gefangen in ihrer Welt, die sie zum Täter machte - und zugleich zum Opfer. Innerhalb von Sekunden brachen Kriege aus, wurden Zivilisationen geboren, oder gingen unter. Im Laufe von sieben Leben hatte der Symbiont in ihr mehr Erfahrungen gesammelt, als sie, Jadzia, sich vor ihrer Vereinigung hatte vorstellen können. Doch nichts davon hatte vermocht, sie auf das plötzliche Bedürfnis vorzubereiten, die Einsamkeit aus diesen dunklen bajoranischen Augen zu vertreiben. Sei es auch nur für wenige Stunden...

Später würde sie einen Plan entwickeln, um Will zu befreien und mit ihm in ihr Universum zurückzukehren, doch für den Moment...

Hier und jetzt schien es der Trill ganz natürlich zu sein, ihre Arme um die andere zu schlingen und sie einfach an sich zu ziehen...

Und Kira Nerys, uneingeschränkte Herrscherin über Bajor und Terok Nor, erwiderte diese Umarmung.

Auf der Suche nach Vertrauen, Geborgenheit.

Und Liebe...

* * *


Hauptmann Jarok sonnte sich in der vermeintlichen Aufmerksamkeit, die das berückend schöne Staatsoberhaupt von Betazed seinen ausführlichen Erläuterungen der einzelnen Stationen der Erzveredelung zollte.

Er ahnte nicht, dass Deanna Trois Gedanken hinter ihrem zur Schau gestellten Interesse um ganz andere Dinge kreisten.

Diese Jadzia Dax war nicht das, was sie vorgab zu sein. Das hatte sie vorhin im Kontrollzentrum von Terok Nor ganz deutlich gespürt. Die Trill verbarg etwas. Aber was? Und vor allem, wie konnte sie sich diese Information am besten zu Nutze machen? Beim heiligen Kelch von Riix, sie musste unbedingt herausfinden, was diese Dax vor ihnen verheimlichte...

Seit jeher waren Informationen der Schlüssel gewesen, der jede Tür öffnen konnte, sofern man ihn in das dazugehörige Schloss steckte. In der Politik war alles nur eine Frage des richtigen Schlüssels. - So wie die Aufnahme in die Allianz den Schlüssel zur Macht in diesem Quadranten darstellte...


Unter ihren dichten Wimpern verborgen musterte Deanna die ausdruckslose Miene, mit der der Sonderbeauftragte des klingonischen hohen Rates den ebenso langweiligen wie schier endlosen Erklärungen dieses jungen, übereifrigen Cardassianers lauschte.

Dabei fragte sie sich zum wiederholten Mal, wie die Klingonen zum Antrag von Betazed auf Aufnahme in die Allianz standen...

Dies zu erfahren war alleiniger Sinn und Zweck dieser von ihr angeregten Führung durch die Station gewesen. Aber wie es aussah hätte sie die Zeit genauso gut allein in ihrem Quartier verbringen können. Ihr Charme war völlig wirkungslos an Worf abgeprallt. Ganz gleich, wie sehr sie sich bemüht hatte, stets war er diesem Thema ausgewichen. Höflich und mit einem diplomatischen Geschick, das sie unter anderen Umständen sicher bewundert hätte, jedoch angesichts dessen, dass es hier um eine für sie so überaus wichtige Angelegenheit ging, insgeheim verfluchte...

Hinter Worfs gefurchter Stirn arbeitete es nicht weniger als hinter der glatten der Betazoidin.

Dieses zerbrechliche Geschöpf. Schwächlich wie der Rest ihres Volkes, das nichts vom Kampf verstand, nichts von Ehre - das seinen geistigen Fähigkeiten eine ebenso übertriebene Bedeutung beimaß wie die Bajoraner ihrem kindischen Glauben an ihre Propheten. Narren waren sie allesamt. Wo lag der Unterschied zwischen ihnen und den Terranern? Sie alle hatten kein Recht, die Geschicke des Quadranten mitzubestimmen. Das stand nur den Kriegerrassen zu...

Viel zu lange schon hatte das klingonische Reich tatenlos zugesehen, wie Bajors Position in der Allianz immer stärker geworden war. Es war an der Zeit, die Machtverhältnisse zu ändern. Was zählten Betazed und Bajor? Die Zukunft gehörte einem neuen Bündnis...


Deanna Troi spürte Worfs Verachtung, und sie hasste ihn dafür. Wenn Betazed erst Mitglied der Allianz war, würde er noch bereuen, sie und ihr Volk unterschätzt zu haben...

* * *


Mit wiegenden Hüften stieg Kira Nerys die kleine Treppe hinauf, die zu ihrem Büro führte. Sie konnte Garaks Blick, der ihr folgte, fast körperlich spüren. Sie wusste genau, was ihr erster Offizier gerade dachte. Wie gerne er sich all das, was er gegen seinen Willen so begehrte, genommen und sie danach getötet hätte, um seinerseits das Kommando über Terok Nor zu übernehmen.

Allein für diesen Gedanken sollte sie ihn exekutieren lassen. Aber andererseits war es durchaus amüsant, seine kleinen Intrigen und Mordkomplotte zu beobachten und im geeigneten Moment zum Scheitern zu bringen...

Außerdem hatte er einige Freunde im cardassianischen Militär, die nicht ohne einen gewissen Einfluss waren. Seine Hinrichtung, so vergnüglich sie sie auch gestaltet hätte, war es nicht wert, sich und Bajor unnötig Feinde zu schaffen. Daher würde sie sich weiterhin darauf beschränken, Garak bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu demütigen.

Vielleicht sollte sie ihn während der Anwesenheit von Jadzia auf der Station zu deren persönlichen Adjutanten ernennen? Garak verabscheute die Trill, und Dax würde es sicher Spaß machen, ihn nach Lust und Laune herum zu scheuchen.

Bisweilen neigte Jadzia zu einer Form perfider Bosheit, die der ihren sehr ähnlich war. Vermutlich war dies einer der Gründe für die ungeheure Anziehungskraft, welche die Trill auf sie ausübte...


Lautlos glitten die Türhälften auseinander, und Kira betrat den Raum, den die Terraner mehr als jeden anderen auf der Station fürchteten. Dort an dem Schreibtisch, von dem man im Halbdunkel kaum mehr als den Umriss erkennen konnte, ordnete sie Verhöre an und sprach Todesurteile aus. Von dort aus herrschte sie uneingeschränkt, und jeder Terraner zitterte vor ihrem Wort.

Denn hier auf Terok Nor war es Gesetz...

Einige Sekunden stand die Bajoranerin einfach nur da und genoss die Aura von Macht, die diesen Tisch umgab, den ganzen Raum erfüllte.

Eine Macht, deren Zentrum sie allein war...

Dann atmete sie tief durch.

„Computer, Licht!“

Augenblicklich wurde es hell.

„Na endlich! Bei den Propheten, ich fing schon an, mich zu fragen, wie lange ich wohl noch im Finstern auf Erleuchtung warten sollte...“

Kira fuhr zu dem Mann herum, der lässig schräg hinter ihr in einem Sessel saß.

Er musterte sie so gelassen, als sei es üblich, ihr Büro ohne ihr Wissen zu betreten.

„Wie sind Sie hier hereingekommen?!“

„Genauso wie Sie... Durch die Tür.“

„Sie haben den Code geknackt...?!“

„Aber nein.“ Er stand auf und hob abwehrend die Hände. „So etwas würde ich mir niemals erlauben. Abgesehen davon, war es gar nicht nötig, da ich ihn kenne.“

„Dafür könnte ich Sie exekutieren lassen!“

„Sie überraschen mich, Intendantin.“ Er trat zum Schreibtisch. Seine Fingerspitzen strichen über die polierte Platte und auch über die Figur, die dort stand...

Sie stellte eine nackte Kriegerin mit einem Speer dar, deren Augen eigenartig glitzerten...

„Seit wann benötigen Sie für eine Hinrichtung einen Grund? - Aber selbst wenn, Sie werden mich nicht exekutieren lassen. Denn dazu brauchen Sie mich viel zu sehr. Schließlich leiste ich nicht nur gute Arbeit, sondern bin einer der wenigen, denen Sie vertrauen können.“

„Kann ich das wirklich, Shakaar?“

„Habe ich Ihnen jemals Anlass gegeben, an meiner Loyalität zu zweifeln?“

„Nein“, gab sie zu. „Aber das ändert nichts daran, dass ich Sie das nächste Mal, wenn Sie unaufgefordert mein Büro betreten, töten werde. Ich kann nicht dulden, dass jemand meine Autorität untergräbt. Nicht einmal dann, wenn es sich dabei um den Chef meines Geheimdienstes handelt. Das verstehen Sie doch, oder?“

„Natürlich... allerdings befürchte ich, dass meine Leute weniger Verständnis dafür aufbringen würden. Sie hängen sehr an mir...“

Kiras Augen verengten sich bei dieser verschleierten Drohung.

Bei den Propheten, es war ein Fehler gewesen, den früheren bajoranischen Geheimdienst aufzulösen, nur um dann diesem Mann zu erlauben, einen neuen aufzubauen. Andererseits leistete die Shakaar sehr effektive Dienste, und in der Vergangenheit hatte sich ihr Leiter Shakaar Edon ihr gegenüber tatsächlich stets loyal verhalten...

„Was wollen Sie?“ Mit diesem Themawechsel erklärte sich die Herrin von Terok Nor, wenn auch widerstrebend, bereit, die Sache auf sich beruhen zu lassen.

Seine blauen Augen funkelten. „Sie wissen, warum ich hier bin! - Will Riker!“

Die Intendantin hielt sich nicht damit auf, darüber nachzudenken, wie er so schnell von der Gefangennahme des Terraners erfahren hatte. Als Chef des Geheimdienstes betrachtete er es als seine Aufgabe, über alles informiert zu sein. Eine Eigenschaft, die ihn auszeichnete, die jedoch bisweilen äußerst lästig sein konnte.

„Und?“ Diese Frage diente lediglich dazu, Aufschub zu gewinnen. Sie wusste nur zu gut, worum es ging. Doch sie benötigte Zeit, um eine Entscheidung zu treffen.

„Ich will diesen Terraner!“

„Und wenn ich nun andere Pläne mit ihm habe?“

„Dann werden Sie sie ändern müssen! - Will Riker gehört mir!“

„Dieser Terraner soll mir dabei helfen, die Rebellion endgültig zu zerschlagen! Verlangen Sie etwa, dass ich Ihr persönliches Interesse höher bewerte als mein eigenes? Als das Bajors...?!“

„Tue ich das? - Nun, falls dem so ist, kann ich es leider nicht ändern. Ich will diesen Mann! Ich will ihn um jeden Preis! Ich rate Ihnen, mir diese Bitte nicht zu verweigern!“

Eine derart offene Drohung durfte sie nicht durchgehen lassen...

„Ich warne Sie, Shakaar“, sagte Kira gefährlich leise. „Ich mag es nicht, unter Druck gesetzt zu werden! Noch weniger schätze ich es, wenn man versucht, mir zu drohen. Die Shakaar mag Ihnen folgen. Aber hinter mir steht das bajoranische Militär - und der Kai! Vergessen Sie das nicht!“

„Ich vergesse niemals etwas, Intendantin, ganz gleich wie lange es her ist... - Wir sollten uns nicht um solche Kleinigkeiten streiten“, fuhr er versöhnlicher fort, ehe sie etwas erwidern konnte. „In der Vergangenheit haben Sie und ich immer an einem Strang gezogen. Ich habe Sie stets unterstützt, und Sie haben gelernt, mir zu vertrauen. Man könnte unser Verhältnis durchaus als freundschaftlich bezeichnen. - Es wäre ein Jammer, all das, was Sie und ich in den letzten Jahren gemeinsam erreicht haben, einfach so zunichte zu machen. Und wofür? - Für einen Terraner, der die ganze Aufregung nicht wert ist. Sie wollen Will Riker benutzen, um die Rebellion zu vernichten. Nun gut, ich habe nicht vor, dem im Wege zu stehen. Im Gegenteil! Überlassen Sie mir diesen Terraner. Ich könnte Ihnen helfen. - So wie bisher...“

Kira zögerte...

Shakaar und sie waren voneinander abhängig. Sein Angebot bewies, dass er keinen Bruch zwischen ihnen wollte. - Es war besser, einen Mann mit seinen Fähigkeiten und seinem Einfluss zum Freund zu haben...

„Riker wird erst sterben, wenn ich es will?“ vergewisserte sie sich.

„Nicht eine Minute früher“, bestätigte er. „Sie haben mein Wort.“
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