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Scherbenmosaik

von Laurie

Kapitel 3

Gegen Abend kam ein leichter Wind auf, der den salzigen Geschmack des Meeres mit sich brachte und Leonard seltsam klar im Kopf werden ließ, als er fünf Minuten nach der, wenn auch eher einseitig, vereinbarten Zeit das Schlafgebäude verließ und über das Akademiegelände hastete.

Es war fast, als ließe der Wind das komplette Konstrukt an Sorgen in sich zusammenfallen und trüge die Trümmer nach und nach ab, bis nur noch eine angenehme Leere übrig blieb. Vielleicht nicht unbedingt Unbeschwertheit, aber auf jeden Fall eine gewisse Erleichterung, die es Leonard ermöglichte, sich voll und ganz auf das zu konzentrieren, was vor ihm lag.

Normalerweise war er nicht der Typ fürs Zuspätkommen. Als Arzt wurde einem diese Denkweise vom ersten Tag an eingetrichtert: Wenige Minuten konnten über Leben und Tod entscheiden, Zögern stellte eine Art von Schwäche dar, die man sich vor einem Patienten niemals leisten durfte. Notorische Pünktlichkeit ergab sich dabei irgendwann ganz von selbst.

Dass Leonard an diesem Abend trotzdem zu spät war, lag an den Zweifeln, mit denen er sich den ganzen Nachmittag herumgeschlagen hatte – endlose Stunden des Abwägens, Für gegen Wider, begleitet von der einsamen Stille seines Zimmers.

Am Ende hatte die Seite in ihm gesiegt, die sich nicht gerne vor Herausforderungen drückte. Überhaupt, was hieß schon Herausforderungen? Er würde in einem überschaubaren, von vornherein klar abgesteckten Rahmen ein Bier mit einem anderen Kadetten trinken, der ihn eingeladen hatte, um eine Gefälligkeit zu erwidern. So etwas tat man doch, oder? Nichts Unübliches, und nichts, was Leonard während seines Studiums nicht ab und an gemacht hätte.

Sollte Jim Kirk sich dabei als nicht zu rettender Idiot herausstellten, dann würde Leonard den Abend so gut wie irgend möglich überstehen und danach könnten sie sich für den Rest ihrer Akademiezeit ignorieren. Und falls sich zeigen sollte, dass man mit Kirk im Grunde ganz gut auskommen könnte ... nun, es schadete nie, Leute zu kennen, die einem wohlgesonnen waren. Sie mussten nicht einmal Freunde werden – selbst flüchtige Bekanntschaften konnten sich während einer Ausbildung manchmal als unschätzbar erweisen.

Kirk hatte keinen genauen Treffpunkt genannt - vor dem Campus, das war ziemlich weit gefasst –, aber sobald Leonard das Akademiegelände verließ, stellte er fest, dass er sich keine Sorgen oder Hoffnungen darüber hätte machen müssen, den anderen Mann nicht zu finden.

Direkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite, von den Laternen in grelles Licht getaucht, stand eine kleine Gruppe von Menschen, bei denen es sich nur um Kadetten handeln konnte und die offenbar in ein heftiges Wortgefecht verwickelt waren. Der Wind trug einzelne Satzfetzen zu Leonard hinüber, und er runzelte die Stirn. Seine Begeisterung, ohnehin schon auf keinem hohen Niveau, sank augenblicklich weiter gegen Null. Er verspürte nicht das geringste Verlangen danach, sich in die Streitigkeiten dieser Leute einzumischen, doch wenn ihn nicht alles täuschte, hatte er unter den erregten Stimmen eine halbwegs vertraute ausgemacht; und er hätte nicht nur seine letzte Flasche Bourbon darauf verwettet, dass eine der Personen dort drüben niemand anderes war als Jim Kirk, sondern auch darauf, dass der Junge es wieder einmal geschafft hatte, sich in Schwierigkeiten zu bringen.

Unschlüssig verharrte Leonard am Rande des Gehwegs, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sich aus Schwierigkeiten herauszuhalten, und dem Drang, dafür zu sorgen, dass die Situation nicht eskalierte und Verletzte zur Folge hätte, die ihn um seinen ruhigen Feierabend bringen würden.

„Du hältst dich wohl für was Besseres, aber ich sag dir, du bist nichts wert! Nichts! Nur weil dein Vater ach so Großes geleistet hat, heißt das nicht, dass du hier auftreten kannst, als gehörte dir die ganze Sternenflotte“, brüllte einer der Männer, und die Aggressivität in seinem Tonfall gab den Ausschlag für Leonard, innerlich fluchend die Straße zu überqueren und sich der Gruppe zu nähern. Eine sehr kleine Gruppe, wie er aus der Nähe feststellen konnte – Kirk und zwei andere Männer, von denen einer nun Anstalten machte, Kirk zu packen.

„Gibt es Probleme?“, rief Leonard in seiner entschlossensten Stimme. Die Männer erstarrten; im Licht der Laterne wirkten sie beinahe wie Marionetten auf einer Bühne, aufgestellt für eine Aufführung und dann von ihren Puppenspielern vergessen.

Drei Köpfe wandten sich ihm zu, und Leonard war inzwischen nahe genug an die Streitenden herangetreten, um ihre Gesichter erkennen zu können. Da war Jim Kirk, der zugleich wütend und überrascht wirkte; bei seinen Kontrahenten handelte es sich um einen untersetzten Mann mit undefinierbarem Haarschnitt und einen massigen Kerl mit sorgfältig gestutztem Bart, der Leonard vage bekannt vorkam – gut möglich, dass sie sich schon einmal über den Weg gelaufen waren, womöglich im Shuttle für die neuen Rekruten oder in der Mensa.

Dieser Mann war es auch, der vorläufig die deutlichere Bedrohung darstellte und der sich nun nicht gerade freundlich an Leonard wandte.

„Was zur Hölle wollen Sie denn? Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten!“

In einer abwehrenden Geste hob Leonard die Arme.
„Hey, ich will keinen Ärger und ihr sicher auch nicht, also wieso reden wir nicht wie vernünftige Erwachsene miteinander und ihr sagt mir erst mal, was überhaupt los ist?“

„Halt du dich da raus“, zischte ihm Kirk zwischen zusammengebissenen Zähnen zu, offenbar alles andere als glücklich über den Verlauf der Ereignisse.

Leonard musste sich ein Seufzen verkneifen. War ja klar, dass dieser Junge in seiner Selbstüberschätzung Leonards Eingreifen für eine Schmähung seiner Selbstdarstellung hielt. Dabei lag ihm weniger daran, Kirk seine Kämpfe nicht alleine ausfechten zu lassen, sondern mehr daran, Kirk davor zu bewahren, noch innerhalb der nächsten halben Stunde in der Krankenstation der Akademie zu landen.

„Verdammt, Jim, das ist doch lächerlich“, gab er wütend zurück. Erst viel später würde ihm auffallen, dass er Kirk damit zum ersten Mal beim Vornamen genannt hatte, unbewusst und im Eifer des Gefechts. „Ich wollte eigentlich ein Bier mit dir trinken gehen, aber wenn du dich lieber prügeln willst, bitte, nur zu. Dann gehe ich eben wieder.“

„Wäre vielleicht die beste Idee“, warf der kleinere der beiden Männer böse ein; sein Freund jedoch fixierte Leonard, die Situation abwägend. Leonard hielt seinem Blick mit verbissener Entschlossenheit stand, auch wenn er genau wusste, dass seine Chancen ziemlich schlecht standen, sollte es tatsächlich zu dem Kampf kommen, den sich in dieser trauten Runde offensichtlich jeder außer ihm wünschte. Gut, objektiv betrachtet stand es zwei gegen zwei; subjektiv betrachtet dagegen ließen Leonards  Fähigkeiten im Nahkampf sehr zu wünschen übrig. Er war Arzt, verdammt – er verletzte keine Leute, sondern er flickte sie zusammen.

„Na gut“, sagte der massige Mann schließlich, und Leonard musste sich Mühe geben, damit man ihm seine Erleichterung nicht anmerkte. „Nimm deinen kleinen Freund und verschwinde von hier. Aber eines kann ich dir versprechen, wenn er mir noch einmal blöd kommt, kannst du ihn danach mit einem Löffel von der Straße aufkratzen. Und dir sage ich, dann wird es niemanden geben, der mich davon abhalten kann, kurzen Prozess mit dir zu machen, alle Kadetten und Captains dieser Welt nicht!“

Der letzte Satz war direkt an Jim gerichtet, dessen Gesicht eine so kalte Wut widerspiegelte, dass Leonard unwillkürlich froh darüber war, auf seiner Seite zu stehen, wenigstens mehr oder weniger.

„Ach ja, meinst du?“, sagte Jim gefährlich ruhig. „Willst erst noch ein paar Freunde zusammentrommeln, bevor du es mit mir aufnimmst, was? Traust dich wohl nicht, mir in einem fairen Kampf gegenüberzutreten? Wie viele werden es nächstes Mal – zehn gegen einen? Vielleicht hättest du dann ja den Hauch einer Chance.“

Die Miene des massigen Kadetten verfinsterte sich, und Leonard sah seine letzte Chance auf einen ruhigen Abend langsam seiner Reichweite entschwinden.

„Ich bin mir sicher, diese Probleme lassen sich auch ein andermal beheben“, sagte er hastig. „Jim, wir gehen. Schönen Abend noch, Gentlemen.“

Und ohne große Umstände packte er den widerstrebenden Jim am Arm und schleifte ihn mit sich fort – auf die andere Seite der Straße, weg von den beiden kampflustigen Kadetten. Halb befürchtete er, dass sie ihnen folgen würden, und dann wäre er endgültig geliefert, aber ein kurzer Blick über die Schulter verriet ihm, dass aus dieser Richtung vorerst keine Gefahr drohte.

„Lass mich los!“, zischte Kirk. Mit einem Ruck befreite er sich aus Leonards eisernem Griff. „Scheiße, was sollte denn das? Wer bist du, mein Babysitter?“

„Vielleicht hättest du einen nötig“, sagte Leonard bissig, und Jim lachte auf, nicht gerade fröhlich.

„Und das ausgerechnet von dir.“

Leonard blieb stehen und drehte sich so abrupt zu Jim um, dass der junge Mann tatsächlich für den Bruchteil einer Sekunde überrumpelt wirkte.

„Jetzt hör mir mal zu“, sagte Leonard scharf, langsam am Ende seiner Geduld angekommen. „Kann ja sein, dass du dich für unbesiegbar hältst, aber was glaubst du denn, wer in diesem Kampf gewonnen hätte? Diese Kerle hätten dich ohne viel Mühe zu Hackfleisch verarbeitet, das musst doch selbst du einsehen.“

„Mit denen wäre ich schon fertiggeworden“, behauptete Jim störrisch. „Verdammt, das war mein Kampf. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie lächerlich ich jetzt wirke, weil ich einfach abgehaut bin, dank dir?“

Nun war es an Leonard, aufzulachen, ungläubig und ein wenig verzweifelt. Himmel, das durfte doch nicht wahr sein. Er sollte zurück in sein Zimmer, seine Hausaufgaben vorbereiten oder gleich ins Bett gehen, aber nein, hier stand er, fröstelnd im kühlen Wind vor dem Akademiegelände, und diskutierte mit einem uneinsichtigen Kind.

„So also funktioniert die Welt für dich, ja? Denkst du eigentlich jemals an die Konsequenzen deiner Handlungen? Vor zwei Wochen jedenfalls hast du sicher nicht daran gedacht, so, wie du in diesem Shuttle aussahst. Ist das deine Art, durchs Leben zu gehen? Einfach losrennen, ohne nach rechts und links zu schauen, und es anderen überlassen, das wieder zu richten, was du kaputtgemacht hast? Was, zur Hölle, glaubst du denn, wie lange du damit weiterkommst? Du bist ein verdammter Kadett, und was ist das Erste, das du machst?  Eine Schlägerei anfangen. Ist das deine Art, dich der Uniform gegenüber respektvoll zu erweisen?“

Ein Teil von ihm fühlte sich schuldig wegen dieser Worte, raunte ihm zu, dass er kein Recht dazu habe, in diesem Ton mit einem fast völlig Fremden zu reden. Der andere Teil allerdings behauptete, dass er jedes Recht dazu habe. Ja, er kannte Jim Kirk kaum, aber er hatte genug von ihm gesehen, um zu wissen, dass Kirk womöglich jemanden nötig hatte, der ihm ab und an auf die richtige Spur half. Leonard hatte nicht vor, diese Aufgabe permanent zu übernehmen, doch zumindest an diesem Abend tat er es mit voller Überzeugung, und das war richtig so.

Ein Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, unterlegt von der monotonen Geräuschkulisse der Stadt, und einen flüchtigen Moment lang befürchtete Leonard, etwas zerbrochen zu haben, das noch nicht einmal richtig zusammengesetzt worden war; aber bevor er dieses unerklärliche Gefühl genauer bestimmen konnte, stieß Jim betont theatralisch den Atem aus.

„Schön. Bist du fertig mit deinem ethischen Vortrag? Dann könnten wir uns endlich mal auf den Weg zur Bar machen.“

Unschlüssig vergrub Leonard die Hände in den Taschen, alles andere als zufrieden mit der Wendung, die dieser Abend genommen hatte.
„Ich bin mir nicht sicher, ob ...“

„Vergiss es“, schnitt Jim ihm resolut das Wort ab. „Ich hab gesagt, dass ich dich auf ein Bier einlade, und das mache ich auch. Also, komm mit. Ist nicht weit.“

Er setzte sich in Bewegung, ohne abzuwarten, ob Leonard ihm folgte. Leonard blickte seiner schmalen Gestalt einige Sekunden lang nach, dann hastete er ihm kopfschüttelnd hinterher. Das Grinsen, mit dem Jim ihn bedachte, sobald er ihn eingeholt hatte, verriet deutlich, dass Jim keinen Augenblick daran gezweifelt hatte, dass Leonard sich seinem Willen fügen würde.

„Okay“, begann Leonard, als sie nebeneinander durch den Wechsel von Licht und Schatten die Straße entlanggingen. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wohin Jim ihn führen würde; ihm blieb nichts anderes übrig, als diesem Mann zu vertrauen, und er wusste nicht, inwiefern ihn diese Vorstellung beruhigte. „Lass mich raten: Dieser Kerl vorhin war derselbe, der dafür verantwortlich war, dass ich vor zwei Wochen deine Nase richten durfte?“

Jim schnaubte. „Ich weiß überhaupt nicht, wie du darauf kommst.“

Er kickte einen Stein vom Gehweg auf die Straße. Das hohle Klackern auf dem Asphalt verhallte wirkungslos, ein Misston im Konzert der Nacht.

„Hendorff hat es aus irgendeinem Grund auf mich abgesehen, seit wir damals in der Bar aneinandergeraten sind. Da hat er übrigens auch schon unfair gekämpft, nur dass du’s weißt. Wir hatten neulich eine weitere, nicht unbedingt erfreuliche Begegnung, und als er mich dann vorhin alleine dort warten sah, konnte er es sich nicht verkneifen, mich zu provozieren. Komisch nur, dass er das immer nur dann macht, wenn er sich mindestens zwei zu eins in der Überzahl gegen mich befindet.“

„Sein Provokationsversuch muss ja ziemlich erfolgreich gewesen sein“, entgegnete Leonard leichthin. „Was hat er gemacht – deinen Vater beleidigt?“

Sofort wusste er, dass er einen empfindlichen Punkt getroffen hatte; es wirkte, als schlössen sich eiserne Tore hinter Jims Augen. Die Botschaft war überdeutlich: bleib draußen.

„Ist nicht wichtig“, sagte Jim knapp, ein ebenso plumper wie klarer Versuch, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. In jeder anderen Nacht hätte Leonard sich darauf eingelassen, denn ja, er wusste genau, wie es sich anfühlte, nicht über seinen Vater sprechen zu wollen, oder über Familie allgemein. Trotzdem, an diesem Tag, nach allem, was vorgefallen war, konnte er sich eine weitere Bemerkung nicht verkneifen.

„Himmel, du lässt dich wirklich von so einer Kleinigkeit dermaßen auf die Palme bringen? Das ist doch die übliche billige Taktik, wenn du jemanden nicht leiden kannst: Beleidige seine Eltern. Kein Grund, gleich eine Schlägerei anzufangen – und ehrlich, was kann denn dieser Hendorff schon über deinen Vater wissen?“

Jim blieb so plötzlich stehen, dass Leonard beinahe ins Straucheln geriet – einerseits vor Überraschung, andererseits wegen der Härte in Jims Gesichtszügen, die nicht richtig in das Bild passte, das sich Leonard bisher von dem jungen Mann gemacht hatte.

„Vergiss es einfach, okay?“

„Ich ... okay“, sagte Leonard verwirrt. Was zur Hölle hatte er nun schon wieder falsch gemacht? „Ist was mit deinem Vater ... ich meine, du hast recht. Es geht mich nichts an. Entschuldigung“, fügte er hastig hinzu, doch Jim wirkte nun nicht mehr ärgerlich; die Härte in seinen Augen wurde durch Unglaube ersetzt.

„Warte mal ... du weißt es nicht?“

„Ich weiß was nicht?“, entgegnete Leonard verteidigend, in dem sicheren Gefühl, das Offensichtlichste überhaupt zu übersehen. Manchmal war er darin beängstigend gut.

Anstelle einer Antwort wandte Jim den Blick ab, jedoch nicht schnell genug, um die Verletzlichkeit zu verbergen, die sich in seine Augen geschlichen hatte und selbst in der Halbdunkelheit nicht zu übersehen war. Es war eine Verletzlichkeit, die von tiefen, längst nicht verheilten Wunden herrührte und die Leonard verdächtig bekannt vorkam.

Bilder wirbelten in seinem Geist umher, Gesprächsfetzen, Eindrücke ... all das Wenige, das er über Jim Kirk wusste ...

Und auf einmal kam er sich so unfassbar dumm vor. Jim Kirk. Jim Kirk.

„Scheiße.“

Ein gequältes Lächeln huschte über Jims Gesicht. „Ja. Scheiße.“

Leonard schluckte. Er hätte es wissen müssen. Jeder wusste es. Dass er zu sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt gewesen war, galt nicht als Entschuldigung für diese Blindheit.

„Die Kelvin“, sagte er leise. Wie hatte er es nicht sehen können?

Jim seufzte. Mit seinem gebeugten Kopf, den wie zum Schutz hochgezogenen Schultern und vor allem vor dem Hintergrund des neuen Wissens, das sich gerade enthüllt hatte, kam er Leonard wie ein völlig anderer Mann vor als noch vor fünf Minuten – älter, müder und gleichzeitig so viel schutzbedürftiger. Auf eine gewisse Weise ergab es Sinn. Auf eine gewisse Weise fügten sich die neuen Informationen perfekt in das Gesamtbild Jim Kirk ein.

„Hör zu, ich bin immer froh, wenn Leute nicht gleich bei der ersten Begegnung darauf zu sprechen kommen. Es kommt mir dann immer so vor, als sähen sie nicht mich vor sich, sondern meinen Vater, den großen Captain George Kirk, Vorzeigeheld der Sternenflotte ...“

Die Bitterkeit in seiner Stimme klang allzu vertraut. Jemand sein zu müssen, der man nicht war, war eine schwere Bürde, und wer diese Bürde einmal getragen hatte, erkannte seine Leidensgenossen meistens. Wenn auch manchmal erst spät.

„Ich dachte, du hättest es längst gewusst. Du musst doch etwas von den lächerlichen Gerüchten gehört haben, die überall in der Akademie kursieren ... dass ich nur wegen dem berühmten Namen meines Vaters aufgenommen wurde ... dass ich niemals in der Lage sein werde, so gut zu sein wie er ...“

Er lächelte bitter. „Na ja, selbst wenn du nichts davon gehört hast, Hendorff hat es.“

Leonard verschränkte die Arme. Nun, da sie sich nicht mehr bewegten, ließ der kühle Wind ihn erneut frösteln.
„Jim, ich ...“

Jim machte eine abwehrende Handbewegung. „Vergiss es. Ich komme schon damit klar. Nur manchmal kotzt es mich einfach so an, dass ich diesen verdammten Namen mit mir herumschleppe, wo immer ich bin. Obwohl, eigentlich kann ich mich nicht beschweren. Meinen Bruder hat es im Vergleich zu mir noch schlimmer erwischt. Er heißt George mit Vornamen.“
Er lächelte ein weiteres Mal, diesmal unbeschwerter. „Und ich habe absolut keine Ahnung, wieso ich dir das alles überhaupt erzähle.“

Mit einer gewissen Erleichterung erwiderte Leonard das Lächeln, zögernd und vorsichtig zwar – doch später würde er sich daran erinnern, dass es das erste Lächeln war, das er mit Jim Kirk teilte. Die Anspannung der letzten Momente war vorüber.

„Ich werde es für mich behalten.“

Jim nickte kaum merklich. Er sah nicht Leonard an, sondern richtete seinen Blick in die Ferne, wo sich die Golden Gate Bridge funkelnd von der mit Lichtpunkten gescheckten Schwärze der Nacht abhob.

„Was ist denn mir dir?“, fragte er. „Was verschlägt einen aviophobischen Arzt aus, lass mich raten, Georgia – so, wie du redest – in die Sternenflotte?“

Eine Spur des üblichen Sarkasmus mischte sich in Leonards Lächeln. „Abgesehen von einer Familientragödie, einem unmöglichen Dilemma, einer in die Brüche gegangenen Ehe und einer habgierigen Exfrau?“

Jim schien zu verstehen. „Klingt ja fast genauso beschissen wie meine Geschichte“, urteilte er mit einem schiefen Grinsen, und Leonard zuckte die Schultern. Das nannte sich Leben, und während die Vergangenheit nicht geändert werden konnte, bestand immerhin die winzige Chance, dass die Zukunft besser werden könnte, auf irgendeine Weise, die sich seiner Vorstellung noch entzog. Wer wusste schon ...

Jim fragte nicht weiter, und Leonard war ihm dankbar dafür. Es gab Wunden, die nie verheilen würden, und Angelegenheiten, über die man nicht gerne sprach, schon gar nicht mit einem größtenteils Fremden. Für diesen Abend hatten sie genug Informationen übereinander ausgetauscht.

„Dann können wir eigentlich weitergehen, was? Bin gespannt, ob wir heute noch zu unserem Bier kommen“, bemerkte Jim, nun wieder in den lockeren Tonfall zurückfallend, der Leonard fast schon vertraut war und mit dem er auf jeden Fall besser umgehen konnte als mit der verletzlichen Härte in Jims Stimme.

Sie gingen einige Schritte, dann zögerte Jim ein letztes Mal. „Ach ja, und ... keine Fragen oder Kommentare mehr über meinen Vater, klar? Falls du das irgendwie nachvollziehen kannst, ich rede nicht gerne darüber.“

Fast hätte Leonard gelächelt. Es schien fast so, als hätte er die erste Gemeinsamkeit zwischen sich und Jim entdeckt: Er selbst redete auch nicht gerne über seinen Vater.

Und als der Abend voranschritt und ihr Gespräch sich in einer überraschend annehmbaren Bar unverfänglicheren Themen zuwandte – Neuigkeiten aus dem Universum, ihre Ausbilder, der Unterrichtsstoff –, glaubte er, vielleicht noch weitere Gemeinsamkeiten mit Jim Kirk zu entdecken. Auf jeden Fall erlangte er in dieser Nacht eine Erkenntnis, die vielleicht, ganz vielleicht, die Unannehmlichkeiten der letzten Woche aufwog: Womöglich war Jim Kirk gar kein so übler Kerl, wie Leonard anfangs befürchtet hatte.

Auch wenn er das niemals laut ausgesprochen hätte.
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