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Per aspera ad astra

von Laurie

Kapitel 2

Wie rettete man jemanden, der nicht gerettet werden wollte? Was war effektiver – sollte man mit ihm springen oder lieber unten warten und ihn auffangen?

Leonard wusste es nicht. Im Laufe seiner Karriere hatte er oft vor unmöglichen Entscheidungen gestanden und er war weiß Gott kein blutiger Anfänger mehr, aber wenn es um seinen besten Freund ging, fühlte er sich hilflos wie am ersten Tag. Jim machte es ihm wirklich nicht leicht, seine trotzige Einstellung beizubehalten – nein, er würde Jim nicht aufgeben, nicht nur, weil er Spock ein Versprechen gegeben hatte, nicht, weil er sich als Arzt um jeden kümmerte, nicht nur, weil Jim ihn brauchte ... sondern auch und vor allem, weil auch er Jim brauchte. Und er würde nicht zulassen, dass sein Freund sich das Leben, in das er sich so mühsam zurückgekämpft hatte, selbst verbaute.

Dass Jim nicht auf seine nächsten Nachrichten reagierte, überraschte Leonard nicht mehr. Seit ihrem missglückten Gesprächsversuch hatten sie keinen Kontakt zueinander gehabt, und als Leonard nach seiner Schicht in Jims Wohngebäude aus dem Aufzug stieg und auf die geschlossene Tür starrte, überkamen ihn die Erinnerungen an das jüngste Desaster.

Diesmal allerdings, das hatte er sich mit grimmiger Entschlossenheit geschworen, würde er nicht so leicht aufgeben. Und wenn er die gesamte Nacht vor Jims Wohnungstür warten und die Klingel im Sekundentakt drücken müsste – er würde nicht klein beigeben.

Mit einer vergeblichen Hoffnung – bitte, lass ihn zu Sinnen gekommen sein – presste Leonard den Zeigefinger auf die Klingel. Nichts rührte sich. Innerlich seufzend versuchte er es weiterhin, und beim vierten Mal ertönte hinter seinem Rücken eine unbekannte Stimme.

„Falls Sie zu Kirk wollen, der ist nicht da.“

Leonard fuhr herum. Eine Frau, ungefähr in seinem Alter, war aus der gegenüberliegenden Wohnung getreten und musterte ihn abschätzig. Leonard erinnerte sich nicht daran, sie jemals zuvor gesehen zu haben, aber das musste nichts bedeuten – die Sternenflotte war groß.

Er räusperte sich. Unter ihrem stechenden Blick fühlte er sich alles andere als wohl.

„Wissen Sie zufällig, wo er ist?“, fragte er und versuchte, seiner Stimme einen Hauch von Autorität zu verleihen, um nicht endgültig als völliger Idiot dazustehen.

Die Frau zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Der kommt und geht, wie es ihm passt. Hat heute Morgen das Haus verlassen, seitdem hab ich ihn nicht mehr gesehen.“

Ihre Worte formten sich zu einer weiteren Hiobsbotschaft, und Leonard wurde schwer ums Herz. Jim war schon den ganzen Tag über fort, irgendwo dort draußen, verloren in der anonymen Gleichgültigkeit der Großstadt, verfolgt von den Dämonen in seinem Inneren ... wahrscheinlich völlig alleine, ohne jemanden, der ihn auffing, wenn er zum letzten Mal stolperte.

Leonard schluckte, als könnte er damit die beängstigenden Gedanken verscheuchen – eine Methode, die noch nie funktioniert hatte, auch diesmal nicht.

„Alles klar ... danke“, sagte er, zu besorgt, um sich verlegen zu fühlen. Wen interessierte es schon, was diese Frau von ihm dachte?

Die Frau warf ihm einen letzten, misstrauischen Blick zu – man wusste ja nie, womöglich handelte es sich bei ihm um einen selten dämlichen Einbrecher oder Schlimmeres –, dann drehte sie sich um und verschwand im Aufzug, Leonard mit einer seltsamen Leere in seiner Brust zurücklassend.

Als er langsam zurücktrat, spürte er die Wand in seinem Rücken. Schwerfällig ließ er sich daran hinabgleiten, bis er neben Jims Wohnungstüre auf dem Boden saß, die Knie angewinkelt, die Arme um den Körper geschlungen. Er verharrte lange in dieser unbequemen Position, mit niemandem zur Gesellschaft als den düsteren Szenarien in seinem Kopf.

Irgendwann zog er sein PADD hervor und versuchte es mit weiteren Nachrichten an Jim, aber natürlich kam keine Antwort, und mit jeder verstreichenden Minute wurde das Heer an Sorgen größer. Doch noch etwas anderes nahm zu: seine Entschlossenheit. Er hatte sich vorgenommen, für Jim da zu sein, und er würde dieses Vorhaben verdammt noch mal in die Tat umsetzen. Selbst wenn das hieß, den ganzen Abend und die halbe Nacht vor Jims Wohnungstüre zu hocken.

Draußen kam ein heftiger Wind kam auf, begleitet von dichtem Regen, der Leonards einsame Wache noch einsamer erscheinen ließ. Vor den  Fenstern senkte sich die Dunkelheit herab, die Kälte kroch mit eisigen Fingern unter Leonards Jacke und sein Magen meldete sich hungrig zu Wort; er ignorierte alles, den Hunger, die Kälte, seine schmerzenden Glieder. Hier ging es nicht um sein Wohlbefinden, sondern um Jims – und Jim, so viel stand fest, hätte und hatte genau dasselbe für ihn getan.

Als Jim schließlich nach etwas, das sich wie eine besonders lange Version der Ewigkeit anfühlte, aus dem Fahrstuhl trat, war Leonard halb eingenickt. Das leise Pling, mit dem sich die Aufzugstüren öffneten, riss ihn unsanft zurück in die Wirklichkeit und er schreckte gerade rechtzeitig hoch, um zu sehen, wie Jim sich schwankend an der Wand abstützte.

„Jim!“

Leonard sprang auf, so hastig, dass ihm für einige lästige Momente schwarz vor Augen wurde, ehe sein Kreislauf in Schwung kam. Jim sah ihn an, aber er sagte nichts. Keine Fragen, keine Beschwerden, keine Verwünschungen. Keine Verwunderung und keine Wut, nur Gleichgültigkeit und ein leerer Blick, der Leonards Herz bis in den hintersten Winkel durchdrang.

„Hey, Jim“, wiederholte er leise und trat auf seinen Freund zu. Fast hoffte er, dass Jim ihm ausweichen würde, doch er ließ widerstandslos zu, dass Leonard ihn an den Oberarmen packte und zu sich herumdrehte; und dieses Desinteresse tat mehr weh als jede Feindseligkeit.

„Wo warst du, Jim? Was ist passiert?“

Jim antwortete nicht. Stumm wie eine Puppe und ebenso willenlos stand er da, wehrte sich nicht, erklärte nichts – und eigentlich waren auch keine Erklärungen nötig. Jims ausdruckslose Miene sprach Bände; aus seinen nassen Haaren lief Wasser in seine Augen, die Kleidung klebte ihm am Körper, und er zitterte. Was immer er dort draußen den ganzen Tag über getrieben hatte, es hatte ihn an den Rand der psychischen und physischen Belastungsgrenze getrieben.

„Oh, Jim“, sagte Leonard verzweifelt – doch was hatte er erwartet? Wieder einmal hatte Jim etwas zerbrochen, diesmal ausgerechnet sein eigenes Leben, und auch wenn der Preis höher war als jeder, den sie zuvor hatten zahlen müssen, würde Leonard auch dieses Mal wieder da sein, um die Scherben zusammenzukehren. Wie immer.

Sanft bugsierte er Jim zur Wohnungstüre, und ebenso sanft brachte er ihn dazu, den Scan durchzuführen, der die Türe öffnete. Automatisch folgte Jim jeder seiner Anweisungen; ohne Widerspruch ließ er sich zum Sofa führen, die nasse Kleidung ausziehen und in eine Decke wickeln, und auch die hastig zubereitete Tasse Tee, die Leonard ihm reichte, nahm er entgegen.

Wie er dort kauerte, mit angezogenen Knien, die Hände um die Tasse geschlungen und den Blick gesenkt, erinnerte er Leonard mehr denn je an ein hilfloses Kind. Es gab so vieles, was er ihm sagen wollte, doch sein Instinkt riet ihm zum Schweigen, und so wartete er ab, bis Jim von sich aus den ersten Schritt unternahm.

Bis es so weit war, dauerte es eine ganze Weile, und als Jim zu sprechen begann, näherte er sich dem Thema, dem einen, das die höchste Mauer zwischen ihnen errichtete, in einem weiten Bogen. Vorsichtig, über viele Umwege.

„Hast du Spock auf mich angesetzt?“

Leonard lehnte sich nach vorne, von dem unbewussten Wunsch getrieben, Jim so nahe wie möglich zu sein. Ihn wissen zu lassen, dass er nicht alleine war.

„Nur zu deinem Besten“, sagte er sanft. Was Spock wohl versucht haben mochte, um Jim unauffällig wieder in die richtige Richtung zu lenken? Wie auch immer – besonders erfolgreich schien er nicht gewesen zu sein.

Jim nahm einen vorsichtigen Schluck, obwohl der Tee längst kalt sein musste.
„Da seid ihr beide zu spät“, sagte er. Und dann kamen sie endlich, die Worte, auf die Leonard so lange gewartet hatte, die Einsicht, das Geständnis. Das Teilen des Leides, das nötig war, wenn man den Weg nach vorne beschreiten wollte.

Jim sah ihn nicht an, als er aussprach, was Leonard  längst wusste.
„Ich glaube, ich habe einen Teil von mir verloren. Früher war da so viel, so viele Eindrücke, so viele Farben, und jetzt ... jetzt ist da nur noch Leere.“

Auf einmal fiel Leonard das Schlucken schwer. Er hatte gewusst, dass Jim so fühlte, spätestens seit ihrem gescheiterten Gesprächsversuch zwei Tage zuvor, aber das machte es nicht leichter. Wenn er es nur früher gesehen hätte ... Vielleicht hätte er dann den Schlag abschwächen können. Vielleicht.

„Ich weiß, Jim“, gab er Jim die Bestätigung, die er brauchte, die sie beide brauchten.

Endlich hob Jim den Kopf und sah ihm direkt in die Augen. Zum ersten Mal, seit Leonard ihn kannte, hatte er seine Schutzschilde vollständig sinken lassen, und die Verletzlichkeit, die ihren Schatten über sein Gesicht warf, sorgte dafür, dass sich etwas in Leonard zusammenkrampfte, jäh und schmerzhaft. Er verschränkte die Arme, um das plötzlich aufkochende Verlangen danach, Jim zu umarmen, ihn festzuhalten, zu bekämpfen.

„Es gibt so viele Leute, die sich auf mich verlassen, die denken, dass ich einfach weitermachen kann ... die mich für etwas Besseres halten, als ich bin“, fuhr Jim fort. Er hatte wieder zu zittern begonnen, und nun zitterte auch seine Stimme. Mit jeder weiteren Sekunde zeigte sich der Kontrast zwischen dem Jim, der hier vor Leonard auf dem Sofa saß, und dem Jim, der noch vor weniger als zwei Monaten leichtfertig die Oberste Direktive verletzt hatte, deutlicher auf. Dieser andere Jim war überheblich gewesen, unbedacht, rücksichtslos und in seiner Selbstüberschätzung vielleicht nicht immer einfach im Umgang – und Leonard wünschte sich ihn mit aller Macht zurück. Wieso lernte man die Dinge immer erst dann zu schätzen, wenn man sie verloren hatte?

„Sie denken, ich sei mutig und selbstlos und aufopferungsvoll ... aber das bin ich nicht, Bones. Ich bin nichts davon, und ich ... ich habe Angst. Captain Pike hat an mich geglaubt, und ich weiß nicht mehr, wieso. Ich ... kann nicht mehr.“

Leonard öffnete den Mund, aber die Versicherung, die er Jim geben wollte, geben musste, kam nicht über seine Lippen; sie wurde zurückgedrängt von einer übermächtigen Angst, die alles Denken in lähmende Schwere verwandelte.

Jim würde sein Leben nicht so einfach wegwerfen, er würde nicht aufgeben, das lag nicht in seiner Natur, Jim war ein Kämpfer und er würde weiterhin für alles kämpfen, was sein Leben lebenswert machte ... Würde er?

„Ich weiß“, sagte Leonard leise, „ich weiß.“

~°~


von: Cdr. W. KIRK
an: Dr. L.H. McCOY
Entschuldigen Sie bitte meine verspätete Antwort, ich habe Ihre Nachricht erst jetzt erhalten. Ich muss Ihnen nicht sagen, wie froh ich bin, dass Jim wieder aufgewacht ist, und ich hoffe natürlich, dass er auch weiterhin Fortschritte machen wird. Was eventuelle psychische Probleme angeht, die Sie befürchten, möchte ich Sie beruhigen; Sie kennen Jim zwar inzwischen wahrscheinlich besser als ich, aber wenn es eines gibt, das ich über ihn weiß, dann, dass er sich durch nichts unterkriegen lässt, genau wie sein Vater. Das wird sich nicht geändert haben. Jim wird seinen Weg beschreiten, und da ich dabei nicht an seiner Seite sein kann, wäre ich sehr glücklich, wenn wenigstens Sie sich weiterhin um ihn kümmern würden.
Ich kann gar nicht oft genug wiederholen, wie dankbar ich Ihnen für Ihren Beistand in dieser schwierigen Zeit bin. Wie ich Jim kenne, hat er es Ihnen nie gesagt, aber die Wahrheit ist – er wäre verloren ohne Sie.
Ich wünsche Ihnen, und Jim, weiterhin alles Gute.
Winona Kirk

~°~


„Was liest du da eigentlich die ganze Zeit, Bones?“, fragte Jim müde, und Leonard beeilte sich, das verächtliche Lächeln von seinem Gesicht verschwinden zu lassen.

„Nichts, was dich zu interessieren hätte“, gab er zurück.

Früher hätte Jim sich nicht so einfach abspeisen lassen, aber früher war ihnen längst entglitten. Sie mussten versuchen, mit dem zurechtzukommen, was noch blieb, und manchmal war das gar nicht so einfach; auf jeden Fall war es kompliziert genug, um Jims Interesse wieder von Leonard abzulenken.

Mit einem gemurmelten „Weck mich auf, wenn das Essen fertig ist“ zog er sich die Decke bis unter das Kinn und drehte sich auf dem Sofa um. Leonard beobachtete, wie er das Gewicht so  lange verlagerte, bis er eine bequeme Position gefunden hatte, dann wandte er seine Aufmerksamkeit erneut seinem PADD zu.

Die Nachricht, die auf dem Display leuchtete, hatte ihn nach einer viel zu kurzen Nacht aus dem Schlaf gerissen – irgendwann waren sie beide eingeschlafen, nebeneinander auf dem Sofa, und Leonard fragte sich immer noch, wie er die Nacht überlebt hatte; sein Rücken tat weh, sein Nacken ebenso, und sein Chef würde ihn umbringen, weil er sich kurzentschlossen selbst krankgeschrieben hatte, aber wen kümmerte es? –, und er hatte sie seitdem dutzende Male gelesen.

Ich hoffe, dass er auch weiterhin Fortschritte machen wird. Fortschritte.

Er konnte Winona Kirk nichts vorwerfen, wirklich nicht. Sie liebte ihren Sohn, davon war Leonard überzeugt, aber das half Jim momentan leider nicht weiter. Seine Mutter trieb sich auf einem Forschungsschiff irgendwo am anderen Ende der Galaxie herum, Nachrichten an sie kamen nur mit gefühlt endloser Verspätung durch, und sie war erbärmlich schlecht über die Vorgänge auf der Erde informiert. Dass ihr Sohn aus dem Koma aufgewacht war, wusste sie immerhin, aber von der aktuellen Lage der Dinge hatte sie keine Ahnung. Und selbst, wenn es anders gewesen wäre – was hätte es für einen Unterschied gemacht? Winona könnte Jim ohnehin nicht helfen, dort am anderen Ende der Galaxie.

Jims Mutter konnte nicht für ihn da sein, aber Leonard konnte es. Und dafür würde er mehr auf sich nehmen als den Ärger seiner Vorgesetzten oder schmerzende Glieder.

Es war Leonard, der mehr als alle anderen für Jim sorgte, so wie er es immer getan hatte und immer tun würde.

Es war Leonard, der sich über alle Einwände und Beschwerden hinwegsetze und Jim kurzentschlossen zur besseren Überwachung in seiner eigenen, spartanisch eingerichteten Wohnung einquartierte, der Jim sein Bett überließ und sich mit dem Sofa zufriedengab, und der sicherstellte, dass Jim ausreichend aß und schlief.

Und es war Leonard, der nachts zu Jim eilte, wenn seine Schreie ihn aus dem Schlaf gerissen hatten, der Jim festhielt und ihm über den Rücken strich und ihm sinnlose Worte des Trostes zuflüsterte, und der so lange bei ihm blieb, bis Jim in seinen Armen wieder eingeschlafen war, besiegt von der Angst und Scham und Erschöpfung. Wenn er eine Weile auf Jims beruhigend gleichmäßige Atemzüge gelauscht und ihn sorgfältig zugedeckt hatte, verließ er leise das Zimmer; und erst zurück auf dem Sofa, lautlos, das Gesicht in das Kissen gepresst, ließ er seinen Tränen freien Lauf.

~°~


Jim würde sein Leben nicht so einfach wegwerfen, er würde nicht aufgeben, er würde weiterhin kämpfen ... Würde er?

Würde er?


Noch vor sechs Wochen hätte Leonard nicht an der Antwort auf die sich ihm immer wieder aufdrängende Frage gezweifelt. Vor sechs Wochen hatte Jim gekämpft, selbst in der aussichtslosesten Situation, ohne Rücksicht auf Verluste, und Leonard wollte daran glauben, dass sich das nicht geändert hatte.

Wenn Jim Kirk aufgäbe, würde das das Ende der Welt bedeuten, wie sie sie kannten. Er wollte daran glauben, wirklich. Nur dass diese Welt vielleicht schon längst ihren Untergang gefunden hatte, ohne dass er es wahrhaben wollte. Und ob aus ihren Trümmern eine neue Welt, eine neue Hoffnung entstehen könnte oder ob sie einem allumfassenden Nichts weichen müsste, lag einzig und alleine in Jims Hand.

„Jim?“

Vorsichtig stellte Leonard seine Einkaufstaschen auf dem Küchentisch ab. Seit Jim bei ihm wohnte, verließ er das Haus nur ungerne; jede Sekunde, die er sich nicht hier befand, befürchtete er, dass Jim ihn brauchen würde, und dann wäre er nicht da, dann hätte er endgültig versagt. Am liebsten hätte er Jim Tag und Nacht überwacht, aber gewisse Dinge mussten nun einmal erledigt werden, und außerdem war Jim kein kleines Kind mehr und nicht auf dauerhafte Betreuung angewiesen. Unter normalen Umständen.

„Hey, Jim, ich bin wieder da!“

Mit wachsender Nervosität lauschte Leonard auf die Stille.

„Jim? Bist du hier?“

Noch immer rührte sich nichts. Keine Schritte ertönten, keine Gestalt tauchte im Türrahmen auf und keine Stimme rief ihm in genervtem Tonfall zu: „Was bist du, Bones, mein Babysitter? Ich bin hier, verdammt noch mal, und mir geht’s gut. Du hast mich aufgeweckt!“ Nur Stille antwortete ihm, eine alles verschlingende Stille.

Leonard zwang sich zur Ruhe. Vielleicht waren Jim einfach die Wände zu eng geworden, vielleicht vertrat er sich nur kurz die Füße und hatte aus Bequemlichkeit keine Notiz hinterlassen, obwohl er wissen musste, dass Leonard sich Sorgen machen würde. Vielleicht hatte er es auch vergessen. Sehr wahrscheinlich sogar ...

So sehr er auch versuchte, sich selbst zu beruhigen, das ungute Gefühl, das ihn schon beim Betreten der Wohnung überfallen hatte, wuchs. Ärztlicher Instinkt, Vorahnung ... worum auch immer es sich handelte, es trieb Leonards Adrenalinspiegel in die Höhe.

„Jim, wenn du hier bist, dann komm her oder sag was, zur Hölle!“, rief er in die stille Wohnung. Wenig überraschend erhielt er auch jetzt keine Antwort.

Innerlich fluchend begann Leonard, nacheinander die einzelnen Zimmer zu kontrollieren. Schlafzimmer – leer. Wohnzimmer – leer. Vielleicht hatte Jim seinen Kommunikator mitgenommen und er könnte ihn damit erreichen, oder vielleicht ...

Er fand ihn im Badezimmer. Bei dem Anblick, der sich ihm bot, schaltete irgendetwas in Leonards Gehirn ab – beinahe so, als würde ein Notfallschalter umgelegt, der ihn als Arzt auch in den kritischsten Situationen funktionieren ließ und verhinderte, dass seine persönlichen Empfindungen seine Arbeit beeinflussten. Alles, was übrig blieb, war eine übermächtige Leere, so stark, dass sie selbst die Verzweiflung im Schach hielt.

Jim saß mit angezogenen Knien in der Dusche, vollständig bekleidet und den Rücken gegen die Wand gelehnt, mit zerzausten Haare und leerem Blick, doch das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war das Blut, das den Boden der Dusche rot färbte, das Blut, das aus einem langen Schnitt in Jims linkem Unterarm quoll und einen brutalen Kontrast zu den weißen Fliesen bildete. Zwischen Jims Füßen, inmitten all des Blutes, lag eine Rasierklinge. Altmodisch, in diesen Zeiten kaum noch benutzt, aber immer noch dafür geeignet, Schaden anzurichten.

„Oh Gott, Jim ...“, stieß Leonard hervor, und dann übernahm der Autopilot das Kommando. Wie ferngesteuert schnappte er sich seinen Erste-Hilfe-Kasten, stellte ihn neben der Dusche ab und kauerte sich vor Jim. Die Augen des anderen Mannes waren glasig und unfokussiert; er starrte Leonard an wie einen Fremden.

„Jim, ich bin’s. Leonard. Bones. Es ist alles gut“, sagte er so beruhigend wie möglich. Verdammt, er war Arzt, es war nicht das erste Mal, dass er Jim zusammenflickte, und es würde nicht das letzte Mal sein, zumindest hoffte er das. Solange er Jim noch zusammenflicken könnte, wäre alles gut.

„Wir kriegen das wieder hin ... es wird alles gut. In Ordnung?“

Er wusste nicht, wem er mit diesen Worten eine Versicherung geben wollte – Jim oder sich selbst.

„Alles wird gut, hörst du?“

Leere Worte, die sinnlosesten, die es überhaupt gab; und trotzdem verschwand etwas von der namenlosen Panik aus Jims Augen, als Leonard weiterredete, während er Jims Arm genauer betrachtete.

Der Schnitt war tief, doch glücklicherweise hatte Jim, ob nun bewusst oder unbewusst, die Pulsader verfehlt, und Leonard war rechtzeitig gekommen, um Schlimmeres zu verhindern. Hatte Jim damit gerechnet, dass er ihn fand? Hatte er es gewollt? Hatte er sein Vorhaben deshalb nicht sofort, nachdem Leonard das Haus verlassen hatte, in die Tat umgesetzt?

„Oh, Jim, was hast du nur getan ...“, murmelte Leonard zwischen zwei Handgriffen. Die vertrauten Bewegungen gaben ihm etwas, woran er sich festhalten konnte, und er hoffte, dass sich etwas von seiner fragilen Sicherheit auch auf Jim übertragen würde.

„Ich wollte nicht ...“, murmelte Jim plötzlich. Sein Blick huschte im Nichts umher.

„Ich weiß, Jim. Ist gut“, sagte Leonard. Um alles in der Welt musste er verhindern, dass Jim sich nun zusätzlich aufregte.

Mit der rechten Hand packte Jim ihn am Arm und zwang ihn, in der Bewegung innezuhalten. Ein flehentlicher Ton mischte sich in seine Stimme; es war, als bäte er um Vergebung.

„Es ist ein Teil von ihm, verstehst du? Sein Blut ... in mir ... ich ...ich will ... nicht ...“

Schaudernd brach er ab, und Leonard konnte nicht mehr tun, als Jims Hand in die seine zu nehmen und tröstend zu drücken.

„Ich weiß, Jim, ich weiß. Wir kriegen das schon wieder hin. Wir kriegen das hin ...“

Er wiederholte es wie ein Mantra, als könnte er irgendwann selbst daran glauben, wenn er es sich nur lange genug vorsagte.

~°~


„Computer, stelle mich zu Commander Spock durch.“

„Befehl wird ausgeführt.“

„Spock hier. Gibt es neue Entwicklungen, Doktor McCoy?“

„Wenn Sie es so nennen wollen ... Ich glaube, wir haben den Wendepunkt erreicht. Im positiven Sinn. Auch wenn ich es nicht besonders positiv fand, Jim neulich so zu finden ...“

„Ich nehme an, der Captain wird keine physischen Schäden von dieser ... intuitiven Handlung davontragen?“

„Verdammt, Spock, ich bin Arzt und ich kümmere mich um Jim. Natürlich wird er keine Schäden davontragen. Im Gegenteil, ich glaube wie gesagt, dass wir den Wendepunkt erreicht haben. So pervers es klingt, vielleicht war dieser ... Zwischenfall nötig, um Jim wieder auf den richtigen Kurs zu bringen. Er wird langsam wieder er selbst.“

„Es freut mich, das zu hören, Doktor.“

„Sie müssen ja wirklich außer sich vor Begeisterung sein, wenn Sie sich zu so einer Äußerung hinreißen lassen. – Ach, und übrigens, Spock, können Sie der Crew bitte sagen, dass sie um Himmels willen endlich aufhören soll, diese altmodischen Karten mit Genesungswünschen an den Captain zu schicken? Die Teile stapeln sich mittlerweile fast bis unter die Decke!“

„Ich werde diesem Wunsch nachgehen, obwohl ich die Beobachtung gemacht habe, dass sich Menschen sehr irrational verhalten, wenn es um das Wohlbefinden von Artgenossen geht, die ihnen wichtig sind.“

„Wenn Sie das meinen. Hören Sie, Spock, ich muss Schluss machen. Ich geb Ihnen bescheid, wenn es was Neues gibt.“

„Ich weiß Ihre Bemühungen zu schätzen, Doktor. Auf Wiedersehen.“

„Wiedersehen. Computer, Verbindung beenden.“

„Befehl ausgeführt. Verbindung beendet.“

~°~


„Ich hab mich so darauf gefreut“, schmollte Joanna, als Leonard sie einige Tage später anrief und ihr schweren Herzens die Nachricht überbrachte, dass er diesen Monat nicht wie geplant zwei Wochen mit ihr verbringen könnte, nur sie beide, endlich einmal wieder nach viel zu langer Zeit.

Eigentlich war ihre Bemerkung überflüssig; die Enttäuschung in ihrer Stimme ließ sich fast mit Händen greifen und reichte völlig aus, um Leonard über den Gemütszustand seiner Tochter ins Bild zu setzen. Sein schlechtes Gewissen vermehrte sich munter. Immer und immer wieder. Würde er jemals aufhören können, Joanna zu enttäuschen? Bisher hatten seine Bemühungen nicht allzu viele Früchte getragen.

„Ich weiß, Süße“, antwortete er mit ehrlichem Bedauern. „Ich mich auch. Wir werden das nachholen, das verspreche ich dir.“

Er hätte lieber seine Lizenz aufgegeben, als auch dieses Versprechen zu brechen, und er hoffte, dass Joanna seine guten Absichten und seinen Schmerz gleichermaßen aus seinen Worten herauslesen konnte.

Sie blieb stumm, und Leonard sprach rasch weiter, um zu erklären, was sich schwer erklären ließ. Jocelyns Stimme, die sich ungefragt in seinem Geist einnistete, machte die Sache nicht einfacher. Wenn du so weitermachst, wird deine Tochter dich irgendwann nicht mehr kennen, Len. Sternenflotte hin oder her, du hast versprochen, auch für sie da zu sein, und dieses Versprechen wirst du gefälligst einhalten. Sonst hätte ich dir gleich das Sorgerecht entziehen können, es macht ja kaum einen Unterschied. Du bist sowieso nie da, das warst du nie ...

„Aber momentan gibt es Dinge, um die ich mich kümmern muss und die sich nicht so einfach verschieben lassen. Du erinnerst dich doch bestimmt noch daran, wer Jim ist, oder? Ich habe dir schon mal von ihm erzählt.“

Leonard wechselte den Kommunikator von einer Hand in die andere und sprach unwillkürlich leiser, damit Jim, der sich irgendwo im Wohnzimmer herumtrieb, auf keinen Fall etwas mitbekam. Sollte er erfahren, dass Leonard einzig und alleine wegen ihm die spärlich bemessene Zeit mit seiner Tochter absagte, würde er sich schlecht fühlen, und damit wäre niemandem geholfen.

„Er ist dein Freund aus der Akademie, stimmt’s?“, sagte Joanna nachdenklich. Der beleidigte Unterton verschwand aus ihrer Stimme, ersetzt durch einen Hauch von Verständnis.

„Genau. Er war sehr krank, und es geht ihm immer noch nicht besonders gut. Er braucht jetzt jemanden, der sich um ihn kümmert und für ihn da ist.“

Einige endlose Sekunden lang herrschte Stille; und als Joanna weitersprach, hätte Leonard sie am liebsten umarmt, lange und fest und auch über die Distanz zwischen San Francisco und Georgia hinweg.

„Dann musst du das machen, Papa“, stellte sie fest, ohne jede Bitterkeit und so selbstverständlich, dass sich ein Kloß in Leonards Hals bildete. Seine Tochter ... mit ihren neun Jahren ein selbstloser, offener Mensch – mehr, als Leonard es jemals sein könnte. Sie verdiente einen Vater, der ihr alle ihre positiven Eigenschaften zurückgab, eindeutig.

Der Kloß in seinem Hals verschwand auch dann nicht, als sie sich längst voneinander verabschiedet hatten. Er schrumpfte erst, als Leonard beim Abendessen beobachtete, wie Jim zum ersten Mal seit Wochen mit einem Anflug seines früheren Appetits seine Mahlzeit in sich hineinschaufelte; und als Jim zwischen zwei Bissen aufblickte, bemerkte, dass Leonard ihn betrachtete, und ihm flüchtig zulächelte, drehte Leonard ertappt den Kopf zur Seite.

Er hatte darin versagt, für Joanna da zu sein, wenn sie ihn brauchte, aber er wäre verdammt, wenn er denselben Fehler auch bei Jim begehen würde.

~°~


von: Dr. L.H. McCOY
an: J. DARNELL
Hab die Sache mit Joanna geklärt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich die Lage hier bis zum Sommer wieder normalisiert haben wird. Ist es okay für dich, wenn ich Joanna in den Sommerferien für zwei oder drei Wochen zu mir hole? Ich würde gerne mit ihr campen gehen.
Leonard

von: J. DARNELL
an: Dr. L.H. McCOY
Zwei bis drei Wochen sind in Ordnung. Das käme mir sogar ganz gelegen – ich könnte die Zeit nutzen, um endlich mal meine Schwester zu besuchen. Ich wollte Joanna nicht unbedingt dorthin mitnehmen. Die Einzelheiten können wir später besprechen.
Campen? Na, viel Spaß. Lasst euch nicht von wilden Tieren fressen.
Joce

~°~


Es ging voran, langsam, aber stetig. Der Arzt in Leonard hatte die Tragweite kleinster Schritte längst zu schätzen gelernt, und zum ersten Mal seit Wochen wagte er es, aufzuatmen.

„Der Captain scheint Fortschritte zu machen, Doktor“, stellte auch Spock fest, und spätestens da wusste Leonard, dass die Krise überwunden war. Endgültig. Und er würde seine Seele höchstpersönlich dem Teufel übergeben, wenn er es noch einmal so weit kommen ließe. Nicht in diesem Leben, nicht mit der fast gesamten Crew der Enterprise zur Unterstützung, die ihr Bestmögliches gegeben hatte, um ihren Captain zurückzubekommen. Sie alle hatten hart gekämpft – Sulu, Chekov, Uhura, Scotty ... und Spock. Vor allem Spock.

„Ja, Spock, das macht er“, sagte Leonard mit einem seiner seltenen Lächeln, und für den irrwitzigen Bruchteil einer Sekunde schien es ihm fast so, als erwiderte Spock dieses Lächeln, ganz flüchtig nur. „Langsam, aber es geht wieder bergauf.“

Es war überflüssig, den ungesagten Zusatz auszusprechen, der zwischen ihnen schwebte. Wenn Leonard in den vergangenen Wochen eines gelernt hatte – abgesehen von der brutalen Kenntnis darüber, wie zerbrechlich das menschliche Leben war, wie zerbrechlich und wie verdammt kostbar –, dann war es, Spock zu lesen, zumindest besser, als jeder andere es konnte, Jim ausgenommen. Sie mochten immer noch ihre Meinungsverschiedenheiten haben, aber in diesen Momenten, am Ende einer Schlacht, die an ihren letzten Reserven gezehrt hatte, wusste er, dass Spock dasselbe dachte wie er.

Ich habe ihn nicht von den Toten zurückgeholt, um ihn so einfach aufzugeben.
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