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Bis an der Erde steinern Herz, Band 3

von MaLi

Frost

Die tiefe Verzweiflung, die Ayels wochenlange Abwesenheit in der Crew hinterlassen hatte, war deutlich zu spüren. Er bemerkte die Veränderung sofort, auch wenn sich seine Brüder Mühe gaben, es vor ihm zu verbergen. Man balancierte ihn fast wie ein rohes Ei in der Crew umher. Am Anfang hatte er es genossen, wieder im Mittelpunkt zu stehen und so viel Aufmerksamkeit zu bekommen, doch nun, nach einer Woche, bedrückte und beunruhigte es ihn.

Komras Motive waren ihm klar. Wieder bis auf die Knochen abgemagert, schwach und von blauen Flecken übersät, konnte der gütige Arzt nicht anders, als sich pausenlos um ihn zu sorgen. Auch die Crew ging dementsprechend vorsichtig mit ihrem zurückgewonnenen Huther um. Doch das war nicht alles, wie Ayel vermutete. Wie er am Abend seiner Rückkehr erfahren hatte, sprachen Komra und Livis tatsächlich kein Wort mehr miteinander. Auch Oren hatte er noch nicht gesehen, denn aufgrund seiner massiven Unterernährung mit einem Arbeitsverbot belegt, war er Nero noch nicht begegnet. Noch immer blieb jemand bei ihm, meist Aurel, und achtete darauf, dass er genügend trank, sich nicht zu oft unnötig bewegte und die Rationen ass, welche die Brüder von ihren Mahlzeiten abbrachen und seiner zufügten. Er solle faul sein und fett werden, rieten sie ihm scherzhaft und er genoss es. Es würde nicht immer so bleiben. Sie achteten gut auf ihn und so erlangte er wieder viel von seiner Kraft, Hoffnung und seinem Glauben an die Zukunft zurück. Und er war zurück bei seiner Livis.

Ayel seufzte leise und blickte verstohlen durch den Flur zu ihr hinüber. Sie sass weit weg, so wie immer, seit er zurück war. Sie schien ihm aus dem Weg zu gehen und wenn Komra bei ihm war, kam sie erst gar nicht in seine Nähe. Auch Adnak, der, seit er Livis bedrängt hatte, eine schicke Zahnlücke aufwies, sass mit Arda etwas abseits. Die zwei Hauer waren beste Freunde und Letzterer teilte vermutlich nur aus Solidarität den Aussenseiterplatz mit seinem Kumpel. Ayel war das egal. Adnak hatte sich an Livis vergriffen, er hatte es verdient. Auch der Hauer mied ihn offen. Ayel hatte noch immer helle Flecken dort, wo er von der Schlägerei Verletzungen davongetragen hatte.

Doch das war nicht alles, was sich seit seiner Flucht verändert hatte. Die einen Kumpel waren noch näher zusammen gerückt und andere, wie Adnak und Arda hatten sich deutlich abgegrenzt. Die Minenbrüder schliefen, bis auf wenige, nur noch paarweise in den Zellen, hielten sich verzweifelt an denen fest, die ihnen noch geblieben waren. Ayel wagte nicht zu fragen, wen sich Aurel wohl als Ersatz ausgesucht haben mochte. Er zweifelte daran, dass sich der anhängliche Romulaner in der Trauer um seinen vermeintlich toten, besten Freund alleine zurückgezogen hatte. Es gab ihm einen fiesen kleinen Stich als er daran dachte, dass Aurel und Livis sich zu einem neuen Duo zusammen geschlossen haben könnten. Immerhin gehörte sie ja als dritter „Mann“ in ihre Zellengruppe. Mied sie ihn deshalb? Hatte sie Schuldgefühle wegen Aurel? Ayel schüttelte den bangen Frost von seinem Herzen ab und wandte sich seinen zwei besten Freunden zu.

Piri und Torre begleiteten Ayel seit seiner Rückkehr wie ein Schatten, auch wenn er lediglich den Sitzplatz im Flur wechselte, und verliessen ihn nur, um zur Arbeit oder Toilette zu gehen. Auch Komra blieb ständig in seiner Nähe und beobachtete stumm die gesundheitlichen Fortschritte, die im Wesentlichen darin bestanden, dass er bereits eine normale Portion Essen im Magen behalten konnte. Aurel hingegen klebte Tag und Nacht an ihm. Obwohl sie noch immer kein sexuelles Interesse aneinander hatten, waren sie wie Piri und Torre mittlerweile doch zu einer Art Paar geworden.
Ayel freute sich über Aurels Gesellschaft. Mehr als er zugab hatte er einen engen Freund an seiner Seite vermisst. Der Schock, der ihm die Industrie 3 beigebracht hatte, löste sich bereits von ihm, so dass auch hier die Nächte wieder kalt und einsam waren. Anfangs nur heimlich, rückte er jetzt offen an den warmen Körper seines Nebenmannes, wenn die zwei Wolldecken ihn nachts nicht zu wärmen vermochten.
Scham und Stolz. Nie wieder wollte er sich denen hingeben! Sie hatten ihn so viel gekostet … Noch immer schauderte es ihn, wenn er an seine Zeit in dieser Eishölle dachte. Er vermisste O’Malley, Iura und Selur und ein ganz winzig kleines bisschen sogar den gutmütigen Kazlaa, wenn er aufrichtig in sich ging. Ein guter Mann. Dass er das mal von einem Klingonen sagen würde, hätte er sich niemals träumen lassen.

„Hey, träumst du?“
Ayel spürte Piris Stupser bis ins Herz. Glücklich über dessen Gesellschaft lächelte er nur etwas verlegen und schüttelte den Kopf. Natürlich träumte er, doch das wusste Piri ohnehin.
„Du denkst an dort drüben, stimmt’s?“, traf der Hauer ins Schwarze.
„Ja“, gab Ayel zu.
„Erzähl noch was. Du bist schon eine Woche hier und hast noch fast nichts berichtet. Wie war es dort? Du sagtest, es wäre ganz anders als hier …“

Ayel liess sich Zeit und blinzelte erst einmal ausgiebig. Es war still um ihn geworden, die Gespräche verstummt. Gespannte Blicke lagen auf ihm und warteten auf Neuigkeiten. Ihr Interesse tat ihm gut, fühlte er sich dann nicht mehr wie der Niemand in der Industrie 3.

„Es ist viel kälter da“, begann er zögernd. Das allseitige Nicken bestätigte ihm, dass er das schon einmal erzählt haben musste. „Noch kälter als es hier im Winter in der Einöde ist. Dort musst du draussen vor dem Hangar pinkeln, denn wenn du es nicht tust, geht’s in die Hose, wenn du ins Warme kommst.“

„Jaaaah?“, versuchte Piri nach einiger Zeit, den gestoppten Ball wieder ins Rollen zu bringen. Ayel sah ihn fragend an.
„Ach komm schon“, lachte Torre an Piris Stelle ungläubig und knuffte seinen Vorgesetzten, „das kann’s doch nicht gewesen sein?! Du warst einen ganzen Monat an einem Ort, von dem wir nicht mal wussten, dass er existiert, und alles, was du zu erzählen weisst, ist, dass du dir beinahe in die Hose gemacht hättest!?“
„Ja, war halt so?!“
Ayels Protest ging in allgemeinem Lachen unter. Er grinste in sich hinein. Das Beste hatte er ihnen wirklich noch nicht erzählt.
„Eine Caitianerin hat mich geküsst!“, platzte er stolz heraus und mied angestrengt Livis' Blick.
Er streifte ihn kurz, als er von den anerkennenden Pfiffen ermuntert in die Runde schielte. Sie schien beeindruckt, was sein Ego gerade wohlig streichelte.
„Nicht nur eine“, doppelte er davon aufgepeitscht nach, „sondern achtzehn Stück!“
„Jetzt übertreib nicht“, forderte Javaid kopfschüttelnd.
„Kleiner Angeber“, nickte auch Tiro.
„Nein, ehrlich! Sie haben sich bei mir bedankt!“
Er setzte sich etwas bequemer auf die Matratze.
„Es war so: O’Malley und Selur haben mir erzählt, dass ich mein rotes Armband für tausend Kugeln verkaufen könne. Als ich zum Markt ging, um es zu verticken, hat mich eine Caitianerin angehauen. Mirka. Ich bin ihr zu ihrem Zellenblock gefolgt, dort waren noch mehr von ihrer Rasse. Zwanzig Stück. Achtzehn Frauen und zwei Männer. Die haben mich total angemaunzt und so, weil sie das Armband brauchten. Die hatten dort ein ziemlich mieses Leben, wenn ihr wisst, was ich meine. Ich wollte es ihnen erst nicht geben, weil ich ja Kazlaa bezahlen musste, aber … Irgendwie habe ich es nicht über mich gebracht, also hab ich es ihnen geschenkt. Sie wollten mir was dafür geben, aber ich konnte es nicht annehmen. Kazlaa hat mir dann die Kugeln in den Hunt geworfen, bevor er losgefahren ist. Naja, auf jeden Fall, als ich dort weg lief, haben mich ein paar miese Gestalten überfallen und wollten mir das Armband klauen. Ein Glück, dass ich es da schon nicht mehr hatte! Die Caitianer haben mich gerettet, bevor die mich tot prügeln und aufschneiden konnten. Weil sie mich ja nicht bezahlen durften, haben sie mich zum Dank halt geküsst.“

„Jaaaah?“, liess sich Piri, ein Glitzern in den Augen, erneut vernehmen.
„Das war’s?!“, unterstrich Ayel das Ende verwirrt.
„Details, Bruder. Details!“
„Das habe ich doch O’Malley schon erzählt …“, versuchte er sich zu drücken.
Heisse Verlegenheit kroch in ihm hoch. Bisher hatte diese Erfahrung nur ihm alleine gehört. Sie nun zu teilen, störte ihn etwas, wie er gerade bemerkte.
„Haben die wirklich Schnurrhaare?“, wollte Meral wissen.
„Ist das Fell weich oder kratzig?“, interessierte sich Arda.
„Können die im Dunkeln sehen?“, meldete sich Korid zu Wort.
„Haben die auch Fell an den Händen?“, liess sich Vek vernehmen.
„Mann, Leute?!“, rief Ayel beschämt und spürte deutlich, wie er die Farbe wechselte. Doch schnell wurde klar, dass man ihn nicht so leicht würde davon kommen lassen. Er seufzte tief. „Na schön: Ja! Sie sind total super flauschig. Ihr Körper, die Hände und alles. Die Nase ist kalt und feucht und schnurren können die auch! Und die Schnurrhaare … Oh Elemente, ich steh auf diese Schnurrhaare …!“

Seufzend und sich in vergangenen Bildern suhlend, liess er seinen Kopf nach Hinten gegen den Betonpfeiler fallen und schmachtete zur Decke hoch. Diese wunderbaren Schnurrhaare … Das Einzige, was jemals ein winzig kleiner Ersatz für Livis hatte sein können.

„Du Glückspilz“, bemitleidete sich Piri. „Irgendwie dachte ich immer, dass du von uns allen das schlimmste Los gezogen hast, doch irgendwie hast du auch immer das meiste Glück …!“ 
„Das nennt sich fairer Ausgleich“, belehrte ihn Ayel und bleckte die Zähne.
Auch Piri zeigte seine, wenn auch nur in einem aufrichtigen Lächeln. Ohne Vorwarnung fiel er Ayel um den Hals.
„Ich bin so froh, dass du wieder da bist, Bruder!“
Ayel hatte es diese Woche oft und von allen Seiten gehört, doch jedes einzelne Mal fühlte sich einfach toll an.
„Ich laufe nie wieder weg“, versprach er leise und gab die Umarmung zurück.

Um ein Haar wäre er nicht mehr zurückgekommen. Um mehrere Haare sogar. Beinahe wäre er erfroren, verhungert, erschlagen und aufgeschlitzt worden, und nur Stunden hatten ihn davon getrennt, an Entkräftung und gebrochenem Herzen zu sterben. Er wollte ihnen das nicht erzählen. Ayel glaubte selber nicht daran, dass er in seinem Leben je wieder so viel Glück haben würde. Scham und Stolz. Ab jetzt, nahm er sich vor, würde er wieder Hilfe suchen, unmännlich sein und schwach werden, wenn es sein musste. Nie wieder sollten seine Freunde um ihn bangen und sich sorgen! Piri und Komra assen zwar wieder, aber auch ihnen sah man es noch an, wie sie unter seiner Abwesenheit gelitten hatten. Er spürte es an der Kraft, mit welcher der Hauer ihn an sich presste, sah es in Komras Augen, die nun fast misstrauisch auf ihm ruhten.
Ayel schluckte und sah weg. Bestimmt hatte der Counselor längst erkannt, wie es in ihm aussah, hatte freien Blick auf seine Schuldgefühle. Sie schadeten ihm und das wusste Komra. Vermutlich hatte der bereits seinen nächsten Zusammenbruch vor Augen. Ayel seufzte in Piris Halsbeuge und sofort zogen sich die Arme um ihn noch fester zusammen. Noch immer liess sein bester Freund ihn nicht los und Ayel wünschte sich gerade, gleich hier und jetzt so einschlafen zu dürfen.

***

Die Warnlichter des baldigen Einschlusses blinkten schon, als überraschend Livis zu Ayel und Aurel in die Zelle kam und ihr Bettzeug auf den Boden warf.
„Ich soll hier schlafen“, informierte sie die Männer knapp und richtete sich ein.
Ayel schüttelte sich vor Glück und rückte von der Wand weg. Das war immer ihr Platz. So legte sich Aurel auf die Matratze von Livis, Ayel sich auf die von Aurel und sie selbst nahm die des Huthers. So hatten sie gleich alle was voneinander. Ayel liebte es, so zu schlafen. Ganz besonders das Aufwachen mochte er. Meistens hatte Livis dann ihre Arme um ihn gelegt und sich Aurel nah an seinen Körper gedrückt. Als Kind ein überzeugter Einzelgänger, der zwar der Klassenclown aber auch gerne alleine war, konnte sich Ayel jetzt nichts Schöneres mehr vorstellen.

„Erzähl mir von den Caitianern“, bat sie, als die Zellentüren sich geschlossen hatten und die Gruppe schlafbereit unter den Decken lag.
„Ich habe eigentlich alles gesagt“, meinte er langsam und dachte nach. „Sie nahm mich mit in ihren Zellenblock und fragte … Nein, warte, ich durfte sie streicheln! Das Fell ist total seidig und weich. Oh, und nur dass du es weisst: Sie haben mich auf die Stirn geküsst, nicht auf den Mund.“
„Schade“, liess sich Livis vernehmen, während Aurel nur die Braue hoch zog, „ich hätte es dir gegönnt.“

Ayel lächelte dankbar und bemerkte erfreut, dass ihre Finger seinen Arm zu streicheln begonnen hatten. Er lag still und rührte sich nicht, denn er war überzeugt, dass sie es unbewusst tat und aufhören würde, wenn sie es bemerkte. Auch Aurels Augen ruhten auf Livis’ Hand, doch seine Miene war nicht fröhlich. Ayel wandte den Blick von ihm ab. Der junge Lehrhauer trauerte noch immer um sein Mädchen, das ihm so plötzlich und unwiederbringlich entrissen worden war. Ihn konnte niemand über den Verlust hinweg trösten. Es gab Ayel einen Stich, als er kurz daran dachte, dass das vielleicht auch noch gar niemand versucht hatte …

Aurel zog die Hand zurück, als sein Gegenüber mit den Fingern unter die seinen fuhr. Dann kam er aber doch wieder und liess es zu, dass der Ältere seine Hand in seine nahm. Sie lächelten sich für eine Sekunde verlegen zu und senkten dann den Blick. Ayel konnte sich kaum vorstellen, wie alleine Aurel sich fühlen musste.

***

Tatsächlich wachte er in Livis Armen auf, die ihn fest von hinten umklammert hatten. Ayel seufzte glücklich. Auch Aurel war ziemlich nahe gerückt, so dass sich der mittlere Romulaner kaum mehr bewegen konnte. Es war ihm egal, er liebte es, so aufzuwachen. Es waren jene Morgen bei denen er sich wünschte, dass sie niemals zum Tag werden würden. Er schloss die Augen wieder und genoss es. Momente wie diese liessen ihn immer für kurze Zeit vergessen, dass er auf Rura Penthe war, einer Eishölle des Todes, wo es nur Hunger und Arbeit gab.
Doch auch Freundschaft. Er lächelte leise. Er hatte sich immer gewünscht, sein Leben im Kreis von Freunden zu verbringen. Tat er das nicht gerade? Lag er nicht jetzt bei seiner geliebten Livis, bei seinem Freund Aurel und würde nur kurze Zeit später wieder auf Piri, Torre und Komra treffen? Hatte er hier nicht alles, was er brauchte?

Er war bescheiden geworden, wie ihm jetzt auffiel. Früher hatte ihn der Ehrgeiz getrieben. Drei Studien hatte er abgeschlossen, war in Rekordzeit Bergmann geworden und Erster Offizier eines Raumschiffes. Besser, höher, mehr war sein Motto gewesen. Er brauchte das nicht mehr. Er war sogar froh, dass er die Verantwortung als Führungsperson nicht mehr hatte. Sie war ihm zu schwer geworden. Natürlich hatte er auch auf der Narada über Tod und Leben entschieden, doch da war auch noch Oren gewesen, der eine falsche Entscheidung frühzeitig erkannt und verhindert hätte. Die Urgesteine Melek und Sa’et, bei denen er sich Rat holen konnte, bevor sie zu bohren begannen. Seine jetzigen Entscheidungen hatten mit Bergbau nicht mehr viel zu tun. Nun musste er bestimmen, ob ein Fluchtversuch stattfand, ohne Markscheidung in den Berg fahren, über Leben entscheiden, ohne alle Fakten zu kennen. Noch immer glaubte er, dass er Vals Tod hätte verhindern können. Oder Geallhs, der erfroren war, weil sie nur nach sich selber geschaut hatten. Anwar, der sich das Leben genommen, weil er sich selbst in der Gruppe zu einsam gefühlt hatte. Selimon. Sein lieber Selimon. Hätte er sich doch nur zu ihm gelegt, um ihn wie Piri zu wärmen …
Er spürte, wie Livis hinter ihm erwachte, und war dankbar um die Ablenkung. Er schlängelte seine Hand zwischen seiner Brust und Aurels Rücken bis zu ihren Fingern vor und drückte diese sanft. Sein Mund zuckte, als sie ihm müde in den Nacken seufzte.

„Livis?“
„Hm?“
„Warum redest du nicht mehr mit Komra?“
Der Seufzer, der seinen Nacken jetzt traf, war um einiges tiefer.
„Er ist ein Idiot“, meinte sie hörbar bitter.
„Er meint es nur gut mit mir“, verteidigte ihn Ayel vorsichtig.
„Ja“, schnaubte sie, „aber mit mir nicht! Nimm es nicht persönlich, Krümel, aber ich bin nun mal nicht bereit, mich für dich zu opfern.“

„Versteh ich“, nickte Ayel. „Will ich auch nicht. Aber könntet ihr nicht trotzdem wieder miteinander reden?“
„Hast du die Blicke gesehen, die er mir zuwirft? Er tut gerade so, als wäre ich eine Gefahr für dich … Solange sich das nicht ändert, kann er mir gestohlen bleiben!“

„Soll ich mit ihm reden?“, bot Ayel bedrückt an.
„Viel Glück“, meinte sie nur.

So vorsichtig wie möglich kämpfte er sich in dieser Körperlasagne auf die andere Seite. Er wollte Aurel nicht wecken, denn was er jetzt vorhatte, würde den ohnehin nur quälen. Ein kurzer Blick in Livis Augen offenbarte ihm, dass er es nicht wagen solle, auch nur an einen Kuss zu denken. Also beschränkte er sich darauf, sich so gut es der Platz zuliess, einzurollen und an sie zu schmiegen. Ihr Seufzer verriet ihm, dass er gerade auf sehr schmalem Grat wanderte. Er wertschätzte ihre Privatsphäre sehr, doch jetzt, nach einem Monat beinahe tödlichem Liebeskummer, brauchte und wollte er sie nah bei sich wissen. Sie schien sein Motiv zu erahnen, denn sie liess es zu. Halb ohnmächtig vor Glück und Duft dämmerte er weg.

***

Ein Zucken ging durch die Gruppe, als der Weckruf sie an ihre Pflicht erinnerte. Knurrend und enttäuscht drückte sich Ayel enger an Livis, als würde sein stummer Protest tatsächlich bewirken, dass er den ganzen Tag bei ihr liegen bleiben dürfte. Er hörte, wie Aurel sich nach ihnen umdrehte und nach einem knappen Morgengruss auffällig schnell verschwand. Ayel seufzte, er wusste, was los war. Schneller, als die überraschte Frau reagieren konnte, drückte er ihr einen Kuss auf die Stirn und floh aus den Decken. Ihre Hand verfehlte nur um Millimeter seinen davoneilenden Fuss.

Er fand Aurel in dessen Zelle. Er erleichterte sich gerade.
„Normalerweise pinkelst du immer bei mir“, begann der Huther etwas unbeholfen das Gespräch. Sowas lag Komra und Piri einfach viel besser, wie er fand.
„Wollte euch nicht stören“, erklärte der Jüngere knapp und ohne sich nach ihm umzudrehen.

„Das ist aber nicht alles, oder?“
Aurel schwieg dazu, bis er fertig und wieder bekleidet war. Als er sich nach seinem Gesprächspartner umdrehte, hielt er den Kopf auffallend gesenkt. Ayel entging das Glitzern in dessen Augen trotzdem nicht.
„Hey, heulst du?“ Aurel schüttelte nur den Kopf und drehte sich weg. „Komm schon! Was ist los?“

Ayel wusste, was los war. Er und Livis waren der Grund; der junge Lehrhauer ertrug den Anblick nicht. Selber seit Jahren ohne Partnerin wurde Aurel dann jedes Mal bewusst, wie einsam er sich eigentlich fühlte. Die Brüder waren ein würdiger Ersatz für Familie und verlorene Freunde, aber eine Gefährtin ersetzten sie nicht. Er hatte sich Ayel dafür ausgesucht, doch wenn Livis da war, wurde er nur schmerzhaft zur zweiten Wahl. Ayel wusste genau, wie sich das anfühlte. Sein Zellenpartner wich ihm aus, als er einen Schritt auf den Lehrhauer zu machte. Der versuchte, an ihm vorbei zu fliehen.

„Komm schon, es tut mir leid“, versuchte Ayel ihn zu trösten und fing ihn ab. „Es tut mir leid! Aber ich kann es doch auch nicht ändern …“
Aurel gab sich der Umarmung hin und verlor die Fassung. Auch Ayel vergrub seine Nase an der Schulter seines Gegenübers. Am liebsten hätte er mit geweint, er fühlte sich elend und hilflos. Was sollte er tun? Livis den Zugang zu seiner Zelle verweigern? Oder Aurel, wenn sie da war? Würde sein Freund sich besser fühlen, wenn er einsam in seiner Zelle lag und wusste, wie Ayel gerade schlafen durfte? Die plötzliche Angst packte ihn, sein lieber Aurel könnte ebenfalls an seinem Schmerz zerbrechen und wie Anwar enden … Es schüttelte ihn bei dem Gedanken daran.

„Ich könnte mehr Zeit mit dir verbringen“, bot er darum dem Weinenden an. „Würde dir das helfen?“ Aurel nickte und grub seine Finger in den Rücken von Ayels Pullover. „Okay. Dann … Sagst du Bescheid, wenn du … Ja?“ Nicken. „Okay.“
Der Huther seufzte leise. Könnte er doch nur so trösten wie Piri oder so einfühlsam Hoffnung spenden wie Komra. Er fühlte, dass er Aurel nicht wirklich hatte helfen können. Er hatte ihm nur das Versprechen abgenommen, zu ihm zu kommen, wenn er das Bedürfnis hatte. Das tat der doch längst. 
„Zieh bei mir ein“, bot er darum spontan aber von Herzen an. „Ehrlich: Zieh bei mir ein!“
Aurels Finger öffneten sich, fassten mehr Stoff und schlossen sich wieder. Er nickte und Ayel glaubte, deutlich den Dank herausfühlen zu können. Wenigstens etwas hatte er richtig gemacht.

Sie wurden bald entdeckt. Boknar, der Anwar verloren hatte, war der Erste, der sich von hinten an Aurel drückte und ihm ebenfalls bei stand. Man fragte längst nicht mehr, worum es ging. Sie weinten hier ohnehin alle aus denselben zwei Gründen. Trauer und Verzweiflung. Bald hatte sich eine Traube um die Drei gebildet und spendete Trost. Ayel war froh um die Unterstützung und auch Aurel beruhigte sich bald.

*** 

Tatsächlich warfen sich Livis und der Arzt nur einen ziemlich frostigen Blick zu, als sie sich im Flur begegneten. Es schnitt dem sensiblen Huther ins Herz. Erst Aurel und jetzt war schon wieder er der Grund, warum zwei seiner engsten Freunde nicht glücklich waren. Er senkte den Kopf und seufzte. Lange, so war er überzeugt, würde er dieser Belastung nicht mehr Stand halten. Ein schmerzhaftes Zupfen am Ohr liess ihn herum fahren. Livis funkelte ihn grimmig an.

„Au?! Warum- …“
„Du weisst genau, warum!“ Ayels Gesicht verzog sich wissend zu einem Grinsen, das ihn zuverlässig für alle Anwesenden als erwischten Lausbub identifizierte. Natürlich wusste er, warum sie es getan hatte. „Mach das noch mal und dann …“
„Okay?“, ging er sofort darauf ein, „Dann mach ich es noch mal! AU?!“
„Du weisst ganz genau, was ich meine!“
Sein spitzbübisches Grinsen wuchs markant in die Breite, während er sich den gezupften Lauscher rieb. Und ob er es noch einmal tun würde …! Sie zischte wissend und schüttelte den Kopf.

Nur Komra schien an der Neckerei keine Freude zu haben. Seine Miene war ernst und der Mund verkniffen, als er den Blick von ihnen ab und dem Wärter zu wandte, der im Zellenblock erschien um sie zur Arbeit zu rufen. Ayel war sich sicher, dass der Counselor schon wieder seinen nächsten psychischen Zusammenbruch vor Augen hatte.

Als sich nach der Gruppenzuteilung die Mannschaft in Bewegung setzte, drückte sich Ayel unbemerkt von Komra in die Masse und verschwand in ihr. Er suchte Piri und erstickte dessen fragenden Blick mit einem Kopfschütteln. Der Hauer verstand, deckte ihn mit seinem breiten Körper vor Komras Blick und schob ihn ungesehen vor sich her, bis sich in der grossen Kaverne die Wege der Gruppen trennten. Dankbar atmete er auf und lief jetzt offen neben Piri her. Der griff bald nach seiner Hand, deren knochige Finger sich noch so gerne mit Piris warmen, kräftigen verschränkten.  

Er bewunderte die feinfühligen Antennen seines besten Freundes. Der erspürte immer und überall, wenn es jemandem nicht gut ging. Wie bei Oren früher schienen auch sie beide immer häufiger ohne Worte auszukommen. Stumm liefen sie nebeneinander in der Gruppe mit und stiegen die vom Frost glitzernden Treppen zur Oberfläche hoch. Überall Frost, schoss es Ayel durch den Kopf. Draussen, auf der Treppe, zwischen Livis und Komra. Piris Finger griffen etwas fester zu, als Ayels dürrer Körper im ersten Windstoss erbebte. Als ihn der fragend vorwurfsvolle Blick des Hauers traf, senkte er nur den Kopf. Natürlich war es ein Fehler gewesen, hierher zu kommen, doch er musste mit jemandem reden. Piri schien ihm dafür die beste Wahl.

Doch kaum am Arbeitsplatz, zog jemand von hinten an seiner Schulter und trennte ihre Hände.
„Also doch“, knurrte Komra ungläubig. „Was machst du hier?! Du hast ein Arbeitsverbot, bei den Elementen!“
„Ich wollte nicht alleine sein“, erklärte Ayel wenig hoffnungsvoll.
Komra seufzte tief.
„Schatz, dann bitte jemand, bei dir zu bleiben. Das Treppensteigen und die Kälte hier oben zehren viel zu viel Energie. Du bist untergewichtig, pass bitte auf dich auf!“
Ayel blinzelte schuldbewusst und nickte leicht. Jetzt war er es wieder, der anderen Kummer bereitete. Ausserdem hatte der Arzt ihn erneut mit Schatz angesprochen, eine Anrede, die er nur in tiefster Sorge verwendete.
„Ich muss mit jemandem reden …“, versuchte er eine Erklärung für sein törichtes Handeln abzuliefern.
„Und das geht nicht auch in der Zelle?“, zweifelte der Counselor.
„Ich … ich musste dort raus.“
„Es ist zur Zeit der wärmste Ort der ganzen Industrie, du gehst sofort in den Zellenblock zurück!“
„Bei den Schmelzöfen- …“
„Auf keinen Fall!“, unterbrach ihn der Arzt fast bellend. „Dein Wärmehaushalt ist durch dein Untergewicht gestört, du könntest an einem Hitzschlag sterben! Bei den Elementen, ist nur noch Haut und Knochen und treibt sich hier oben in der Kälte rum …“

Darauf erwiderte Ayel nichts mehr. Er suchte mit Blicken bei Piri Beistand, denn der Hauer sah viel eher verständnis-statt vorwurfsvoll in seine Richtung. Als ein Wärter auf die kleine Gruppe aufmerksam wurde, gerieten sie unter Zeitdruck.
 
„Kommst du mit?“, bat er darum Komra.
Der Arzt zögerte kurz. Er schien zu ahnen, dass es um Livis gehen würde. 
„Na schön“, nickte er dann zustimmend, „aber ich trage dich nach unten! Deine Lippen werden schon braun.“
Ayel gab nach, drückte zum Abschied seine Stirn auf die von Piri und liess sich zum Zellenblock zurück bringen.

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