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Scherbenmosaik

von Laurie

Kapitel 2

Trügerische Wärme hüllte ihn ein in den letzten, kostbaren Momenten des Schlafes, jenen Sekunden, bevor Träume von der kalten Gleichgültigkeit der Wirklichkeit eingeholt werden.

Er war zuhause in Georgia, an einem Morgen wie allen anderen, so vertraut, so sicher ... Gleich würde der Wecker auf die übliche, nervtötende Weise zu piepsen anfangen, Jocelyn neben ihm würde sich umdrehen, sich mit schlaftrunkener Stimme darüber beschweren, dass es eine Zumutung sei, einen Menschen in dieser Herrgottsfrühe zur Arbeit zu schicken, und dann würde sich die Schlafzimmertür öffnen und Joanna käme hereingestürmt, viel zu munter für diese Zeit ... sie würde auf das Bett springen, sich zwischen ihre Eltern fallen lassen und dafür sorgen, dass an ein geruhsames Weiterschlafen nicht mehr zu denken wäre ... und dann –

Dann ertönte ein Scheppern aus dem Nebenraum, gefolgt von einem verhaltenen Fluch, und Leonard kam endgültig in der Wirklichkeit an: in seinem trostlos wirkenden Zimmer in den Schlafgebäuden der Akademie, das auch eine Woche nach seinem Einzug noch nichts von seiner ungemütlichen Anonymität verloren hatte – nicht, dass Leonard sich bisher Mühe gegeben hätte, etwas daran zu ändern. Jeder klägliche Versuch, hier so etwas wie ein Zuhause zu erschaffen, würde ihm nur wie ein billiger Abklatsch des Zuhauses vorkommen, das er verloren hatte, und gleichzeitig diesen Verlust unabänderlich machen.

Stöhnend setzte er sich auf. Im Schlaf war ihm die Decke von den Schultern geglitten, und er fröstelte in der Kühle eines weiteren unfreundlichen Herbstmorgens.

„Computer, Zimmertemperatur um drei Grad erhöhen“, befahl er müde und schwang die Beine aus dem Bett.

Nicht nur die Kälte störte ihn – es gab irgendetwas anderes, das tief in seinem Hinterkopf nach seiner Aufmerksamkeit verlangte, aber noch war Leonard zu müde, um dieses nagende Gefühl genauer zu bestimmen.

Die Erinnerung an den letzten Abend kehrte erst mit aller Macht zurück, als ein zweites Scheppern aus dem Nebenzimmer die Stille durchbrach. Leonard hielt auf seinem Weg zum Kleiderschrank inne, die Augen erst vor Überraschung, dann vor Verärgerung geweitet. Verdammt.

Seine philanthropischen Neigungen hatten sich klammheimlich an ihn herangeschlichen und ihn umzingelt, und es gab keine Möglichkeit, ihnen zu entkommen. Er hatte vorausgesagt, dass er es bereuen würde, dem betrunkenen jungen Mann in der Nacht zuvor Unterschlupf zu gewähren, und natürlich hatte sich diese Ahnung erfüllt, denn ja, in diesen Momenten bereitete ihm der Gedanke daran, dass er den Tag nicht in aller Ruhe alleine beginnen konnte, sondern sich mit einem höchstwahrscheinlich sehr verkaterten Fremden herumschlagen durfte, nicht gerade Begeisterung.

Verbittert drehte Leonard sich um, sich dem Unvermeidlichen fügend. Es kümmerte ihn nicht, dass er, unrasiert und im Schlafanzug, nicht das beste Bild bot. Sollte Kirk auch nur einen winzigen Kommentar über seinen Aufzug machen, würde er den jungen Mann hochkant aus dem Zimmer werfen; außerdem hatte er bei ihrem ersten Treffen auch nicht besser ausgesehen, kein Grund, Kirk etwas vorzumachen, und Kirk selbst hatte auch schon bessere Tage erlebt.

Er saß mit hochgezogenen Beinen auf dem Sofa und umklammerte ein Glas Wasser, als Leonard ins Zimmer trat.

„Morgen“, grüßte er, beinahe etwas kleinlaut klingend.

Mit verschränkten Armen blieb Leonard vor dem Sofa stehen und musterte Kirk abschätzend. Dass der junge Mann unter den unangenehmen Folgen seines exzessiven Alkoholkonsums litt, war wenig überraschend und nicht zu übersehen. Mit seinen zerzausten Haaren, den blutunterlaufenen Augen und der zerknitterten Kleidung hätte er jedem Obdachlosen Konkurrenz machen können.

„Na, den Schönheitsschlaf gut hinter dich gebracht?“, erwiderte Leonard sarkastisch.

Kirk senkte den Blick, und hätte Leonard es nicht besser gewusst, hätte er fast geglaubt, dass sich tatsächlich so etwas wie Verlegenheit in seinen Augen widerspiegelte.

„Dein Sofa ist verdammt unbequem“, sagte er, nahm einen Schluck Wasser und verzog das Gesicht.

Leonard musste sich zwingen, nicht die Augen zu verdrehen. Dieses Kind schien ein wahres Naturtalent darin zu sein, sich selbst und anderen seine Niederlage selbst in den aussichtslosesten Situationen nicht einzugestehen, und der Psychologe in ihm fragte sich unwillkürlich, was Kirk damit verbergen wollte. Nicht, dass es ihn etwas anginge, und nicht, dass er Kirk mehr als das Mindestmaß an Interesse entgegenbrachte, mit dem ein Arzt jedem Patienten begegnete.

„Danke, jetzt weiß ich das auch. Das erspart mir den Aufwand, selbst die Qualitäten dieses Sofas als Schlafstätte zu testen“, gab er trocken zurück.

Kirk ließ sein Glas sinken und blickte blinzelnd zu ihm auf.

„Bist du immer so zynisch? Ach ja, und könntest du vielleicht leiser sprechen?“

Kopfschüttelnd wandte Leonard sich ab. Er würde sich als Allererstes einen guten, starken Kaffee kochen, anderenfalls würde er den Tag nicht überleben.

Auf dem Weg zur Kaffeemaschine stolperte er fast über die Schüssel, die er Kirk am Abend zuvor für alle Fälle hingestellt hatte. Sie war unbenutzt, wenigstens das, doch es erweckte den Anschein, als sei an diesem Morgen schon mehr als einmal jemand über sie gefallen. Das immerhin erklärte das Scheppern, das Leonard zuvor aus dem diffusen Reich des Schlafes gerissen hatte.

„Hey, du bist doch Arzt, oder?“

Kirks Stimme ließ ihn bei der Zubereitung seines Kaffees innehalten. Eine weitere sarkastische Bemerkung drängte sich ihm auf – Nein, wirklich, wie kommst du denn darauf? –, aber er biss sie mit der ärztlichen Professionalität zurück, die ihn für gewöhnlich davon abhielt, sich an besonders schlechten Tagen so hemmungslos zu betrinken wie Kirk am gestrigen Abend.

„Ja, ich bin Arzt“, antwortete er schlicht. Er war stolz auf seinen Beruf, das Einzige, was ihm noch geblieben war, was ihm kein Scheidungsanwalt der Welt würde nehmen können.

„Schön. Dann hast du doch bestimmt irgendwas gegen Kopfschmerzen. Irgendwelche Wundermittelchen, du weißt schon.“

Nun ließ sich das Augenrollen nicht mehr verhindern. „Sag doch gleich, gegen einen Kater“, murmelte Leonard. Der Junge konnte froh sein, dass es Wochenende war und er sich in seiner derzeitigen Verfassung nicht in den Unterricht quälen musste.

Jeder hätte behaupten können, dass es für Leonard keinerlei Veranlassung dazu gab, sich noch mehr um Kirk zu kümmern, dass er ohnehin schon mehr für diesen Mann getan hatte, als er verdiente, und dass es Kirk sicherlich nicht schaden würde, ein wenig mehr unter den Auswirkungen seines verantwortungslosen Handelns zu leiden ...  aber derselbe Teil in ihm, der Kirk mit auf sein Zimmer geschleppt hatte, wehrte sich auch jetzt dagegen, Kirk abzuweisen. Hier saß ein Patient auf seinem Sofa, der Leonards Hilfe brauchte, und es war ihm noch nie gelungen, die Bedürfnisse seiner Patienten zu ignorieren. Der Instinkt, zu helfen, war einfach zu groß.

Er kramte eine der Kopfschmerztabletten aus seinem eigenen Vorrat hervor – wie gut sie wirkten, wusste er aus eigener Erfahrung –, ging zu Kirk hinüber und reichte sie ihm. Im ersten Moment hatte er sie ihm einfach zuwerfen wollen, doch dann beschloss er, Kirks Reflexen besser noch nicht zu trauen.

„Danke“, murmelte der junge Mann.

Die Bewegungen, mit denen er die Tablette hinunterschluckte, waren routiniert und verrieten Leonard, dass Kirk sich nicht zum ersten Mal in einer solchen Situation wiederfand. Nur dass es bei den letzten Malen wahrscheinlich keinen weitgehend Fremden gegeben hatte, der ihn von der Straße aufgesammelt und sich um ihn gekümmert hatte. Offensichtlich sahen Kirks Gedanken ähnlich aus; seine Schultern verkrampften sich und er wich Leonards Blick aus, augenscheinlich unsicher, wie er die Lage noch zu seinen Gunsten wenden könnte.

Leonard schüttelte leicht den Kopf.
„Diese Tablette wird das Schlimmste beseitigen, aber glaub ja nicht, dass sich damit alle Probleme aus der Welt schaffen lassen. Besser, du lässt es beim nächsten Mal erst gar nicht so weit kommen.“

Kirk zuckte mit den Schultern. Das Medikament schien seine Wirkung langsam zu entfalten; die Spuren des Schmerzes wichen aus seinem Gesicht.

„Ich wird’s mir merken, Doktor“, sagte er mit den Anflug eines arroganten Grinsens.

Leonard zog die Augenbrauen hoch. Kein Zweifel, dieser Junge besaß über ein gesundes Selbstvertrauen – groß genug, um ihm nach einem Fall wie dem gestrigen schnell wieder auf die Beine zu verhelfen, aber nicht groß genug, um die Verletzlichkeit vollständig zu kaschieren, die er auf Leonard ausstrahlte, wie er dort auf dem Sofa kauerte, die Haltung steif, die Hände um sein Wasserglas geklammert. Vielleicht aber täuschte er sich in diesem Punkt auch nur. Vielleicht war es nicht Verletzlichkeit, was er sah, sondern schlicht und einfach Erschöpfung. Die feineren Unterschiede verwischten schnell, vor allem, wenn man wie Leonard selbst noch zu müde war, um klar zu denken; und nebenbei bemerkt hatte ihn seine Menschenkenntnis im letzten Jahr mehr als einmal im Stich gelassen. Außerdem – was ging es ihn schon an?

„Ich hoffe nur, du hattest einen guten Grund für diese Eskapade gestern Abend“, brummte er unwillig. Eigentlich wollte er es gar nicht so genau wissen – und wieder, was ging es ihn an? –, doch Kirk sprang bereitwillig auf den versteckten Vorwurf an.

„Jaah, hatte ich. Die Aufnahme an der Akademie, das ist doch ein guter Grund, um ein bisschen Spaß mit Freunden zu haben. Gehst du nie aus und amüsierst dich?“

„Ein bisschen Spaß ist wohl untertrieben“, entgegnete Leonard trocken. Mit Bedacht ging er nicht auf Kirks Frage ein; ja, es war wirklich eine gefühlte Ewigkeit her, seit er zum letzten Mal ausgegangen war, sich einfach fallengelassen hatte, aber das brauchte Kirk nicht zu wissen. Vermutlich ahnte der junge Mann ohnehin mehr, als Leonard lieb war, seinem frechen Grinsen nach zu urteilen.

„Vielleicht solltest du das öfter mal tun, dann wärst du nicht so spießig. War echt toll gestern Abend, zumindest, bis du mich völlig grundlos weggebracht hast. Wegen dir musste ich übrigens meine Tasche und ein hübsches Mädchen in der Bar zurücklassen.“

Ein weiteres Mal verdrehte Leonard die Augen. „Nicht mein Problem.“

Hatte er ernsthaft Dankbarkeit für seine Fürsorge erwartet? Nein, hatte er nicht. Trotzdem tat Kirks aufgesetzt gleichgültiges Verhalten weh.

„Na ja, ich werde mich darum kümmern. Zumindest meine Tasche hätte ich gerne wieder. Was das Mädchen angeht ... tja, schade drum, aber es gibt ja noch andere.“

Leonard starrte ihn an, fassungslos und belustigt zugleich. Wer zur Hölle war dieser Mann? Und – wollte er es wirklich so genau wissen?

Die Antwort kam sofort, aus dem übermächtigen Winkel seines Herzens, der durch die Scheidung so stark geworden war, dass er den anderen, empfindsameren Teil fast immer überstimmte.
Nein, er wollte es nicht wissen, wollte diesen jungen Mann, der so gar nichts mit ihm selbst gemeinsam zu haben schien, nicht näher an sich heranlassen als unbedingt nötig. Es war an der Zeit, das Kapitel Jim Kirk endgültig abzuschließen.

„Schön, dann kümmere dich mal um deine Angelegenheiten. Am besten gleich. Ich hab nämlich noch zu tun. Im Gegensatz zu dir bin ich hier, um zu lernen“, sagte er.

Kirk verstand den Hinweis, und sollte er deswegen beleidigt sein, so zeigte er es nicht.
„Alles klar.“

Langsam erhob er sich, stellte sein Glas ab, griff sich seine Jacke, zog seine Schuhe an und schlenderte auf die Tür zu, mit einer Lässigkeit, die in einem beinahe komischen Kontrast zu seinem mitgenommenen Äußeren stand. Damals im Shuttle war es genau dasselbe gewesen, und Leonard fragte sich, ob das so etwas wie Jim Kirks Standardverhalten darstellte: seine Wunden mit gespielter Unbeschwertheit überdecken.

Nicht, dass es ihn interessierte.

„Und lass es heute sicherheitshalber langsamer angehen – Tabletten können nicht alles heilen“, warnte der Arzt in Leonard seinen Patienten, obwohl er bezweifelte, dass dieser sich seine Worte zu Herzen nehmen würde.

Kirk hielt inne. „Sicher doch.“

Er zögerte kurz, einen verräterischen Moment, und als er schließlich den Kopf zu Leonard umwandte, zeigte sich ein Lächeln auf seinem Gesicht, das irgendwo zwischen Unverschämtheit und Dankbarkeit schwebte.

„Und ... danke, Bones“, sagte Kirk – und ehe Leonard darauf reagieren konnte, war er aus dem Zimmer getreten und die Tür hatte sich hinter ihm geschlossen.

Überrumpelt starrte Leonard auf die Stelle, an der vor wenigen Sekunden noch ein unverfrorener Jim Kirk gestanden hatte. Seine Verwirrung war zu groß, um Verwunderung über den erneuten Gebrauch dieses obskuren Namens aufkommen zu lassen, und dann übernahm die Müdigkeit erneut das Steuer und redete ihm ein, dass das alles nicht so wichtig sei und er sich ein andermal mit dem Mysterium Jim Kirk beschäftigen könnte, falls überhaupt.

Leonard gab der Erschöpfung nach, drehte sich um und wandte seine Aufmerksamkeit stattdessen seinem Kaffee zu. Wenigstens der würde ihn nicht enttäuschen.


***


Er hatte nicht erwartet, dass seiner Geschichte mit Jim Kirk ein weiteres Kapitel hinzugefügt werden würde. Wieso auch? Ja, Kirk schuldete ihm definitiv etwas, aber wenn Leonard jedes Mal auf der Einlösung der ihm gegenüber fälligen Schulden bestanden hätte, wäre er längst wahnsinnig geworden. Besser, derartige Sachen auf sich beruhen zu lassen.

Es klappte auch dieses Mal, und Leonard war drauf und dran, den Vorfall als zwar lästige, aber im Grunde bedeutungslose Begebenheit in weniger beachtete Tiefen seines Gehirns abzuschieben, als sich Jim Kirk eine Woche später erneut ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit rückte, diesmal mit voller Absicht.

„Hey, Bones!“

Leonard zuckte zusammen, unsanft aus seinen Gedanken gerissen, die irgendwo zwischen seinen Hausaufgaben für den Basiskurs Warptheorie und seiner Exfrau kreisten, mit der er am Morgen ein weiteres der altbekannten, unfreundlichen Gespräche geführt hatte.

Üblicherweise fingen diese Unterhaltungen zwischen ihnen möglichst neutral an, mit generellen Informationen über ihre Tochter und der Frage, wie es in Zukunft weitergehen sollte; doch was immer sie taten, so sehr sie sich bemühten, auf einer zumindest halbwegs höflichen Basis miteinander umzugehen, es lief am Ende trotzdem immer darauf hinaus, dass sie sich gegenseitig für das Scheitern ihrer Ehe und sämtliche andere Kleinigkeiten, die in ihren Leben jemals schiefgelaufen waren, beschuldigten.

Nicht verwunderlich, dass sich Leonards Laune nach derartigen Gesprächen regelmäßig am Tiefpunkt befand; und sie wurde nicht dadurch verbessert, dass sich nun ein unerträglich munterer Jim Kirk auf den Stuhl ihm gegenüber fallen ließ.

„Was dagegen, wenn ich mich zu dir setzte?“

Eigentlich war die Frage überflüssig. Kirk hatte längst sein Tablett abgestellt und erweckte den Eindruck, als dächte er nicht daran, sich in absehbarer Zeit wieder zu verziehen und Leonard mit seinen Gedanken alleine zu lassen.

Missmutig nickte Leonard ihm über die Reste seines Mittagessens hinweg zu – ein undefinierbarer Eintopf, offenbar eine Eigenkreation der Köche, den er hinuntergeschluckt hatte, ohne wirklich etwas davon zu schmecken.

„Ich werde dich nicht dran hindern können“, sagte er mürrisch, und Kirk lachte auf.

„Du bist nicht gerade ein Sonnenschein, weißt du das? Und ich dachte, deine schlechte Laune wäre letztes Mal bloß eine Ausnahme gewesen. Und das Mal davor auch, wenn ich’s mir recht überlege. Sieht so aus, als müsste ich diese Annahme revidieren.“

Leonard zuckte mit den Schultern, in der Hoffnung, dass Kirk es damit auf sich belassen würde. Es machte ihm nichts aus, sich mit Kirk den Tisch zu teilen, solange sein Gegenüber um Himmels willen den Mund hielt und ihn in Ruhe ließ; er hatte sich nicht umsonst einen Tisch in der hinterletzten Ecke des Speisesaals ausgesucht. Bisher hatte diese Taktik funktioniert und die anderen Kadetten hatten ihn weitgehend in Ruhe gelassen, doch Kirk schien für sein Bedürfnis nach Abschottung nicht viel Verständnis zu haben.

„Also“, sagte er mit vollem Mund und beugte sich näher zu Leonard. „Du bist in keinem einzigen meiner Kurse und du lässt dich so gut wie nie zu den normalen Zeiten in der Mensa blicken. Ich hab dich die ganze Woche nicht gesehen, sonst hätte ich dich früher gefragt, ob du nicht ein Bier oder so mit mir trinken willst. Heute Abend, ich lade dich ein.“

Leonard starrte ihn an, für einige Augenblicke tatsächlich sprachlos. Hatte ihn schon überrascht, dass Kirk sich zu ihm gesetzt hatte, stellte dieses Angebot, oder was immer es war, noch eine Steigerung des Grotesken dar, und Leonard hatte nicht die geringste Ahnung, woher es kam und wohin es ihn führen würde.

„Wir kennen uns überhaupt nicht“, stellte er schließlich fest.

Kirk zuckte die Schultern. „Und? Darum kann ich mich doch trotzdem dankbar für deine Hilfe erweisen.“

Sein Blick war offen und ehrlich und hielt Leonard davon ab, eine bissige Bemerkung abzugeben. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Kirk seine Fürsorge nicht einfach als selbstverständliche Gefälligkeit hinnehmen würde, die man mit einem falschen Lächeln und einer Handbewegung abtun konnte; und obwohl er diesen jungen Mann kaum kannte, kam ihm der Gedanke, dass Jim Kirk wahrscheinlich immer für eine Überraschung gut wäre. Die Frage war nur, ob Leonard bereit wäre, sich darauf einzulassen.

Früher hätte er ohne viel Zögern zugesagt, wenn auch nur, um endlich in Ruhe gelassen zu werden; damals hatte er sich allerdings noch nicht als Einzelgänger bezeichnet. Doch die Zeiten hatten sich geändert, Freundschaften waren zerbrochen und sein soziales Leben war weitestgehend eingeschlafen.

„Hör mal, du hast dich bei mir bedankt und damit ist es gut“, sagte er ausweichend.

Kirk ließ sich damit nicht abspeisen.
„Na und? Ich schulde dir trotzdem was, und danach können wir die Sache meinetwegen vergessen, also stell dich nicht so an. Ich kenne eine gute Bar.“

„So gut wie die, in der ich dich letzte Woche aufgesammelt habe?“

Falls diese Bemerkung Kirk in Verlegenheit stürzte, ließ er es sich nicht anmerken. Langsam bezweifelte Leonard, dass der Begriff Verlegenheit überhaupt zum Wortschatz dieses Kindes gehörte.

Er schenkte Leonard ein selbstzufriedenes Grinsen.
„Besser.“

„Ich bin zu alt für so etwas“, murmelte Leonard und ließ seinen Löffel heftiger als beabsichtigt in den Teller fallen. Das unangenehme Klirren von Metall auf Porzellan hob sich kaum von der Geräuschkulisse der Mensa ab.

Kirk verdrehte die Augen.
„Das glaubst du ja selbst nicht. Wie alt bist du überhaupt?“

Die unverschämte Direktheit brachte ihn derartig aus dem Konzept, dass ihm die Antwort entschlüpfte, bevor ihm einfiel, dass Kirk alle persönlichen Daten, die über Leonards Namen hinausgingen, eigentlich gar nichts angingen.

„Achtundzwanzig.“

„Du tust ja fast so, als ob in diesem Alter das Leben längst vorbei wäre“, bemerkte Kirk, halb spöttisch, halb anklagend, und ganz vielleicht sogar ein kleines bisschen mitleidig. „Komm schon, Bones, komm mal aus deinem Schuhkarton raus und hab ein bisschen Spaß. Heute ist Samstag, du hast morgen sicherlich nichts vor ... Ich weiß ja, dass Medizinstudenten gerne unter sich bleiben, aber dass ihr so spießig seid, glaube ich einfach nicht.“

Er schaffte es tatsächlich, dass diese Aussage sich nicht wie die Beleidigung anhörte, als die man sie leicht fehlinterpretieren könnte, und Leonard zog die Augenbrauen hoch. Genaugenommen verstand er, was Kirk antrieb; er selbst jedenfalls hasste das Wissen, anderen etwas schuldig zu sein. Es machte ihn ruhelos und reizbar und ließ ihn erst in Frieden, wenn er meinte, seine Schulden eingelöst zu haben.

Mit einem Seufzen schob er seinen Teller von sich weg.
„Ich werde es mir überlegen.“

Kirks siegessicheres Grinsen ließ ihn diesen Satz beinahe sofort wieder bereuen; um sich davon abzulenken, lehnte Leonard sich seinerseits nach vorne und fragte: „Was soll überhaupt dieser lächerliche Spitzname?“

Kirk lächelte. „Na, das hast du mir doch bei unserem ersten Treffen gesagt, weißt du nicht mehr?“

Leonard runzelte die Stirn. Undeutliche Erinnerungen schwammen in seinem Kopf umher, überlagert vom Nebel der Panik, jagten einander, stießen zusammen und verschmolzen miteinander, so dass es ihm schwerfiel, eine einzige davon zu erfassen.

„Da war ich betrunken.“

Betrunken klang besser als kurz vor einem Nervenzusammenbruch.

Kirk sah ihn spöttisch an, doch der entsprechende Kommentar blieb aus. Stattdessen richtete sich sein Blick auf irgendeinen Punkt hinter Leonards Rücken.

„Apropos, wo wir schon bei Namen sind“, sagte er unvermittelt, „da hinten ist ja Uhura. Wenn du mich bitte entschuldigst, ich geh mal zu ihr rüber. Ich muss unbedingt noch ihren Vornamen rausfinden. Wetten, dass ich ihn innerhalb der nächsten zehn Minuten erfahren habe?“

Das bezweifelte Leonard ernstlich, aber er behielt seine Gedanken für sich. Sollte Kirk mit seiner optimistischen Selbstüberschätzung glücklich werden.

Der junge Mann erhob sich und griff nach dem Tablett mit seiner halb beendeten Mahlzeit. Er hatte sich schon halb ungewandt, als ihm wieder einzufallen schien, weshalb er überhaupt hergekommen war. Schwungvoll drehte er sich um, verschüttete dabei beinahe den Inhalt seines Glases und rief Leonard zu: „Also, heute Abend um, sagen wir, 2100 vor dem Campus, alles klar?“

Und ohne eine Antwort abzuwarten, kehrte er Leonard endgültig den Rücken zu und hastete davon, um Kadettin Uhura mit seiner Gegenwart zu beglücken.

Leonard sah ihm nach, nicht sicher, was er von der ganzen Sache halten sollte. Ein aufgezwungenes Gespräch, eine Einladung, von der er nicht sicher war, ob er sie annehmen sollte, ein unergründlicher Kadett namens Jim Kirk ...

Nur eines wusste er mit Sicherheit: sobald Kirk fort war, kam er sich aus unerklärlichen Gründen zum ersten Mal einsam an seinem leeren Tisch vor, isoliert mitten innerhalb einer Horde munter miteinander plaudernder Kadetten.

Verärgert über sich selbst erhob er sich, gab sein Tablett ab und machte, dass er die Mensa verließ und zurück zu den Schlafräumen hastete, wo ein leeres Zimmer auf ihn wartete.
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