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Sein heißt werden

von Nerys

Kapitel 1

Sein heißt werden


Das Küken fiepte hungrig und schlug mit seinen kurzen zerzausten Flügeln. Joss steckte ihm ein weiteres Stückchen des Fisches, den sie mit einem kurzen Messer entgrätet und zerteilt hatte, in den weit aufgerissenen Schnabel. Gierig reckte es den Kopf, auf dem stellenweise unter dem braun gesprenkelten Flaumgefieder bereits das adulte strahlend weiße Federkleid zum Vorschein kam, ihren tranig riechenden Fingern entgegen. Ein Geräusch an der Öffnung in den Bootsrumpf weckte ihre Aufmerksamkeit und lenkte sie von den runden dunklen Vogelaugen ab, die sie aufmerksam betrachteten. Atreia schlüpfte herein und drapierte hinter sich den als Vorhang dienenden Stoff sorgsam wieder über den Durchlass. Rasch wischte sich Joss das Fischfett von den Händen, um ihre Freundin in die Arme zu ziehen und sie mit einem liebevollen Kuss zu begrüßen.

„Ich bin auch froh, dich zu sehen“, kommentierte die Cardassianerin mit einem Lächeln, das sich in ihren Augen jedoch nicht spiegelte. „Wie geht es unserem Sorgenkind?“

Wie auf Kommando gab der kleine Vogel, der auf dem provisorischen Bett aus alten Decken verloren wirkte, einen kläglichen Laut von sich. Er verfing sich in einer Falte des Stoffes und plumpste auf den Bauch. Vorsichtig befreite die zierliche blonde Frau ihn aus seiner misslichen Lage.

„Siv ist immer hungrig, wie man sieht.“ Sie wies demonstrativ auf die Holzplatte mit den Fischstückchen.

Atreia verstand die Aufforderung und nahm etwas von dem Futter, um es dem Küken zu geben. Beide hatten es in den beinahe zwei Wochen lieb gewonnen, seit sie es verwaist zwischen den Felsen am Strand gefunden hatten, und versorgten es seitdem gemeinsam, damit es zu einer schönen silbernen Möve heranwuchs. Der Bajoranerin fiel auf, dass ihre Freundin diesmal jedoch nicht bei der Sache zu sein schien. Ein Stück der Mahlzeit landete auf der Decke. Sie nahm ihr die Platte wieder aus der Hand, um den darauf verbliebenen Rest an den gierigen Jungvogel zu verfüttern. Nachdem er endlich gesättigt war, kauerte er sich mit schmalen Augen in eine Mulde im Stoff.

„Was ist los mit dir?“, erkundigte sich Joss mit erhobener Braue. „Wo bist du heute nur mit deinen Gedanken?“

Atreia ließ betrübt die Schultern hängen und wich dem Blick ihrer Freundin aus. Sie suchte hastig nach passenden Worten, obwohl es keine gab. Was sie zu sagen hatte, würde Joss furchtbar weh tun, und das war das letzte, was sie wollte. Die Wahrheit hinaus zu zögern, machte sie aber nicht erträglicher. „Ich werde nach Cardassia gehen.“

Die Bajoranerin riss ungläubig die Augen auf und schüttelte steif den Kopf. Sie musste sich verhört haben. „Warum, Atreia?“

„Um dort zu studieren. Ich habe eine Zusage der Wissenschaftlich-medizinischen Universität in der Hauptstadt bekommen.“ Die Cardassianerin griff nach der Hand ihrer Freundin, doch diese entzog sich der Berührung. „Meine Heimat ist hier, Joss. Bei dir. Ich möchte nicht gehen, aber ich versprach meinem Vater, mich zumindest zu bewerben. Er wünscht sich, dass ich die beste Ausbildung erhalte.“

„Aber es ist dein Leben, nicht seins! Wenn du nicht gehen willst, dann bleib einfach hier. Bitte, Atreia. Lass mich nicht allein zurück!“, entgegnete die blonde Frau verletzt und mit einer Heftigkeit, die das Küken aus einem Schlummer schrecken ließ. Es duckte sich furchtsam.

„Du machst Siv Angst“, versuchte sie die Bajoranerin zu beschwichtigen und nahm den Jungvogel behutsam in ihren hohlen Händen auf. „Versteh mich doch. Ich kann nicht anders. Mein Vater ist schon längst misstrauisch geworden, weil ich mich ständig herumtreibe, ohne dass er weiß, wohin ich gehe. Früher oder später findet er die Wahrheit heraus und was glaubst du, was dann mit dir geschieht? Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas zustößt. Ich liebe dich, Joss!“

„Ich will lieber ein kurzes Leben mit dir teilen, als ein langes ohne dich verbringen. Mir kann jeden Tag etwas geschehen, wenn ich aus diesem Loch hinausgehe.“ Joss gestikulierte in Richtung der verdeckten Öffnung im Bootsrumpf. Sie spürte die aufkommende Feuchtigkeit in ihren Augen und schluckte sie mühsam herunter. Atreia war die einzige, die es bemerken würde, wenn sie verhungerte, umgebracht wurde oder wieder in Ankhet verschwand. Seit dem Tod ihrer Schwester hatte sie sich jeden Tag ihres Lebens erkämpft und war dabei immer allein gewesen. Bis die Propheten beschlossen hatten, dass es an der Zeit war, dies zu ändern. Es schien völlig abstrus, dass sich eine Bajoranerin und eine Cardassianerin ineinander verlieben konnten, obwohl ihre Herkunft sie zu Feinden machte, doch es war geschehen. Und nun sollte alles wieder zu Ende sein?

Atreia setzte das zarte Küken, das sie vertrauensvoll anblinzelte, vorsichtig in die mit Sand und Gras ausgepolsterte Box, die ihm als eine Art Ersatznest diente, und streichelte ihm über sein flaumig weiches Köpfchen. „Mein Vater ist ein Gul und hoch angesehen in den Reihen des Zentralkommandos. Er würde sein Gesicht verlieren, käme je heraus, dass seine einzige Tochter beschlossen hat, eine Bajoranerin zu lieben. Das lässt er nicht zu, ich kenne ihn. Für ihn und seinesgleichen bist du weniger wert als eine eine Wühlmaus. Weißt du, was man mit denen macht, wenn sie sich in Gebäuden einnisten und Energieleitungen durchbeißen? Totschießen! Vergiften! Versengen!“

„Ich habe keine Angst davor. Mein Leben liegt in den Händen der Propheten und wenn es nach ihrem Willen enden soll, werden sie mein pagh wohlwollend empfangen.“ Joss bemühte sich um ein zuversichtliches Lächeln, das jedoch mehr einer gekünstelten Grimasse glich.

Die Cardassianerin schüttelte abwehrend den Kopf. „Mir hat man beigebracht, dass das Schicksal nicht unveränderlich ist. Ich bringe dich in Gefahr und deshalb muss ich gehen. Aber ich komme zurück, das verspreche ich dir! Wenn du mich dann noch liebst, verlassen wir Musilla in fünf Jahren gemeinsam. Bajor ist groß genug, um für uns einen Ort zu finden, an dem wir zusammen sein können. Und falls nicht, ist es die Galaxie auf jeden Fall.“

Joss sagte nichts mehr. Sie suchte die Umarmung ihrer Freundin, die sie liebevoll an sich drückte und ihr über den Rücken strich. Diesmal vermochte sie nicht zu verhindern, dass stumme Tränen über ihre Wangen liefen. Sie wollte nicht, dass Atreia fortging, obwohl sie den Grund dafür verstehen konnte. Auch wenn sie es manchmal beinahe vergaß, war die dunkelhaarige Frau Cardassianerin und verdiente es, die Heimat kennenzulernen, der sie entstammte. Zu lieben bedeutete manchmal loszulassen, sich vom Geliebten zu trennen. Zärtlich strich sie ihr eine seidenschwarze Haarsträhne aus dem Gesicht und berührte den verknöcherten Grat um ihr linkes Auge. Inzwischen empfand sie die fremdartig reptilienhaften Züge Atreias als wirklich schön. Der lange elegante Hals, das schmale fein geschnittene Gesicht und vor allem die hellblauen Augen, in denen sie immer wieder zu versinken glaubte wie in einem kristallklaren See. Ihre Lippen fanden einander in einem begehrenden sehnsüchtigen Kuss, der nicht enden wollte.

Das klägliche Fiepen des Jungvogels holte Joss aus dem traumlosen Dämmerschlaf, in den sie sich geflüchtet hatte, nachdem Atreia gegangen war. Bis zur Abreise ihrer Freundin blieb ihnen noch etwas Zeit, in der sie einander so oft wie möglich sehen wollten, doch schon jetzt erschien ihr das Alleinsein beinahe unerträglich. Sie zog sich rasch wieder an, um ihrem hungrigen Schützling eine neue Mahlzeit zu bereiten. Diese Ablenkung war ihr sehr willkommen. Sie hatten das Küken gemeinsam großziehen wollen, bis es flügge wurde und für sich selbst zu sorgen vermochte. Doch wenn es so weit war, würde Atreia schon längst weit fort sein. Sie blieb allein zurück. Vielleicht war das ihr Schicksal. Nur die Propheten wussten, ob es ein Abschied für immer sein würde. Und in ein paar Wochen würde sie Siv in die Freiheit entlassen, in die Winde über dem Meer.
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