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Zwei Hände voll

von MaLi

Sommer

2361, Romulus, Iuruth

Die Sommersonne stand hoch im Zenit über Iuruth, einer der ärmsten Städte von Romulus. Sie schien warm, doch nicht heiss, auf das Flachdach des Waisenhauses, eines der wenigen Gebäude der Stadt, das zwar nach romulanischer Architektur, aber noch aus Ziegeln erbaut worden war. Arm an Ressourcen und Geld, dafür reich an Leben und Kindern, war die Gegend doch ein Ort, wo man gerne seine Zeit verbrachte. Ganz besonders an diesem schönen, abgelegenen Platz, wo von Wäldern, Wiesen und einem Fluss umgeben, eben jenes Waisenhaus stand. Wer hier landete, hatte nichts mehr, was sich auch auf das Gehalt der Angestellten nieder schlug. Nichts desto Trotz bezeichneten sich die Betreuer als glücklich und zufrieden und sagten aus, sie wären gerne hier. Das galt auch für die Jungen und Mädchen, die vom Mittagessen gestärkt, jetzt in kurzen Hosen und mit Badetüchern bewaffnet, die Eingangstreppe hinunter polterten. Ihr Ziel war der Fluss, der nur gut hundert Meter entfernt vorbei floss.

„Panya, warte!“
Ein Mädchen mit zwei langen, schwarzen Zöpfen blieb stehen und wandte sich nach dem Rufer um. Ein Junge, sechs Jahre alt, zog einen kleineren hinter sich her und streckte die andere Hand in ihre Richtung.
„Beeilt euch, Ayel, wir werden schon wieder die Letzten sein …“
„Aber ich muss doch auf Nawin warten“, entschuldigte sich der Wuschelkopf und zog am Vierjährigen.
„Ich bin so schnell ich kann“, versicherte der und verlor das Badetuch.
Ayel stoppte seinen Lauf und hob es auf.
„Schau, wenn du es SO hältst, dann fällt es nicht mehr runter. Aber dann musst du meine Hand los lassen.“
Nawin überlegte nicht lange, knüllte das Tuch und dessen Inhalt wieder zu einem unregelmässigen Ball zusammen und klemmte jenen unter sein, dafür zu kleines, Ärmchen.
„Ich nehme deine Hand“, entschied er treuherzig und ergriff jene wieder.
„Dann wirst du das Tuch aber wieder verlieren“, unkte Ayel, was Nawin nicht zu beeindrucken schien.
„Du wartest schon auf mich“, meinte er im Brustton der Überzeugung. „Du wartest immer!“

Während Ayel noch abwog, ob er sich über diese gelebte Treue freuen oder das bewusst riskierte Trödeln ärgern sollte, griff das Mädchen nach dem Tuchball und nahm ihn an sich. Nawin ergriff glücklich Ayels Hand, jener nahm die von Panya und so kamen sie zwar zufrieden, aber wirklich als Letzte beim Fluss an. Sogar zwei der Betreuer, der grosse Narumek und die beliebte D’Aruni waren schon da.

„Nang, Tomek, K’Amon“, rief der Betreuer den ältesten drei Kindern mahnend zu, „nur bis zur Hüfte ins Wasser, ja? Ihr habt gerade gegessen, es ist zu gefährlich, jetzt schon zu schwimmen …“
„Warum darf man nicht schwimmen, wenn man gegessen hat?“, wollte Ayel von Panya wissen und breitete sein Badetuch so aus, dass der kleine Hügel in der Landschaft ihm gleich als Kopfkissen dienen würde.
„Machst du mir meines auch lang?“, bat ihn Nawin, da der Kleine nicht verstand, dass es nicht funktionieren konnte, wenn er gleichzeitig auf dem Tuch stand und daran zog.
„Das weiss ich auch nicht“, schüttelte die Neunjährige den Kopf, trat zu Nawin und trug ihn vom Badetuch, damit Ayel jenes ausbreiten konnte.
„Danke“, piepste der Kleine und setzte sich glücklich auf seinen vorbereiteten Platz.
„Ich weiss nur“, fuhr Panya fort, „dass man dann stirbt!“
Ayel erstarrte ob diesen Worten. 
„Man stirbt!?“, brachte er erschrocken heraus.

Während Panya ernsthaft nickte, wurde D’Aruni auf das Trio aufmerksam. 

„Löst man sich dann auf?“, begann sich Nawin zu fürchten und kroch bis zu den Augen in sein T-Shirt. „Wie die rosa Sprudler im Glas?“
„Aber nein“, beruhigte ihn die Betreuerin und trat hinzu. „Wenn du gegessen hast, ist dein Bauch so voller Arbeit, dass er keine Kraft mehr für die Arme hat. Wenn du dann schwimmst, wirst du ganz schnell müde und dann wird es gefährlich.“
„Aber man DARF ins Wasser, wenn man gegessen hat?“, fragte Ayel sicherheitshalber noch einmal nach, bevor er sich aus der kurzen Hose schälte, wo darunter dann die Badehose zum Vorschein kam. 
„Das darf man“, nickte sie bestätigend. „Aber nur so weit, dass man noch gut stehen kann und nicht schwimmen muss.“
„In meinem Bauch ist noch ganz viel Arbeit drin“, befand Nawin nach dem Befühlen.
„Dann mach besser noch Pause“, riet die Betreuerin mit den kurzen Haaren. „Ihr könntet am Ufer entlang gehen, da hat es schöne Steine.“
„Ich weiss“, nickte Ayel altklug, „die haben wir dahin gelegt!“
„Na dann?“, schmunzelte sie und wandte sich hilfsbereit einer anderen Gruppe zu.

Nicht weit von den Dreien entfernt, wurde um ein besonders schattiges stück Wiese gestritten. Auch Betreuer Narumek war schon auf dem Weg dorthin.

„Das ist mein Platz, du doofes Neihaan!“, fauchte K’Amon seine jüngere Schwester K’Amra an und trat ihr Badetuch mit dem Fuss zur Seite. 
Sofort stellte sich Araya schützend vor ihre Freundin.
„K’Amon, du gemeiner Thrai, man beschimpft Leute nicht mit Tiernamen!“, schimpfte sie und ahmte das Tier unbewusst mit den Armen nach. 
„Aber wenn es doch stimmt?!“

„Hey, hey, hey“, mischte sich Narumek freundlich ein, „es hat hier Platz genug für alle! Und die Sachen von anderen werden in Ruhe gelassen. Sie mit Füssen zu treten ist weder respektvoll noch anständig. Ausserdem, K’Amon: Wenn K’Amra ein Neihaan ist, wärst du auch eines. Ihr kommt ja von denselben Eltern. Und Araya: Auch Thrai ist ein Tiername!“
Araya feixte am Betreuer vorbei zu dem Elfjährigen und bekam eine Grimasse zurück.
„Wer kommt ins Wasser?“, löste eine fröhliche Meryel unvermittelt die Grummelrunde auf und sprang voraus.
Nicht wenige folgten ihr.

 

***

Die Kinder verbrachten den Nachmittag so, wie man eigentlich gerne jeden Sommertag verbringen wollte: Im warmen Gras liegend, im kühlen Wasser planschend und den Vögeln lauschend, die mutig genug waren, auf dem Baum über den Köpfen der lärmenden Gesellschaft zu thronen. Ayel lag auf seinem Badetuch im Gras zwischen Panya und Nawin und liess sich die Sonne auf den Bauch scheinen. Wie ein warmer Film aus Zufriedenheit und Glück, lag ihr Glanz auf seinem Körper, erfüllte ihn mit eben jenen Gefühlen und beschied ihm die Bestimmtheit, gerade der glücklichste Junge auf Romulus zu sein. Er öffnete die Augen und blickte auf seine Nachbarn herab, die wegen seines, durch das Hügelchen aufgestützten Oberkörpers, ein paar Zentimeter tiefer lagen. Der kleine Nawin schlief, wie er erkennen konnte, Panya hingegen war wach und beobachtete Schmetterlinge, die einander über die Wiese nach jagten. Ayel hatte nur einen schnellen Blick für die Sommervögel übrig, sein Hauptaugenmerk galt dem Mädchen neben ihm.
Panya war schon da gewesen, als er vor zwei Jahren ins Waisenhaus kam. Er hatte Eltern und Geschwister bei einem Unfall verloren, den er, dank Kindersitz, als Einziger überlebt hatte. Wie einst seine eigene grosse Schwester, hatte das damals 7 jährige Mädchen, sich seiner sofort angenommen. Es war ihr Trost gewesen, der ihn hatte heilen lassen, und nun war es ihre Freundschaft, die ihn glücklich hielt.
Ob sie seine Blicke nicht bemerkte oder ignorierte, war ihm egal, er genoss es, sie so ungestört betrachten zu können. Sie sei seine Freundin, witzelten die älteren Kinder längst, was sowohl er als auch Panya sofort abstritten. Seine Freundin, wie eklig! Das war doch Grossen-Kram und hatte überhaupt nichts mit ihm zu tun! Eine Freundin musste man doch auch küssen, oder? Das wollte er auf keinen Fall! Er liebte es, wann immer möglich ihre Hand zu halten, aber das bedeutete doch noch lange nicht, dass sie gleich seine Freundin war.

„Panya“, sprach er sie leise an, damit die älteren Kinder nichts mitbekamen, „wir sind doch nur Freunde, oder?“
„Ja“, nickte sie ernsthaft, „nur Freunde.“
„Aber du bist nicht meine Freundin!“
„Auf keinen Fall!“
„Gut.“

Damit zufrieden, ein ganz normaler Junge ohne Freundin zu sein, drehte er sich auf den Bauch und begann, mit den Grashalmen zu spielen, die am Kopfende seines Badetuches wuchsen. Ayel liebte den Sommer. Da konnte er barfuss auf Bäume klettern, die raue Rinde unter den nackten Fusssohlen spüren und Obst essen, so viel er wollte. Er liebte es, Schmetterlinge zu jagen oder kleine Echsen unter den Steinen hervor zu locken. Er mochte den Geruch von Gras, besonders, wenn es frisch geschnitten war. Er zupfte einen der Halme aus und roch daran. Dieser herbe, bittere Geruch gefiel ihm. Überhaupt, fand er, hielt der Sommer die besten Düfte für ihn bereit. Gemähtes Gras, trockenes Heu, im Spätsommer das viele Obst, das so gut roch, wenn es angebissen war, die Limonade, die es nur im Sommer gab, der algene Geruch des Flusses, Sonnencreme und der herbe Duft der Felder, der aus der Nachbarprovinz iRamnau herüber wehte.

Nawin neben ihm seufzte tief im Schlaf und drehte sich auf die Seite. Er würde bestimmt noch eine Weile weiter schlafen, war Ayel überzeugt und fand das eine gute Gelegenheit, um wieder im Fluss zu baden. Er liebte den kleinen Nawin wie einen Bruder und genoss es, dass jener so vertrauensvoll an ihm klebte, doch ab und zu war er auch ganz froh, wenn er jenen nicht ständig beaufsichtigen musste.

„Ich geh zum Fluss, kommst du mit?“, sprach er Panya an, welche zusagte und mit kam.
Während das Mädchen zur tiefen Stelle stakste um zu schwimmen, watete der Junge am Ufer entlang und hielt nach neuen Schätzen Ausschau, die seine Sammlung ergänzen sollten.
„Ich liebe Steine“, murmelte Ayel begeistert und mehr zu sich selbst, während er einen besonders schönen, marmorierten Roten in den Händen drehte.
„Steine sind doch langweilig“, befand Tomek und hob einen grossen Brocken aus dem Wasser. „Die sind schwer, grau und zu nicht viel nütze.“
„Steine sind überhaupt nicht langweilig“, verteidigte Ayel die stummen Zeitzeugen und hielt ihm das bunte Stück unter die Nase. „Wenn ich gross bin, will ich mit Steinen arbeiten! Ich will Steinologe werden oder sowas …“ 
„Zeig mal her was du da hast“, interessierte sich Narumek für seinen Fund und stakste durch das Wasser auf ihn zu. Ayel überreichte ihm den Stein und wartete gespannt auf die Offenbarung möglicher, magischer Kräfte. „Oh, das ist- …“, erkannte der Betreuer, „Weisst du, was das ist? Das nennt sich Bändereisenerz!“
Der Stein machte seinem Namen alle Ehre, denn tatsächlich zogen sich rote und blaugraue Streifen über das Stück Fels.
„Wie hat der sich denn so bunt gemacht?“, wollte der Junge wissen und stellte sich einen Maler vor, der am Fluss lebte und den lieben langen Tag die grauen Steine bemalte.
„Das ist wegen- … Als der Planet noch sehr jung war, vor vielen Millionen Jahren, da haben unterirdische Vulkane unter Anderem Eisen in die Meere abgegeben. Dort ist das Eisen dann verrostet und hat sich Schicht für Schicht auf dem Boden abgesetzt. Je nach Zusammensetzung der Schicht, hat sich dann auch die Farbe geändert. Das heisst, ob noch viele andere Minerale darin vermischt sind oder wie viel und welche Art Sauerstoff bei der Korrosion eine Rolle gespielt hat. Darum haben viele Steine bunte Farben, denn es sind die Stoffe, die darin sind, die ihnen das Aussehen geben.“

Ayels Augen glitzerten jetzt wie die Sonnenstrahlen, die sich rund um ihn auf den Wellen brachen.

„So was will ich auch wissen! Ich will ALLES über Steine wissen. Kann man das lernen? Steinologie?“

„Wenn du alles über Steine wissen willst“, nickte der Betreuer und gab ihm das Stück zurück, „dann empfehle ich dir das Studium der Geologie! Am Besten die Astrogeologie, denn auf anderen Planeten gibt es sogar Elemente und Steine, die du auf Romulus nicht finden kannst …“ 
„Ja“, nickte Ayel begeistert, „das will ich. Das will ich werden. Ich werde ein Astrosteinologist sein, der BESTE im ganzen Universum!“

Lachend blickte Narumek dem Aufgekratzten nach, der jetzt so schnell er konnte hinüber zu Panya stakste, um ihr zu erklären, wie das Bändereisenerz entstanden war. Natürlich verstand die Neunjährige nicht viel von seiner Erklärung, was auch damit zusammenhängen mochte, dass er das Gehörte nicht mehr ganz vollständig und in der richtigen Reihenfolge wiedergeben konnte. 

„Wooow, das ist toll!“, freute sie sich trotzdem mit ihm, während Ayel seinen besonderen Fund ins Münztäschchen der Badehose steckte. „Wir bauen einen Staudamm, willst du mit machen?“
„Klar!“
Begeistert half er mit, grosse Steine zu suchen und zum Damm zu tragen, der, dank der vielen Hände, schnell zu einer beachtlichen Grösse anwuchs.
„Ayel, hilf mir bitte“, rief Panya ihn herbei, „der hier ist ganz schön schwer!“
„Klar!“

Er liess seinen eigenen Stein zurück ins Wasser platschen und watete auf sie zu, doch kurz bevor er das Mädchen erreicht hatte, kreischte es auf, schüttelte etwas grosses, Türkisfarbenes von ihrem Arm und begann zu schreien. Noch bevor Narumek es aussprach, wusste Ayel, was das gewesen war: Jenes Tier, vor dem man ihn immer gewarnt hatte. Jenes, das sehr selten, aber genau so giftig war und das er nie berühren solle, sollte er einem davon begegnen. Jenes, das hier eigentlich gar nicht leben dürfte.

„Eine Schnappkrabbe!“, rief der Betreuer entsetzt. „RAUS aus dem Wasser, Kinder!“ Panik brach aus und die Kinder wateten gehetzt ans Ufer, während der grosse Romulaner das Mädchen auf die Arme hob und an Land brachte. „D’Aruni, bring die Kinder nach Hause. Sie muss sofort ins Krankenhaus!“
„Panya! Panya!“ Ayel rannte dem Betreuer hinterher, der mit dem schreienden Kind zum Parkplatz eilte. „PANYA!“
„Ayel, du kannst nicht mitkommen“, erklärte Narumek und legte das Mädchen ins Shuttle.
„Aber ich muss! Panya!“
„Bitte geh von der Tür weg!“
„Nein! Panya!“
„Geh von der Tür weg, Ayel!“
„Nein, ich will mit! Panya!“
„Nimm die Hand aus der Tür!“
„PANYA!“

Zwei Arme schlossen sich von Hinten um ihn und zogen ihn vom Shuttle weg. Ein Finger nach dem anderen löste sich vom Türrahmen, bis er ihn schliesslich los liess. Die Betreuerin Sarinel kauerte hinter ihm und hielt ihn fest, während Ayel nur noch zusehen konnte, wie die Tür sich schloss und das Shuttle mit seiner besten Freundin darin abhob.

„Panya …“

***

Ayel glaubte, das Warten auf Nachricht nicht überleben zu können. Man hatte keine Zeit für ihn, denn Sarinel tröstete die aufgelöste Ael, T’Nam hatte mit K’Amra, Araya und Meryel gleich drei Kinder zu betreuen und D’Aruni wiegte den verstörten Nawin auf den Armen. Die Kinder wussten nicht, was los war und reagierten verstört und ängstlich. Also tigerte der Junge rast -und ruhelos durch den Flur, kämpfte mit Wut und Tränen und fühlte sich gleichzeitig so leer und hilflos, dass er glaubte, eigentlich gerade überhaupt nichts zu fühlen.
Er brachte kaum das Abendessen runter, das zwar wieder ausgesprochen lecker war, er es aber eher aus Pflichtgefühl seinem Körper gegenüber in sich rein schaufelte. Während sich seine Freunde langsam beruhigten, tigerte er nach dem Essen wieder ruhelos durch den Flur. Anders als die Anderen, brachte er es nicht fertig, sich mit Büchern oder Spielzeug zu beschäftigen. Er stiess einen heiseren Schrei aus, als endlich nach Stunden die Tür aufging und Narumek mit Panya herein kam. Sofort wurde das Mädchen von ihren Freunden umringt.

„Und?“, schossen auch die Betreuer gleich auf die Gruppe zu.
Narumek schüttelte nur leise den Kopf. Er sah müde aus. Auch Panyas Augen glänzten seltsam. Sie musste unter Schmerzmitteln stehen. 
„Wird sie sterben?“, fragte D’Aruni leise obwohl sie die Antwort längst kannte.
Kaum jemand überlebte den Biss einer Schnappkrabbe. Stand sofort ein Antidot zur Verfügung, konnte der Verletzte noch gerettet werden, aber in Panyas Fall waren wertvolle Minuten auf dem Weg ins Krankenhaus verloren gegangen. 
„Ja. In etwa fünf Tagen. Es war zu spät. Ihre DNA denaturiert bereits.“
„Was ist sterben?“, verhinderte die kleine Ael unabsichtlich eine aufkommende Trauer.
„Ist das schlimm?“, piepste auch Nawin verschreckt.
„Meine Eltern sind auch gestorben“, erklärte Ayel beunruhigt, „Da geht man weg und kommt nicht mehr zurück. Nie mehr!“
„Also, ist das sowas wie umziehen?“, wollte Nawin, jetzt etwas weniger verschüchtert, wissen.
„Cooler Verband!“, kommentierte Tomek hingegen eher unbeteiligt ihren Arm.
„In meiner Lieblingsfarbe“, nickte Panya und präsentierte die gelbe Verpackung mit Stolz und Leiden zugleich im Blick.
„Was ist denn jetzt Sterben?“, griff dafür Araya das Thema wieder auf.
„Sterben heisst“, erklärte Sarinel, „dass sich dein Katra aus deinem Körper löst und zu deinen Ahnen geht.“

„Was sind Ahnen?“, wollte Nawin wissen.
„Deine Ahnen sind deine Vorfahren. Mama und Papa und Opa und Oma und alle davor.“
„Also, dann zieht Panya um? Zu ihrer Familie?“
„Genau.“
„Wo wohnen die denn?“, interessierte sich der Vierjährige.
„Das weiss niemand“, erklärte die Betreuerin. „Das ist ein Geheimnis, bis man dort ist.“
„Gibt es denn gar keine Medizin dagegen?“, suchte Ayel nach einem Fluchtweg.
Er wollte nicht, dass auch seine liebste Freundin jetzt ins Land der Gestorbenen zog. Panya schüttelte traurig ihre schwarzen Zöpfe.
„Der Doktor sagte, dass dabei die Bauklötze in meinem Körper kaputt gehen. Das kann man nicht mehr flicken.“
„Du kannst von meinen haben!“, bot Ayel gleich grosszügig an. „Ich schenke sie dir, sobald ich weiss, wie ich sie da raus bekomme …“ Etwas ratlos hob er sein T-Shirt an und betrachtete nachdenklich seinen Bauch. „Schade, dass nur Mamas Türen im Bauch haben.“
„Mamas haben Türen im Bauch?“, fragte Ael verblüfft und Ayel nickte ernsthaft.
„Ja, da kommen die Babies raus!“
„Nein“, widersprach K’Amna, „der grosse Tomek sagt, die werden einfach raus gebeamt!“
„Und wie sollen sie da rein kommen, wenn es keine Tür gibt?“, warf Ayel altklug ein.
„Na, rein beamen, du Dummkopf!“
„Kinder, bitte“, unterbrach Narumek das aufkeimende Streitgespräch. „Es gibt jetzt Wichtigeres zu besprechen. Warum geht ihr nicht ins Bett, es ist schon spät.“
„Aber es ist noch nicht spät“, warf K’Amon ein. „Es ist erst- …“ Ein Blick in Narumeks Augen liess ihn verstummen. „Kommt“, sagte der Junge darauf zu den Kindern, „wir gehen Zähneputzen!“

Gehorsam folgten die Kinder dem Elfjährigen und nur Ayel blieb zurück. Er konnte sich noch nicht von Panya trennen, zu fest hatte er den ganzen Nachmittag um sie gebangt. Narumek ging vor dem Mädchen in die Knie und nahm ihre Hände.

„Panya, das ist jetzt kein leichter Moment für dich, aber Leute wie du … also, die bald … die haben einen letzten Wunsch frei. Wir haben nicht viel Zeit und du musst dich bald entscheiden.“
„Ich kann mir wünschen, was ich will?“, fragte sie unsicher nach.
„Ja.“
„Egal was?“
„Egal was. Wir werden versuchen, ihn so gut es geht zu erfüllen!“
Sie blinzelte lange.
„Ich will noch mal Geburtstag feiern!“, entschied sie sich.
„Das können wir machen“, nickte der Betreuer. „Wann möchtest du feiern? Morgen schon oder übermorgen?“
„Nein, dann, wenn er wirklich ist. Ich will meinen richtigen Geburtstag feiern!“
„So viel Zeit haben wir nicht. Dann musst du dir etwas Anderes ausdenken, Liebes.“
„Ich möchte aber 10 Jahre alt sein, wenn ich sterbe!“
„Das werden wir nicht schaffen, Schatz. Aber ist 9 nicht auch ein schönes Alter?“
„Ich möchte aber beide Hände voll haben“, erklärte Panya weinerlich. „Ich bin nicht fertig, wenn da noch ein Finger fehlt!“
„Und du möchtest wirklich nicht vorher feiern? Wir haben kein Jahr mehr Zeit …“
„Nein, es muss richtig sein“, liess sie sich nicht beirren.
Narumek blickte hilflos zu seinen Kollegen und stand auf.
„Ich … Wir werden das besprechen, Panya, versprochen. Aber denk dir zur Sicherheit auf morgen noch etwas anderes aus, ja? Wir besprechen das beim Frühstück.“
„Okay“, willigte sie ein. „Komm, Ayel!“

Ayel griff nach ihrer Hand und spürte sofort diese Wärme und den Schutz, die ihn immer überkamen, wenn er seine Finger um die ihren schloss. Er liebte diese Hand so sehr.

***

Er fand keinen Schlaf. Voller banger Angst um die Zukunft lag er im Bett und schaffte es nicht einmal, sich von einer Seite zur anderen zu rollen. Es musste doch einen Weg geben, ihr diesen letzten Wunsch zu erfüllen. Das konnte nicht sein, das DURFTE nicht sein, dass sie unglücklich von ihm weggehen würde! Entschlossen schlug er die Decke zurück und wurde von angenehm kühler Luft überrascht. Der Sommerabend war viel zu warm für eine Decke, doch er hatte die kuschelige Wärme für sein banges Herz gebraucht. Leise schlich er er sich aus dem Jungenschlafsaal und tapste durch den Flur zum Esszimmer, wo er die Betreuer hören konnte. 

„Ich glaube, sie hat noch gar nicht richtig begriffen, was mit ihr geschehen wird“, hörte er Sarinel sagen.
„Ich verstehe nicht“, fiel jetzt T’Nams Bassstimme ein, „wie sich eine Schnappkrabbe in diese Gegend verirren konnte! Es ist hier viel zu kalt für die?!“
„Vielleicht, weil der diesjährige Sommer so warm ist“, suchte D’Aruni nach einer Erklärung.
„Es ist einfach nicht fair“, haderte Narumek mit dem Schicksal. „Sie ist so jung und- … Junge, was machst du hier?“

Entdeckt, betrat Ayel jetzt das Esszimmer. Er lief direkt zu seinem Lieblingsbetreuer und streckte ihm die Hände entgegen. Narumek schob den Stuhl zurück und hob den Jungen auf seinen Schoss.

„Kannst du nicht schlafen?“, vermutete er. „Wegen Panya?“
Ayel nickte leise.
„Ich will, dass sie Geburtstag feiern kann. Wenn sie schon umziehen muss und uns nie wieder sieht, dann soll sie glücklich gehen!“
„Ich würde ihr den Wunsch von Herzen gerne erfüllen, Liebes, aber das schafft sie nicht.“
„Und wenn wir einfach so feiern?“ Ayel blickte hoffnungsvoll zu ihm hoch. 
„Sie möchte das nicht. Sie will ihren richtigen Geburtstag feiern und der ist erst nächsten Sommer wieder. Da muss erst noch der Winter kommen und so.“
„Und wann ist es denn Winter?“
„In einem halben Jahr.“
„Ja, aber WANN?“
Narumek seufzte.
„Jetzt ist Sommer, da ist unser Planet ganz nah an der Sonne dran. Dann fliegt er etwas weiter weg und es wird kälter, dann ist Herbst. Wenn Romulus am weitesten von Eisn weg ist, dann ist es Winter und wenn er der Sonne wieder näher kommt, wird es Frühling.“
„Also“, erkannte der Junge, „dann muss der Planet einfach schneller fliegen und dann ist das alles in einer Woche?“
„Wenn das so einfach wäre … Selbst wenn der Planet sich schneller um die Sonne drehen würde, wäre doch keine Zeit für Schnee und Laub. Das sind Prozesse, die Zeit brauchen.“
„Und wenn wir halt Schnee von den Bergen holen? Da hat es, das habe ich gesehen! Den können wir dann auf die Wiese legen und dann ist es Winter, oder?“
Jetzt lachte der Betreuer leise.
„Ayel, du kleiner Träumer, man kann nicht einfach Schnee auf die Wiese legen. Der schmilzt doch!“
„Aber im Kühlschrank nicht.“
„Nein, im Kühlschrank nicht, da hast du recht.“
„Dann legen wir Schnee in den Kühlschrank und dann ist dort drin Winter, oder?“
„Nein, Schatz, Winter ist erst, wenn alles rundherum stimmt: Es muss kalt sein, nicht so lange Tag wie jetzt und wenn es gut läuft, hat es Schnee.“
„Wie im Kühlschrank. Da ist es auch kalt und hat Schnee und Tag ist nur, wenn die Tür auf ist.“
Der Betreuer lächelte und schüttelte den Kopf.
„Und was dann? Willst du einen Tag im Kühlschrank sitzen und so tun, als ob es Winter ist?“
„Nein, nicht nur ich, Panya auch! SIE muss ja Winter haben, damit sie wieder Geburtstag hat.“
Narumek blinzelte, lächelte dann und fuhr ihm durch die unordentlichen Haare.

„Du bist süss, Ayel. Ein richtig guter Freund und hast ein Herz aus Gold, aber …“, er seufzte, „das wird nicht funktionieren.“

D’Aruni liess ein nachdenkliches Brummen hören und zog die Aufmerksamkeit auf sich. Ihr Blick war nachdenklich und misstrauisch, als sie zu sprechen begann.

„Die Idee ist eigentlich gar nicht so dumm, Narumek. Alles was wir bräuchten, wäre wirklich nur ein gigantischer Kühlschrank.“
„Ich verstehe nicht ganz, worauf du hinaus willst“, wandte sich T’Nam an sie.
„Wir stellen die Jahreszeiten nach“, kam sie auf den Punkt. „Alles, was wir dazu brauchen, ist eine grosse Halle und Dekoration.“
„Ja und dann? Die Temperaturen? Der Schnee? Wo willst du den her nehmen? In unserer Provinz schneit es nicht mal im tiefsten Winter?!“

„Die Wintersportgebiete haben Schneekanonen“, mischte sich jetzt Sarinel begeistert ein.
„Das kostet ein Vermögen“, schüttelte T’Nam den Kopf. „Und es ist unmöglich!“
„Nicht unmöglich, nur äusserst aufwändig! Wir finden eine Lösung“, liess sich jetzt auch der grosse Romulaner von der Begeisterung anstecken. „Wir müssen eigentlich nur herausfinden, was so eine Jahreszeit ausmacht und die entsprechenden Utensilien besorgen. Was wir nicht bekommen können, bauen wir selber. In der Datenbank gibt es bestimmt genug Hinweise.“ Er drückte den Jungen auf seinem Schoss. „Das war eine fantastische Idee, Ayel! Also wenn dir etwas einfällt, wie wir das umsetzen können, immer raus damit. Ihr Kinder seht die Welt ja noch viel deutlicher, als wir Grossen …“
„Das ist eine gute Idee“, nickte Sarinel. „Wir sind vier Betreuer, einer für jede Jahreszeit. Wir fragen die Kinder nach ihren Ideen und setzen sie um.“
„Den Sommer haben wir vor der Tür, den können wir getrost auslassen“, warf D’Aruni ein. „Der Vierte könnte so als Springer fungieren und sich um Panya kümmern. Das wird eine hektische Woche werden …“
„Abgemacht“, stimmte Narumek zu. „Sucht euch eine Jahreszeit aus, dann mache ich den Springer und kümmere mich um den normalen Ablauf.“

Der Vorschlag wurde sofort angenommen und aufgepeitscht von Hoffnung und Tatendrang, meldete sich T’Nam für den Herbst, D’Aruni für den Frühling und Sarinel für den Winter.

„Na dann“, stand Narumek mit jetzt merklich mehr Energie auf und hob Ayel auf die Arme, „bringe ich dich jetzt ins Bett, kleiner Mann, ja? Wir Grossen haben eine Menge zu besprechen …“

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