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Größer als Worte

von Laurie

Sam

Warnung auch für dieses Kapitel: erwähnte/angedeutete Gewalt gegenüber Kindern (off-screen)
Es gibt eine Reihe ungeschriebener Regeln, die jeder instinktiv kennt, ohne sie je gelernt zu haben. Der ältere Bruder beschützt den jüngeren ist eine dieser Regeln. Jim und Sam haben das immer gewusst.

Zumindest hat Jim angenommen, dass Sam das immer gewusst hat. Bisher hat er sich jedenfalls an diese Regel gehalten, ob unbewusst oder nicht, ob es ihm gefallen hat oder nicht. Jim kann sich darum keine Welt vorstellen, in der es jemals anders ist.

Sam und er haben vielleicht nicht das herzlichste Verhältnis, das stimmt. Manchmal haben sie nicht viel mehr als die Tatsache gemeinsam, dass sie dieselben Gene in sich tragen und im selben Haus wohnen. Aber sie verbindet dasselbe Schicksal, sie haben mit denselben Problemen zu kämpfen („Hey, bist du nicht der Sohn von George Kirk?“) und sie haben dieselben Feinde, gegen die sie zusammenhalten müssen (Frank, Moms ständige Abwesenheit und noch mal Frank).

Und Sam ist gut in der Rolle des Beschützers. Er weiß genau, wie er Franks Zorn am besten von Jim auf sich selbst umlenkt, und dasselbe gilt für Moms Missbilligung, wenn sie denn mal zuhause ist, und für den Spott von Jims Schulkameraden. Wenn es darauf ankommt, kann Jim immer auf Sam zählen.

In dieser Nacht kommt es darauf an.

Mit wild klopfendem Herzen und außer Atem schreckt Jim hoch. Es dauert lange, bis er weiß, wo er ist – nicht in einem dem Verderben geweihten Raumschiff, sondern in seinem vertrauten Zimmer –, und noch länger, bis er realisiert, dass sein Gesicht tränennass ist. Wie lange hat er im Schlaf geweint, und um wen hat er es? Um seinen Vater, um seine Mutter, für sich selbst oder für all jene Familien, die durch die Gleichgültigkeit des Schicksals auseinandergerissen werden?

Albträume sind nichts Fremdes für ihn. Seit er sich erinnern kann, suchen sie ihn regelmäßig heim. Manchmal verändern sie sich, manchmal kommen neue hinzu, aber die Träume, die ihn am tiefsten erschüttern, bleiben im Kern immer gleich: sein Vater, der vor Jims Augen mitsamt seinem Schiff in Stücke gerissen wird, und halb verhungerte Kinder auf einem von Plagen gebeutelten Planeten. Letzteres kann er sich nicht erklären, was es nicht weniger beängstigend macht.

Diesmal war der Traum der von seinem Vater, nur dass sein Vater nicht ängstlich geblickt hat, bevor die Explosion ihn erfasste, sondern missbilligend. Natürlich. Wie könnte selbst ein Traum-Vater stolz sein auf das geballte Versagen, das den Namen James T. Kirk trägt?

Ruckartig wischt Jim sein Gesicht trocken, ohne auf das Zittern seiner Hände zu achten. Sobald er seinen Herzschlag unter Kontrolle hat, schaltet er das Licht ein. Er hat keine Angst vor der Dunkelheit, hatte es noch nie, aber der althergebrachte Spruch ist wahr: Im Licht verlieren Albträume etwas von ihrem Schrecken. Allerdings nur etwas davon. Träume wie der, den Jim gerade hatte, benötigen mehr, um sie vollständig zu vertreiben.

Aus leidvoller Erfahrung weiß er, dass nach Träumen wie diesem an Schlaf erst einmal nicht zu denken ist. Es macht nicht viel aus. Morgen – heute, ein Blick auf die Uhr verrät ihm, dass es kurz nach Mitternacht ist – ist Samstag, es gibt also niemanden, der ihn früh am Morgen erwarten wird. Frank ist ein ausgesprochener Langschläfer; die Gefahr, frühmorgens unverhofft für irgendwelche ach so wichtigen Aufgaben aus dem Bett gescheucht zu werden, ist darum nicht allzu groß.

Normalerweise vertreibt er sich in diesen Nächten die Zeit mit Lesen, bis die tröstlichen Fantasiewelten die Kälte seiner eigenen Welt vertrieben haben. In dieser Nacht hat er von vornherein die düstere Vermutung, dass selbst das nicht helfen wird.

Es geschieht selten, dass er sich nach seinen Albträumen allein fühlt – die Art von Alleinsein, die sich nicht mit Musik oder fiktiven Personen zufrieden gibt, sondern sich nur durch die Anwesenheit eines anderen Lebewesens auslöschen lässt. Das Dumme ist nur, dass es in Jims Leben nicht viele Leute gibt, die dafür in Frage kommen. Mom ist wieder einmal auf einer Mission (Ganz kurz nur, hat sie diesmal behauptet; das war vor drei Wochen), und eher müssten sämtliche Höllen, die sämtliche Religionen der Galaxie zu bieten haben, zufrieren, bevor Jim bei Frank Trost suchen würde. Damit bleibt nur eine Person übrig, und auch wenn diese Person nie begeistert von Jims nächtlichen Überfällen ist, hat sie ihn noch nie weggeschickt.

Jim schwingt die Beine aus dem Bett, wendet ein paar Minuten dafür auf, bewusst ein- und auszuatmen, tauscht sein durchgeschwitztes T-Shirt gegen ein trockenes und macht sich barfuß auf den Weg zu Sams Zimmer. Die toten Augen seines Vaters, auf ewig in Jims Unterbewusstsein eingebrannt, verfolgen jede seiner Bewegungen.

Als Sam auf sein zaghaftes Klopfen nicht reagiert, tritt Jim unaufgefordert ins Zimmer – gerade rechtzeitig, um mitzuerleben, wie Sam sich stöhnend aufsetzt.

„Was zum Geier willst du?“ Es ist nicht so abweisend gemeint, wie es klingt, das weiß Jim genau. Sam ist kein Idiot und vor allem ist er trotz seiner Fehler kein schlechter großer Bruder.

„Ich hatte wieder den Traum von Dad“, murmelt Jim, schießt die Tür hinter sich und schlurft ein wenig weiter ins Zimmer.

Sam seufzt. In dem wenigen Licht, das durch die Ritzen in den Rollläden nach innen dringt, sieht er unendlich alt aus; so, denkt Jim, muss ihr Vater ausgesehen haben, als er sich dazu entschlossen hat, den Tod zu wählen. Trotzdem ist er dankbar dafür, dass Sam das Licht nicht einschaltet. Manche Dinge lassen sich leichter ertragen, wenn man das Gesicht des Gegenübers nicht vollständig erkennt.

„Du wirst langsam zu alt dafür, das ist dir schon klar, oder?“

Darauf erwidert Jim nichts. Was soll er schon sagen? Dass es den Albträumen egal ist, ob er zu alt für irgendetwas ist?

„Komm her“, sagt Sam wie immer; und wie immer folgt Jim der Aufforderung sofort und klettert an seinem Bruder vorbei ins hintere Eck des Bettes. Sams einzige Bedingung ist, dass Jim an der Wand liegt, weil Sam es nicht erträgt, zwischen ihm und der Wand gefangen zu sein. Immer auf der Hut, immer fluchtbereit. Jim versteht das nur zu gut.

Sam fragt nicht näher nach seinem Traum, aber das muss er auch nicht. Jim weiß genau, dass Sam ähnliche Träume hat. Was es bei Sam noch schwieriger macht, ist die Tatsache, dass er Dad kannte.

Ein paar Minuten lang liegen sie schweigend nebeneinander. Jim ist es gerade gelungen, seinen Atemrhythmus an den seines Bruders anzupassen, als Sam die Stille bricht. „Im Ernst, du wirst wirklich zu alt für so was.“

Das ist nicht, was Jim hören will. „Es ist ja nicht so, dass wir das jede Nacht machen“, verteidigt er sich.

Früher war das anders. Früher ist er regelmäßig zu Sam ins Bett gekrabbelt, aber in den letzten Jahren kam das kaum noch vor, einfach weil er sich selbst gegenüber eine gewisse Fassade aufrechterhalten will. Sam hat recht: Er ist schon zwölf und kein kleines Kind mehr. Das letzte Mal, als sie sich das Bett geteilt haben, war vor ungefähr einem Jahr, nachdem Sam von seinem letzten Versuch des Weglaufens zurückgekommen war und Jim nach dem Missgeschick mit der alten Corvette ihres Vaters von der Polizeistation. Frank war damals auf keinen von ihnen gut zu sprechen, besonders auf Jim nicht. Jim wagte es eine Woche lang kaum, von Sams Seite zu weichen, aus Angst, dass Frank zu seiner nie zuvor in dieser Intensität erlebten Wut zurückfände.

Vielleicht erinnert sich Sam an dieses letzte Mal, denn er lässt das Thema fallen. „Na ja. Was hast du heute und morgen so vor?“

Gedankenverloren starrt Jim zu dem Fleck Dunkelheit empor, hinter dem sich die Zimmerdecke verbirgt. „Weiß noch nicht. Was lesen vielleicht.“ Sam gegenüber kann er zugeben, wofür ihn seine Altersgenossen auslachen würden; Sam versteht zwar nicht, wieso Jim seine Freizeit nicht unbedingt wie andere Jungen verbringt, aber er akzeptiert es und mehr kann Jim nicht verlangen. „Vielleicht mach ich sogar zur Abwechslung mal meine Hausaufgaben.“

Er hört förmlich, wie Sam die Augen verdreht. „Kannst meine ja gleich mitmachen, du Genie.“

Es tut gut, sich so unbeschwert miteinander zu unterhalten. Mit niemandem sonst gelingt Jim das, weil niemand sonst versteht, was es heißt, ein Kirk zu sein.

Sie reden noch ein wenig über alles, was nicht mit Frank oder Mom oder dem Weltall zu tun hat, bis sie beide zu müde dazu sind. Jim lässt sich einlullen von dem allumfassenden Gefühl der Sicherheit, und das nächste, was er wahrnimmt, ist, dass die andere Hälfte des Betts leer ist und die Zimmertür leise von außen geschlossen wird.

Erst glaubt er, nur zu träumen, einen dieser Träume, bei denen man sich anfangs nicht sicher sein kann, ob sie gut oder schlecht sind. Dann schrillen seine Alarmglocken mit voller Wucht los. Es ist kühl und noch dunkel und Sam ist fort. Instinktiv, wie es nur jemand kann, der schon zu oft zurückgelassen wurde, weiß Jim, dass sein Bruder das Zimmer nicht nur verlassen hat, um auf die Toilette zu gehen.

Er macht sich nicht die Mühe, das Licht einzuschalten und zu prüfen, ob Sams Rucksack an seinem angestammten Platz in der Ecke neben dem Schreibtisch steht. Ohne auf irgendetwas anderes als seine plötzliche Angst zu achten, springt er aus dem Bett und stolpert in seiner Eile fast über seine Füße, noch bevor er die Zimmertür erreicht. Da – fällt unten nicht die Haustür ins Schloss, ganz sanft?

Jim hat früh gelernt, wie man sich leise bewegt. Verstohlen wie ein Einbrecher huscht er die Treppe hinunter, obwohl das Schnarchen aus Franks Zimmer nahelegt, dass Franks Schlaf selbst einem Raubüberfall standhalten würde.

Ohne Schuhe hastet er nach draußen in die Kälte eines frühen Wintertages. Die Dämmerung tupft ihre hellen Farben auf den Saum des Horizonts; normalerweise hat Jim durchaus einen Sinn für derartige Schönheit, heute allerdings könnte er sich nicht weniger dafür interessieren. Und wenn die Apokalypse ausbräche, wäre das egal – alles ist jetzt egal außer der schmalen Gestalt mit dem Rucksack, die soeben den Hof verlässt.

„Sam!“

Franks Schlafzimmer liegt auf der anderen Seite des Hauses, also kann Jim bedenkenlos nach seinem Bruder schreien. Er wiederholt den Namen, diesmal lauter, und rennt los. Dass er sich gleich nach ein paar Schritten den Fuß an einem Stein aufschneidet, ist ihm egal.

Er müsste gar nicht rennen; sobald Sam ihn gehört hat, ist er stehengeblieben. Die genetische Codierung, der nie ganz erlöschende Beschützerinstinkt eines großen Bruders, ist stärker als der Drang, einfach fortzugehen.

„Scheiße, Jim, was machst du hier?“

Sam wirkt nicht einmal wütend, als er Jim mustert – zerzauste Haare, glühendes Gesicht, Schlafanzug und nackte Füße –, sondern nur müde, und das macht alles noch schlimmer.

Jim ist nicht müde. Er hat sich vielleicht in seinem ganzen Leben noch nie weniger müde gefühlt. „Was machst du denn?“, gibt er zurück.

„Das weißt du doch.“

Natürlich weiß Jim das. Wissen und glauben wollen sind allerdings zwei sehr unterschiedliche Dinge. „Aber ... aber nach dem letzten Mal hast du gesagt, dass du vielleicht doch bleiben willst ...“

Nach dem letzten Mal, das war nach Jims Abenteuer mit der Corvette, und sie haben seitdem nie wieder darüber geredet, weil die damit verbundenen Erinnerungen zu schmerzhaft sind.

Sam sieht ihn nicht an. Stattdessen ist sein Blick auf den Horizont gerichtet, als befände er sich gedanklich schon längst am anderen Ende der Welt, und wahrscheinlich tut er das auch. „Vielleicht. Vielleicht funktioniert aber nicht mehr.“

„Aber –“

„Jim, kapierst du nicht? Es ist besser so! Ich pack das alles hier einfach nicht mehr!“[

Jim schlingt die Arme um den Körper, teils wegen der Kälte, teils um sich selbst irgendetwas zu geben, das ihn an die Realität kettet. Und was ist mit mir?, will er fragen, doch er bringt die Wörter nicht hervor. Sie würden Sam ohnehin nicht umstimmen. Sam – George Kirk Junior – hat sich lange vor ihm das Recht erkämpft, derjenige von ihnen zu sein, der die Situation nicht mehr aushalten muss. Jim, der kleine, folgsame Jim, hat nicht so viel Glück.

„In einem Dreivierteljahr werde ich achtzehn, dann wär ich sowieso weg, ob es dir gefällt oder nicht“, fährt Sam ungerührt von dem Tumult in Jims Inneren fort.

„Du wolltest dich nicht mal von mir verabschieden!“ ist das Einzige, was es durch diesen Tumult hindurch schafft.

Sam zuckt mit den Schultern, Jim immer noch nicht anblickend. „Ich dachte, es wär leichter so.“

Jims Schaudern hat nur teilweise etwas mit der Kälte zu tun. Sam ist sein Bruder, er kann ihn nicht einfach hier zurücklassen, vor allem nicht nach letzter Nacht, nicht nach der fragilen Sicherheit. Nicht, wenn Jim niemanden außer ihn hat.

All das und noch viel mehr will Jim ihm sagen, will ihn mit der rohen Ehrlichkeit seiner Emotionen zum Bleiben zwingen, doch er versagt, wie er es schon sein ganzes Leben lang getan hat. Die einzigen zwei Sätze, die er hervorbringt, sind nur ein schwacher Abklatsch dessen, was er wirklich meint. „Geh nicht weg, ich schaff das hier nicht allein! Ich brauch dich!“

Endlich sieht Sam ihn an. „Du kommst schon zurecht, Jimmy, das tust du immer. Viel besser als ich. Und außerdem ... du könntest ja mitkommen.“

Du könntest ja mitkommen. Sam weiß genau, dass es nicht so einfach ist. Sie haben oft genug darüber geredet, haben Pläne geschmiedet und sie sofort wieder verworfen. Sam wird bald achtzehn, aber Jim ist ein schulpflichtiges Kind, und außerdem – wenn er geht, wäre niemand außer Frank hier, niemand, der zählt, wenn Mom wieder nach Hause kommt.

Er schweigt.

„Hab ich mir gedacht“, sagt Sam und dreht sich um. Wie sich herausstellt, kann er Jim sehr wohl hier zurücklassen.

Und das ist sie, die ganze glorreiche Verabschiedung. Keine Umarmung, kein Versprechen auf ein baldiges Wiedersehen, nur zwei im Herzen fremde Brüder an einem kalten Wintermorgen.

Entschlossenen Schrittes geht Sam vom Hof, der Dämmerung entgegen. Er dreht sich nicht mehr um und das ist gut so, denn so bemerkt er nicht, dass Jim weint.

Bislang ist er jedes Mal wieder zurückgekommen. Diesmal wird es nicht so sein, das weiß Jim tief in seinem Herzen. Er kann hoffen, so viel er will, kann in der Stadt Ausschau nach Sam halten oder auf Anrufe warten – nichts wird passieren.

Natürlich wird nichts passieren. Sam Kirk versteht nicht.
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