TrekNation

Das ultimative Archiv deutscher Star Trek Fanfiction!

The Secrets We Keep

von Mijra

Kapitel 1 - Der Junge, der von zuhause fortlief

The Secrets We Keep
von Mijra


-o0o-

"Sie haben eine präganglionische Faser für einen postganglionischen Nerv gehalten? Jeder Medizinstudent im ersten Jahr könnte sie mit Leichtigkeit auseinanderhalten... Sie haben die Frage absichtlich falsch beantwortet… Sie hatten Angst, Erster zu werden… Sie konnten den Druck nicht ertragen…“
- Altovar; Ferne Stimmen (Season 3)

-o0o-


Kapitel 1
"Der Junge, der von zuhause fortlief"


*+..+*+..+* Januar 2357

Als er hinaus in die kalte Abendluft trat, fielen erste Schneeflocken vom Himmel.

Es war an einem kalten Dezemberabend. So kalt, dass man den eigenen Atem weiß in der frischen Nachtluft sehen konnte. Fast unbewusst zog er den Mantel fester um sich. Die Temperatur war nach Sonnenuntergang merklich gefallen, und er war sich sicher, dass es eine jener besonders kalten Nächte werden würde. Er rieb die Handflächen gegeneinander und beeilte sich, den Sicherheitscode in die kleine Schaltfläche der Ausgangstür zu tippen. Die Lichter innerhalb des Gebäudes erloschen, und ein leises Klicken verriet ihm, dass das Sicherheitsschloss aktiv war. Wie immer war er der letzte, der das Gebäude verließ.

Schneeflocken trieben in der Stille um ihn herum, als er einen letzten Blick zurückwarf, bevor er über den großen freien Platz lief und sich darauf freute, endlich nach Hause und ins Warme zu kommen. Einmal mehr hatte ihn seine Forschung zu lange an den Schreibtisch gebunden. Aber das ließ sich wohl nicht vermeiden, wenn man sein Hobby zum Beruf machte. Irgendwie konnte er sich nie dazu bringen, aufzuhören. Jetzt würde er auf schnellstem Wege nach Hause gehen, sich ein Sandwich aus dem Replikator holen, duschen und dann zu Bett gehen. Er schob die Hände in die Seitentaschen seines Mantels und steuerte mit forschem Schritt auf das große Tor zu, welches das Gelände von der hell erleuchteten Straße dahinter trennte.

Er war fast schon hinaus auf die schneebedeckte Straße getreten, als eine Bewegung im Augenwinkel ihn unvermittelt innehalten ließ. Langsam kam er zum Stehen. Als er sich umsah, wirkte alles verlassen und still, genau wie er es zu solch später Stunde erwarten würde. Er kniff die Augen zusammen, nicht sicher, was es war, dass er zu sehen geglaubt hatte. Hatte er es sich die Bewegung nur eingebildet?

„Hallo?“, rief er in die Dunkelheit.

Da war es wieder. Etwas hatte sich im Schatten bewegt. Er runzelte die Stirn und trat einen Schritt näher. Die Kälte, die bereits unter seinen Mantel kroch, war mit einem Mal vergessen.

„Ist da jemand?“

Einen Moment später und einige Schritte weiter in der Dunkelheit konnte er sehen, wie jemand an der Mauer kauerte, die das Gelände umschloss. Ein Junge, nicht älter als vierzehn oder fünfzehn, saß am Rand eines der verwelkten Blumenbeete. Er hatte die Knie angezogen und seine Arme schützend darum geschlungen. Sein schwarzes Haar und die dunkle Kleidung hoben sich kaum von der Umgebung ab. Er hätte ihn in dem schwachen Licht fast nicht gesehen.

„Hey“, sagte er sanft bei dem völlig unerwarteten Anblick.

Der Junge erschrak sichtlich. Als er unvermittelt den Kopf hob, war selbst im fahlen Licht offensichtlich, dass er geweint hatte. Seine Wangen waren trotz der beißenden Kälte gerötet und glänzten nass im schwachen Mondlicht.

„Jules…?“, fragte er in ehrlicher Überraschung, als er das Gesicht des Jungen wiedererkannte.

Der Ausdruck wortlosen Entsetzens legte sich auf die Züge des Jungen, als er mit weiten Augen zurückstarrte. „Mr. Amos…“

„Jules, was tust du hier draußen? Warum bist du nicht zuhause?“ Amos ging fast augenblicklich in die Knie, damit er dem Jungen direkt in die Augen sehen konnte. Zu seiner großen Erleichterung schien Jules unverletzt zu sein. Schließlich war es fast zehn Uhr abends; sicher keine Zeit für einen Fünfzehnjährigen sich alleine auf dem verlassenen Schulhof aufzuhalten, und vor allem nicht in einer so kalten Nacht wie dieser. Schon gar nicht Jules.

Der Junge wandte den Blick ab und starrte zu Boden. Neue Tränen stiegen ihm in die bereits geröteten Augen. Er biss sich auf die Lippe, gab aber keine Antwort von sich. Mit Bestürzung sah Amos in dem schwachen Licht, dass der Junge nicht mehr als einen dünnen Pullover trug. Keinen Mantel. Keinen Schal. Keine Handschuhe. Ganz so als ob er… einfach kopflos von zuhause weggelaufen wäre. Die Erkenntnis ließ alle Alarmglocken in Amos‘ Gedanken läuten.

„Was ist passiert? Wissen deine Eltern, wo du bist?”, versuchte Amos den Jungen sanft in ein Gespräch zu verwickeln. Er wusste, dass Jules‘ Familie weit von der Schule entfernt wohnte. Der Junge musste den öffentlichen Transporterdienst verwendet haben. Er hätte nie bis hierher laufen können. Dafür hätte er über eine Stunde benötigt. Was in aller Welt wollte er hier?

Das anhaltende Schweigen des Jungen beunruhigte ihn nur umso mehr.

„Du wirst dir eine schöne Erkältung einfangen, wenn du hier draußen bleibst. Weißt du, wie spät es ist?“, meinte er in nicht ganz ernstem Ton und versuchte den Jungen dazu zu bringen, ihn anzusehen.

Wie zur Antwort schniefte der Junge. Trotzdem starrte er noch immer trotzig zu Boden, ganz so als hoffte er, Amos würde ihn alleine lassen, wenn er ihn nur lange genug ignorierte.

„Jules, du kannst nicht hier bleiben.“

Einen langen Moment herrschte Stille.

Bis Jules seine Beine enger an die Brust zog. „Können Sie nicht so tun, als ob Sie mich nicht gesehen hätten?“, bat er mit leiser Stimme. Er zitterte am ganzen Körper, obwohl er sich anstrengte zu verbergen, wie kalt ihm wirklich war.

„Und dich hier erfrieren lassen?“ Amos zog eine Braue nach oben. „Weißt du, was deine Eltern mit mir machen würden? Ganz zu schweigen von unserem Rektor?“ Entschieden klopfte er Jules auf die Schulter. „Komm schon, Jules, ich bringe dich nach Hause.”

Der Junge sah ihn aus großen Augen an, und ein Schatten legte sich auf seine Züge. „Nein! Ich gehe nicht mehr zurück nach Hause!“, rief er. Sein Gesicht verzog sich zu einer flehenden Grimasse. „Bitte, ich möchte nicht nach Hause.“

„Jules.“

„Sie können mich nicht dazu zwingen!”, gab der Junge plötzlich um einiges entschiedener zurück. Seine Augen waren voller Tränen, doch funkelte in ihnen mit einem Mal eine wütende Entschlossenheit.

Amos schüttelte den Kopf. „Aber deine Eltern sind bestimmt schon ganz krank vor Sorge.“

„Es ist ihnen egal“, meinte der Junge bitter mit zittriger Stimme als er den Kopf zur Seite drehte, um dem fragenden Blick Amos‘ zu entgehen.

Ein Streit mit seinen Eltern? Dann muss es ein ziemlich ernster gewesen sein. Jules gehörte nicht zu den Kindern, die sich gegen ihre Eltern auflehnten. Er war kein Kind, das handelte ohne nachzudenken. Und bestimmt keines, das einfach so von zuhause fortlief.

„Jules, du kannst nicht hier bleiben. Es ist spät und es ist kalt“, versuchte Amos an die Einsichtigkeit des Jungen zu appellieren.

„Ich gehe auf keinen Fall zurück nach Hause!“ Jules‘ tränenverschmiertes Gesicht glänzte im Mondschein. Entschlossen erwiderte er Amos‘ Blick.

Amos seufzte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Einen langen Augenblick stand er schweigend neben dem Jungen. „In Ordnung“, meinte er langsam. “Du brauchst nicht zurück nach Hause zu gehen. Aber ich werde dich hier auch nicht zurücklassen.”

Amos rieb sich nachdenklich das Kinn, während er einen kurzen Blick in den dunklen Schulhof warf und seine Alternativen abwog. „Heute Abend kannst du bei mir bleiben.“ Damit streckte er Jules die Hand entgegen, um ihm aufzuhelfen. Der Junge blickte ihn unsicher an, ganz so als wüsste sein junger Verstand genau, dass Amos Recht hatte; seine Gefühle ihm jedoch gleichzeitig rieten, auf der Stelle davon zu laufen. Nach einigen langen Sekunden nahm er zögernd Amos‘ Hand. Er sah ihn jedoch nicht an, und er sagte auch kein weiteres Wort, als Amos ihm aufhalf und mit ihm hinaus auf die hellerleuchtete Straße trat.

*+..+*+..+*

Das erste, was Amos tat, als er nach Hause kam, war, den Jungen in ein heißes Bad zu stecken. Es grenzte an ein Wunder, dass er sich noch nicht erkältet hatte. Er hatte den ganzen Weg über gezittert, obwohl er sich bemüht hatte, seine klappernden Zähne vor Amos zu verbergen. Dabei hatte Jules die ganze letzte halbe Stunde, die sie zu Amos‘ Wohnung gebraucht hatten, nicht ein einziges Wort von sich gegeben. Er hatte auch nicht protestiert, als Amos ihn ins Bad verfrachtet, die Heizung aufgedreht und ihm befohlen hatte, die nächste halbe Stunde im heißen Wasser zu bleiben.

Amos ging währenddessen in die Küche, sammelte die Überreste des letzten Abendessens zusammen, kippte sie in den Recycler und versuchte so gut es ging Ordnung in das Chaos zu bringen, das sein Leben in letzter Zeit bestimmte. Er dachte kurz darüber nach, die Eltern des Jungen zu verständigen; nur um ihnen zu sagen, dass es ihrem Sohn gut ging. Doch etwas in ihm, hielt ihn zurück. Vielleicht war es besser zuerst zu hören, was Jules zu sagen hatte.

Er schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Obwohl er nun schon seit einigen Jahren als Lehrer arbeitete, war er in seiner Karriere noch nie mit einer vergleichbaren Situation konfrontiert worden. Große Güte, eigentlich war er mehr Wissenschaftler als Lehrer, geschweige denn Psychologe. Bis zum heutigen Tage hatte er es erfolgreich geschafft, seine Arbeit und sein Privatleben auseinander zu halten. Was hatte er sich nur dabei gedacht, den Jungen mit nach Hause zu nehmen? Auf der anderen Seite hatte der Junge so allein und hilflos ausgesehen, dass ihm gar nichts anderes übrig geblieben war.

Jules besuchte seit zwei Jahren seinen Biologieunterricht. Er war der Schüler mit den besten Noten, immer an der Spitze seiner Klasse. Seine Neugier brachte ihn und seine Freunde manchmal in Schwierigkeiten aber er hätte Jules nie für ein Kind mit ernsten Problemen gehalten. Natürlich konnte er nie sicher sein, was genau im Zuhause seiner Schüler vor sich ging. Trotzdem hätte er es nie für möglich gehalten, Jules würde einmal von zuhause fortlaufen. Er hatte immer so sorglos gewirkt; so lebhaft und unbekümmert. Er hatte Freunde. Er war gut in der Schule. Er kam ihm vor wie einer jener Vorzeigeschüler, und er hatte Eltern, die ihn über alles liebten. Er fragte sich, was wohl vorgefallen sein mochte.

Das Geräusch von Schritten im Korridor holte seine Gedanken zurück in die Gegenwart.

Jules kam aus dem Badezimmer zurück. Sein pechschwarzes Haar war immer noch nass und zerzaust, aber zumindest schien er sich soweit aufgewärmt zu haben, dass langsam wieder Farbe in sein Gesicht zurückkehrte. Amos hatte ihm einige seiner eigenen Anziehsachen gegeben. Sie waren ein bisschen zu groß, aber zumindest würden sie den Jungen warm halten.

Einen Augenblick lang zögerte Jules unentschlossen an der Türschwelle, kam dann jedoch langsam näher und setzte sich im Schneidersitz auf die Couch gegenüber Amos. Sein Blick war zu Boden gerichtet. Er bemühte sich sehr, Amos nicht anzusehen. Seine Finger gruben sich nervös in den Stoff seiner schwarzen Hose, während er darauf zu warten schien, dass Amos das Wort ergriff.

„Hast du Hunger?“, versuchte Amos seine Anspannung zu lindern und deutete in Richtung Replikator. „Ich wollte sowieso gerade Abendessen. Möchtest du etwas?“

Der Junge schüttelte den Kopf. „Nein, danke, Sir“, flüsterte er.

Amos sah ihn lange an, und erhob sich schließlich. Er bestellte Sandwiches, Milch und ein paar Kekse. Die Milch und die Kekse stellte er vor Jules. Der Junge sah überrascht auf, aber gab keinen Ton von sich. Fast dankbar griff er nach der Tasse Milch und nahm einen vorsichtigen Schluck. Seine Hände schlossen sich fest um die Tasse, ganz so als suchte er verzweifelt etwas, an dem er sich festhalten konnte.

Amos musste lächeln. Dann wurde er wieder ernst. “Und, erzählst du mir jetzt, was passiert ist? Was hast du dort ganz allein auf dem Schulgelände gemacht?“

Als der Junge nicht antworte, versuchte Amos es erneut.

“Hattest du einen Streit mit deinen Eltern? Ist das der Grund, warum du von zuhause weggelaufen bist?“ Amos‘ Stimme war sanft und einfühlsam, als er im Gesicht des Jungen nach einer Antwort suchte.

Jules starrte noch immer schweigend in seine Tasse, doch sein Gesicht verlor sichtlich an Farbe. Er sah in diesem Moment so verloren und zerbrechlich aus; nicht wie der selbstbewusste Schüler, den Amos kannte; sondern ängstlich, und eingeschüchtert. Ganz so als bereute er, jemals einen Fuß in die Wohnung seines Lehrers gesetzt zu haben, gleichzeitig aber zu müde und kraftlos war, um mehr zu tun, als schweigend die Konsequenzen davon zu tragen. Für gewöhnlich bargen seine Augen ein schelmisches Leuchten… doch jetzt waren sie getrübt vor Schmerz und Kummer.

Amos lehnte sich mit einem Stirnrunzeln nach vorne. „Haben sie dir weh getan?“

Ein zögerliches Kopfschütteln. „Nein“, murmelte Jules so leise, dass Amos ihn kaum verstehen konnte. Etwas an dem Verhalten des Jungen verriet ihm jedoch, dass die Antwort ehrlich gemeint war.

Amos seufzte innerlich vor Erleichterung. Dann betrachtete er den Jungen einen langen Moment. „Jules, was auch immer passiert ist, du kannst es mir sagen. Ich bin dein Lehrer. Ich werde es niemandem sagen, wenn du das nicht willst. Was auch immer das Problem ist, wir finden eine Lösung. Das verspreche ich dir.“

Jules schüttelte den Kopf, und seine Schultern fielen noch weiter nach vorne. „Dieses Problem lässt sich nicht lösen“, sagte er schließlich mit gebrochener Stimme. Er sah noch elender aus als zuvor.

„Für jedes Problem gibt es eine Lösung. Man muss sie nur finden“, meinte Amos gutmütig um ihn aufzuheitern. „Also, warum erzählst du mir nicht davon?“

Jules‘ Hände schlossen sich fester um die Tasse mit Milch. „Niemand kann mir helfen“, sagte er nach einer langen Pause in merkwürdig gefasstem Tonfall. Sah Amos dort ein Aufblitzen von Wut im Gesicht des Jungen?

Ein vages Gefühl warnte ihn, dass er vorsichtig sein musste. „Wie kannst du dir so sicher sein, wenn du es nicht versuchst?“

Stille.

Angesichts des hartnäckigen Schweigens des Jungen fuhr sich Amos unsicher durchs Haar.

„Schau mal, Jules, du bist doch noch so jung. Du bist gerade erst fünfzehn geworden – und du hast dein ganzes Leben noch vor dir. Egal, was das Problem ist, wir werden es lösen. Glaub mir, morgen sieht alles nur noch halb so schlimm aus.“

In dem Augenblick, als Amos Jules‘ Gesicht sah, wusste er, dass er einen schrecklichen Fehler begangen hatte. Tränen schossen dem Jungen in die Augen, als hätten seine Worte buchstäblich ins Schwarze getroffen. Jules versuchte hastig sich die Tränen mit den Ärmeln des viel zu großen Pullovers aus dem Gesicht zu wischen, aber augenblicklich folgten neue. Zitternd wandte Jules den Blick ab, zog die Beine an den Körper und schlang die Arme um die Knie, um sein weinendes Gesicht dazwischen zu vergraben.

Augenblicklich erhob sich Amos. Er eilte auf die andere Seite der Couch und setzte sich neben den schluchzenden Jungen. Behutsam legte er einen Arm um dessen bebenden Schultern.

„Jules, erzähl mir, was passiert ist“, bat er den Jungen, während seine Sorge sich langsam in Bestürzung wandelte. Er hatte den Jungen noch nie so verstört gesehen. Noch nie so… verletzt.

„Ich kann nicht“, schluchzte Jules, und es hörte sich so an, als hätte er alles dafür gegeben, daran etwas ändern zu können. Als ob er verzweifelt um Hilfe rufen wollte, es aber nicht konnte, weil er befürchtete dadurch alles nur noch schlimmer zu machen.

Amos strich dem Jungen sanft über den Rücken, um ihn zu beruhigen, und sog tief die Luft ein. Was in aller Welt war geschehen? Warum war der Junge so verstört? „In Ordnung“, sagte er schließlich nach weiteren Minuten unangenehmen Schweigens. „Ich werde deine Eltern kontaktieren, Jules.“ Wenn der Junge ihm nicht verriet, was geschehen war, ging es nicht anders. Als er sich erhob, griff Jules plötzlich nach seinem Ärmel.

„Nein, bitte! Sie haben mir nichts getan. Wir hatten einen Streit und ich bin weggerannt. Aber sie haben mir nichts getan. Bitte kontaktieren Sie sie nicht. Wir hatten nur einen Streit und…“, platzte es aus Jules heraus, dem der Horror bei der Vorstellung, Amos könnte seine Eltern benachrichtigen, im Gesicht geschrieben stand. So als versuchte er verzweifelt zu retten, was zu retten war. „Ich schwöre. Sie haben mich nicht…“, schluchzte der Junge unkontrolliert und unter Tränen.

„Alles in Ordnung, Jules! Beruhige dich! Alles wird wieder gut”, sagte Amos, als er vor dem weinenden Jungen in die Knie ging und seine Hände sachte in die eigenen nahm. „Schhh, alles ist in Ordnung! Ich werde deine Eltern nicht benachrichtigen. Ich mache mir nur Sorgen um dich. Aber ich werde nichts gegen deinen Willen tun, hörst du mich? Du bist hier in Sicherheit. Niemand wird dir hier weh tun.“

Jules sah ihn mit tränenverschleiertem Blick an, brachte dann aber ein schwaches Nicken zustande. Verzweifelt versuchte er ein Schluchzen zu unterdrücken.

„Okay“, sagte Amos, und drückte tröstend die Hände des Jungen. „Was auch immer geschehen ist, du musst es mir nicht erzählen. Du bleibst einfach hier und ruhst dich aus. Wir können ein paar Holovideos anschauen, wenn du willst. Und wann immer du bereit bist, bin ich hier um dir zuzuhören. Was meinst du?“

Jules sah ihn zögernd an. Tränen liefen ihm über die geröteten Wangen, als er Amos schweigend ansah. Aber dann nickte er schniefend.

Amos schenkte ihm ein gutmütiges Lächeln und klopfte ihm beruhigend auf den Rücken. Es war das einzige, was ihm in den Sinn kam. Was auch immer der Grund für den Streit mit seinen Eltern gewesen sein mochte, Jules war offensichtlich zu emotional aufgewühlt um in diesem Augenblick klar darüber denken zu können. Zumindest konnte er ihm einen Ort geben, an dem er sich sicher und geborgen fühlte.

Entschlossen ging er zum Seitenregal um ein paar Holovideos einzusammeln. Er wählte eines auf gut Glück aus und schob das Holovideo in den Holoplayer. Dann besorgte er ihnen ein paar Kekse für den Abend. Dass er vorgab, alles sei beim Besten, während einer seiner Schüler in Tränen aufgelöst in seiner Wohnung saß und sich weigerte, ihm den Grund dafür zu nennen, war an und für sich ziemlich beunruhigend, aber welche Alternative hatte er? Die Sicherheit benachrichtigen, damit sie den Jungen holten und ihn zurück nach Hause brachten und damit nur alles noch schlimmer machten? Wäre er an Jules‘ Stelle gewesen, wäre es wohl das letzte gewesen, dass er gewollt hätte, womit es außer Frage stand. Wenn er dem Jungen nur ein bisschen mehr Zeit ließ, würde Jules vielleicht anfangen ihm zu vertrauen oder ihm zumindest einen Hinweis geben, was geschehen war.

Als er den Holoplayer einschaltete, rollte sich Jules in einer Ecke der Couch zusammen, offensichtlich zu müde und erschöpft, um sich wirklich um den jämmerlichen Anblick zu kümmern, den er bot – egal ob Amos nun sein Lehrer war oder nicht. Obwohl er fast dankbar die Decke annahm, die Amos ihm reichte, sprach er kein weiteres Wort und starrte nur mit leeren Augen auf den Bildschirm des Holoplayers während seine Gedanken weit weit fort zu sein schienen.

Den Rest des Abends verbrachten sie schweigend nebeneinander, bis Amos den tiefen und regelmäßigen Atem des Jungen bemerkte. In die dicke Decke wie in einen schützenden Kokon eingehüllt, war Jules schließlich eingeschlafen, den Kopf müde auf eines der Couchkissen gebettet. Mit einem traurigen Lächeln zog Amos die Decker enger um den schlafenden Jungen bevor er den Holoplayer ausschaltete und begann, das schmutzige Geschirr zurück zum Replikator zu bringen und für den Abend aufzuräumen.

*+..+*+..+*

Am nächsten Morgen frühstückten sie zusammen. Es war Amos‘ freier Tag und er hatte für sie beide Toastbrot, Kaffee und Kakao vorbereitet, da er sich sicher war, dass Jules nach der gestrigen Nacht niemals freiwillig zur Schule gegangen wäre. Obwohl der Junge sich noch immer zögerlich und unsicher verhielt, wirkte er um einiges gefasster als noch am Abend zuvor.

„Sir“, fragte Jules unvermittelt mit sehr leiser Stimme. Er nagte an einem Stück Toastbrot und hatte die Augen auf den Teller vor sich gerichtet. Es war das erste Mal, dass er seit vergangener Nacht sprach. „Denken Sie, dass jemand für etwas bestraft werden kann, das er nicht getan hat?“ Er sah nicht von seinem Teller auf.

Amos hielt inne. Er zog eine Augenbraue nach oben und sagte: „Nein, warum fragst du?“

Jules schüttelte den Kopf. „Ich meine, kann jemand für etwas bestraft werden, das andere getan haben?“

Amos sah Jules an, nicht sicher, worauf der Junge hinaus wollte. „Das wäre nicht fair, oder?“

Jules starrte weiterhin wortlos auf seinen Teller, ganz so als ränge er mit sich selbst. Dann sagte er plötzlich in einem kaum hörbaren Flüstern:

„Ich wurde… genetisch verbessert.“

Die Worte waren wie ein Donnerschlag.

Einen langen Moment herrschte Stille. Zuerst hörten sich die Worte so völlig fehl am Platz an, dass Amos dachte, er hätte sich verhört. Aber ein Blick ins Gesicht des Jungen reichte, um ihm unmissverständlich klar zu machen, dass Jules es ernst meinte. Von allen Dingen, die er sich ausgemalt hatte, war es das, was er als letztes erwartet hätte; und im ersten Augenblick war er so völlig überrascht, dass ihm die Worte fehlten.

„Meine Eltern haben es veranlasst, als ich klein war”, fuhr Jules in einer besorgniserregenden gleichgültigen Stimme fort, die im völligen Gegensatz zu seinem Verhalten am Vorabend stand. „Ich kann mich kaum daran erinnern. Ich habe es bis gestern Abend nicht gewusst. Meine Eltern haben es all die Jahre vor mir verborgen. Aber gestern habe ich die Unterlagen meiner Mutter gefunden.“

Noch immer starrte Jules benommen auf das unangerührte Frühstück auf seinem Teller. Überraschenderweise waren keine Tränen in seinen Augen, als er sprach. Nur ein tiefer Schmerz, so als wünschte er sich verzweifelt, die Zeit zurückdrehen zu können. Als bereute er zutiefst die Wahrheit herausgefunden zu haben, aus Angst, was sie für ihn bedeutete.

„Sie haben mir gesagt, ich darf es niemandem erzählen. Denn wenn jemand davon erfährt, würde wir Schwierigkeiten bekommen. Dann würde ich Schwierigkeiten bekommen.“ Jules hielt inne und schluckte. „Weil es… illegal ist.“

Allein das Wort schien einen furchteinflößenden Effekt auf den Jungen zu haben, da er es kaum über die Lippen brachte.

„Ich mag erst fünfzehn sein. Und ich mag die vielversprechende Zukunft haben, von der Sie mir erzählt haben. Aber es ist alles wertlos, weil…“ Jules sah ihn nicht an, als er sich zwang weiterzusprechen: „…weil ich… ein Verbrecher bin.“

„Hey, hey, hey, warte!”, hielt Amos plötzlich abwehrend beide Hände in die Höhe. Das unerwartete Geständnis des Jungen hatte ihm im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache verschlagen. Es kam so plötzlich, dass er Schwierigkeiten hatte, dem Jungen zu folgen. Aber wenn er eines wusste, dann war es die Tatsache, dass hier etwas völlig in die falsche Richtung ging. „Warum denkst du, dass du ein Verbrecher bist? Du bist ein fünfzehnjähriger Junge, Jules. Du bist der beste Schüler, den ich habe. Aber sicher kein Verbrecher.“ Amos sah Jules tief in die Augen und versuchte ihn davon abzuhalten, sich in der Furcht zu verlieren. Der tiefen Schmerz und die Angst in den Augen des Jungen nahmen ihm fast den Atem.

Genetisch verbessert. Gute Güte, er war auf vieles vorbereitet gewesen, aber sicher nicht darauf. Sollte es tatsächlich wahr sein? Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass Jules die Wahrheit sagte?

Amos legte die Hände ineinander und lehnte sich entschlossen nach vorne. „Jules, hör mir zu. Selbst wenn du, wie du sagst, genetisch verbessert wurdest, selbst wenn es wahr ist, dann macht dich das noch lange nicht zu einem Verbrecher. Hörst du mich? Du bist kein Verbrecher.“

„Aber es ist illegal”, fuhr Jules mit bebender Stimme fort, als hätte er schon alles im Geiste durchgespielt und furchtbare Angst vor der Schlussfolgerung, die er daraus gezogen hatte. „Sie werden mich von der Schule werfen. Und ich werde all meine Freunde verlieren. Und dann muss ich ins Gefängnis.“

„Jules, du musst nicht ins Gefängnis!“, hielt Amos entschlossen dagegen. „Überstürz die Dinge nicht. Niemand wird dich von der Schule werfen. Und du musst ganz sicher nicht ins Gefängnis.“

Der Junge sah ihn verzweifelt an. „Aber wenn die Wahrheit ans Licht kommt…“

„Jules, sieh mich an!“, meinte Amos sanft. Ihm war die wachsende Panik des Jungen nicht entgangen. „Lass uns ganz von vorne anfangen. Du hast mir gerade gesagt, dass du… genetisch verbessert wurdest. Weißt du, was das bedeutet? Weißt du, wofür dieser Ausdruck verwendet wird?“

Der Junge nickte. „Es geht um die Veränderung der DNA eines Menschen nach dessen Geburt. Es geht um Genmanipulation, um genetisches Engineering. Man verändert die DNA und ordnet sie neu an, um körperliche und geistige Fähigkeiten zu verbessern“, flüsterte Jules betroffen, als ob die alleinige Vorstellung an der DNA eines Lebewesen herumzuspielen ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Aber es war mehr als das. Genetisches Engineering. Für den Jungen schien der Ausdruck in eine dunkle und verbotene Welt zu gehören. Ein Ausdruck, von dem er Geschichten gehört haben mochte, aber der ihm hauptsächlich dadurch bekannt war, weil er in der Föderation verachtet und gebrandmarkt war. Sie hatten es wahrscheinlich im Unterricht durchgenommen. Sie hatten die Eugenischen Kriege behandelt, also mussten sie dabei zwangsläufig auch über das Thema des genetischen Egnineerings gesprochen haben.

Amos nickte eilig. „Genetisches Engineering an und für sich ist nichts Schlimmes. Eigentlich ist es in der Wissenschaft etwas sehr nützliches. Die Fähigkeit zur Genmanipulation stellte einst einen Meilenstein in der Geschichte der Forschung dar.“ Er zog eine Braue nach oben. „Erst die Geschichte und der falsche Umgang mit diesem Wissen haben den Menschen Angst davor gemacht. Aber von einem rein wissenschaftlichen Standpunkt aus ist es nichts, wovor man sich fürchten müsste, oder was man verstecken sollte. In den richtigen Händen kann genetisches Engineering Wunder bewirken. Dieses Wissen ist ein Geschenk. Und wenn die Menschen nicht so von ihrer eigenen Furcht eingeengt wären, würden sie dieses Geschenk besser zu würdigen wissen.“

Jules biss sich auf die Unterlippe. Er sah noch blasser aus als zuvor.

Amos schüttelte den Kopf und zog die Brauen zusammen. „Aber warum… Ich meine, wie hast du es herausgefunden?“, fragte er vorsichtig, darauf bedacht, dem Jungen nicht noch mehr Angst einzujagen. „Bist du sicher, dass es das war, was deine Eltern gesagt haben?“

Jules blickte zu Boden. Seine Augen glänzten feucht. „Es war… ein Unfall. Ein blödes Spiel, das wir in der Schule spielen”, gab er leise zurück, ganz so als bereute er, jemals dabei mitgemacht zu haben.

„Es ging darum herauszufinden, ob man wirklich das Kind seiner Eltern ist. Ein paar von uns hatten plötzlich die Idee, was passieren würde, wenn sich herausstellte, dass wir adoptiert wurden. Es ging nur darum ein Geburtszeugnis oder so zu finden, das beweist, dass man wirklich der ist, für den man sich hält. Es war nur ein Spiel. Aber alle haben mitgespielt“, meinte der Junge hastig, als wollte er sich für seine Taten rechtfertigen. „Also habe ich die Unterlagen meiner Mutter durchgesehen. Ich wusste, wo sie die Sachen aufbewahrte. Ich meine, Dokumente, die nicht bei uns zuhause in der Datenbank abgespeichert waren.“

„Und dort hast du es entdeckt?“, fragte Amos unsicher.

Der Junge nickte schwach, als würde er sich vor Amos‘ Schelte fürchten, seine Nase in Dinge gesteckt zu haben, die ihn nichts angingen. „Sie hatte die Unterlagen von den Ärzten aufgehoben, die meine Behandlung durchgeführt hatten. Unterlagen, aus denen hervorgeht, was genau… mit mir gemacht wurde. Über meine Fähigkeiten und wie sie geändert wurden. Sie musste Angst davor gehabt haben, es in die Datenbank einzuspielen. Es war nur ein grober Abriss mit wenigen Erläuterungen. Aber ich habe Orte und Namen wiedererkannt“, meinte Jules benommen, als sähe er die Dokumente vor seinem geistigen Auge. „Und dann habe ich mich daran erinnert, wie ich einige Zeit in einem Krankenhaus auf Adigeon Prime verbracht habe, als ich jünger war. Mein Vater hat mir einmal erzählt, dass ich krank war und deswegen dorthin gehen musste. Aber es war alles eine Lüge. Sie haben mir nie erzählt, warum wir wirklich dort waren. Es ging dabei nur um die genetische Verbesserung.“

„Was haben deine Eltern dazu gesagt, als du es herausgefunden hast? Hast du es ihnen gesagt?“

Jules rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Ein dunkler Schatten legte sich auf seine blassen Züge und Trauer und Schuld kämpften in seinen Augen um die Oberhand. „Meine Mutter war so wütend auf mich, als ich es herausfand. Am Anfang stritt sie es alles ab. Aber dann hat sie angefangen zu weinen und sich immer wieder bei mir entschuldigt. Und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hatte solche Angst, als mein Vater am Abend nach Hause kam. Zuerst dachte er, meine Mutter und ich hätten uns nur gestritten, aber dann erzählte sie ihm, dass ich die Wahrheit herausgefunden hatte und…“ Jules‘ Schultern zitterten, als ob er jenen Abend noch einmal vor seinem geistigen Auge durchlebte. „Er hat mich gebeten, mich zu ihm zu setzen. Und dann hat er mir alles erzählt. All die Dinge über meine Behandlung, die sie all die Jahre vor mir verborgen hatten. Aber das Einzige, was ich von ihm wollte, war dass er es abstritt. Ich wollte, dass er mir sagte, dass ich mir alles nur einbilde. Ich wollte, dass er wütend auf mich wurde, weil ich heimlich die Unterlagen meiner Mutter durchgesehen habe. Ich… ich wollte, dass er mir sagte, dass alles in Ordnung wäre. Mir war so schlecht während er mir bis ins Details erklärte, was mit mir in jenem Krankenhaus geschehen war.“

Amos sah den Jungen lange schweigend an. Es fiel ihm noch immer schwer, die Wahrheit zu akzeptieren, die ihm Jules so plötzlich anvertraut hatte. Aber auf eine beunruhigende Art ergab alles plötzlich einen Sinn. Er hatte nie näher darüber nachgedacht, aber wenn er jetzt auf all die vergangenen Jahre zurückblickte, dann hatte Jules nicht ein einziges Mal schlecht in der Schule abgeschnitten. Natürlich hatten sie sich unter den Lehrern hin und wieder darüber unterhalten, was für ein außergewöhnlich begabter Schüler Jules Bashir war. Aber das war auch schon alles gewesen. Jules war für alle einfach eines jener Kinder gewesen, die überdurchschnittlich intelligent und einfach begabt im Lernen waren. Niemand hätte je vermutet, dass mehr hinter all dem steckte, als es den Anschein hatte.

Amos wusste, dass seine nächsten Worte entscheidend waren. „Jules, ich möchte, dass du mir zuhörst: Selbst wenn du früher genetisch verbessert wurdest, gibt es nichts, vor dem du dich fürchten musst. Es bedeutet nicht, dass du ein Verbrecher bist oder dass du dich in irgendeiner Form dafür schämen musst.“ Amos fuhr mit sanfter Stimme fort: „Egal welche Veränderungen an deiner DNA durchgeführt wurden, du bist noch immer ein Junge. Ein ganz normaler fünfzehnjähriger Junge. Du lachst, wenn du glücklich bist. Und du weinst, wenn du traurig bist. Manchmal bist du unsicher. Und manchmal hast du Angst. Du bist ein normales menschliches Wesen, mit normalen Gefühlen. Du führst ein normales Leben. Genau wie jeder andere.“

Der Junge hob den Kopf, ein Ausdruck völliger Verzweiflung im Gesicht. „Aber es ist gegen das Gesetz“, erwiderte er mit zitternder Stimme. Tränen sammelten sich erneut in seinen Augenwinkeln. Es ist gegen das Gesetz. Es schien das zu sein, was ihn am meisten verschreckte. Jules war schon immer ein folgsamer Schüler gewesen, jemand der sich immer an die Regeln hielt und immer versuchte, den hohen Ansprüchen der Erwachsenen gerecht zu werden. Es musste sicher ein unerwarteter und harter Schlag für ihn gewesen zu sein, zu erfahren, dass er ohne es zu wollen oder überhaupt zu wissen gegen eine der grundlegendsten Regeln der Gesellschaft verstoßen hatte.

Jules‘ Lippen bebten. „Wenn es jemals ans Licht kommt…“

Doch Amos schüttelte den Kopf. „Niemand wird es herausfinden. Niemand wird dich über Dinge ausfragen, die vielleicht einst in deiner Vergangenheit geschehen sein mochten. Es war bis heute nicht von Bedeutung, und es wird auch in Zukunft nicht von Bedeutung sein. Nichts wird sich ändern: Du weiß nun über die Wahrheit Bescheid, aber das ist auch schon alles, das nun anders ist als zuvor.“ Er legte beide Hände auf dem Tisch ineinander und stützte sich auf seine Ellenbogen. „Von einem rein wissenschaftlichen Gesichtspunkt aus wurde deine DNA während der Behandlung nur neu zusammengesetzt. Aber es wurde nichts hinzugefügt, was nicht vorher schon da war. Deine DNA allein wird dich nie verraten. Keine Sorge, ich muss es wissen, schließlich bin ich Wissenschaftler”, versuchte Amos mit einem aufmunternden Lächeln.

Jules sah nicht wirklich überzeugt aus. „Aber… es wäre eine Lüge…“

Amos hielt eine Hand hoch. „Nur weil du nicht offen über etwas sprichst, heißt das noch lange nicht, dass du ein Lügner bist, Jules. Es gibt so viele Dinge, über die Menschen nicht reden wollen. Macht sie das alle zu Lügnern?“

Der Junge sah ihn ehrlich verwundert an.

„Jules, egal welche genetische Veränderung bei dir vorgenommen wurde, vergiss eines nicht: Was auch immer in deiner Kindheit mit dir gemacht wurde, nur allein deswegen bist du nun die Person, die du bist. Der Jules Bashir, mit dem ich gerade spreche, würde nie in diesem Augenblick vor mir sitzen, wenn deine Eltern sich damals nicht für die Behandlung entschieden hätten.“

Amos drückte mitfühlend Jules‘ Hand. „Du bist gut in der Schule. Du hast viele Freunde. Und das ist alles, was zählt. Es gibt andere Schüler, die auch gut in der Schule sind. Es gibt andere Schüler, die ebenfalls gut in Sport sind. Du bist gut in Mathe? Nun, es gibt andere Schüler, die auch gut darin sind. Du bist genau wie sie. Es gibt nichts wovor du dich fürchten musst. Du bist nur ein guter Schüler. Vielleicht ein bisschen besser als der Rest, aber das ist auch schon alles.“

Ein schwacher Funken Hoffnung stahl sich in Jules‘ Augen. Amos‘ unerwartet mitfühlende Worte waren offensichtlich nicht das, was er erwartet hatte. „Dann… denken Sie nicht… dass es etwas Schlechtes ist?“, fragte der Junge leise, als fürchtete er sich immer noch davor, Amos würde seine Meinung im letzten Moment ändern.

Stattdessen lachte Amos nur warmherzig. „Nun, die Neuigkeit hat mich im wahrsten Sinne des Wortes überrollt aber… nein, ich halte es nicht für etwas Schlechtes. Eigentlich ist es das ganze Gegenteil.“

Jules schien sich etwas zu entspannen, als wäre eine schwere Last von seinen Schultern gefallen. Einen langen Augenblick saß er schweigend am Frühstückstisch, zu verlegen um etwas zu sagen. Dann aber hob er den Kopf und begegnete Amos‘ Blick zum ersten Mal. Amos fühlte einen Stich im Herzen beim Anblick der kindlichen Unschuld, die er in den Augen des Jungen sah. „Aber… ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll.“

Amos lächelte. „Du musst nichts tun. Sei einfach du selbst. Das ist auch schon alles.”

Jules schien lange über seine Worte nachzudenken. Dann huschte ein plötzlicher Anflug von Bestürzung über sein junges Gesicht. „Sie… werden doch niemandem etwas sagen… oder?“

Amos nahm einen Schluck seines lauwarmen Kaffees und schüttelte entschieden den Kopf. „Ich werde es niemandem sagen, Jules. Ich bin dein Lehrer. Wenn du mir nicht davon erzählen kannst, wem dann? Dein Geheimnis ist bei mir sicher.“ Dann fügte er in ernsterer Stimme hinzu: „Es ist jedoch ein sehr mächtiges Geheimnis, Jules. Selbst wenn es dir jetzt als Bürde erscheint, gibt es so viel, was du damit machen kannst. Habe keine Angst davor zu akzeptieren, wer du bist, und was du kannst. Nutze deine Talente. Es gibt so viel Gutes, das du damit bewirken kannst.“

Als er den unsicheren Gesichtsausdruck des Jungen bemerkte, lächelte Amos. „Aber ich glaube, das muss ich dir nicht unbedingt sagen. Sei einfach du selbst.“

Sie saßen noch lange schweigend nebeneinander. Jules hielt noch immer die Tasse mit der kaum angerührten Schokolade fest umklammert, während er über Amos‘ Worte nachzudenken schien. Bis er plötzlich erneut den Mund öffnete.

„Julian.“

Amos sah in überrascht an, nicht sicher, von was der Junge sprach.

„Julian… das ist mein… eigentlicher Vorname“, erklärte der Junge verlegen, ganz so als ob er ein weiteres Geheimnis mit ihm teilte.

Amos lächelte warmherzig zurück und klopfte dem Jungen auf die Schultern. „In Ordnung… Julian. Wie wäre es mit mehr Toastbroat und heißer Schokolade. Und später, wann immer du dich bereit fühlst, bringe ich dich zurück nach Hause?“

Schüchtern erwiderte der Junge das Lächeln. Dann nickte er, ein Ausdruck ehrlicher Dankbarkeit auf seinen Zügen.

„Vielen Dank, Sir.“
Rezensionen