TrekNation

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Diese gewöhnliche Welt

von Laurie

Kapitel #1

Später weiß Jim nicht einmal mehr, wie es angefangen hat.

Vielleicht fängt es an, als er nach zwei Wochen aus dem Koma aufwacht und Spock dankt, aber nicht Bones. (Koma, denkt er, wie beschönigend – er war tot, und wie soll man mit diesem Wissen umgehen?)

Es ist nicht so, dass er denkt, Bones verdient keinen Dank. Natürlich ist Jim dankbar dafür, am Leben zu sein, er muss dankbar sein, aber er vergisst einfach, mit Bones darüber zu sprechen. So viel passiert um ihn herum, da sind die Untersuchungen und die Behandlungen und die Nachrichten über Tod und Zerstörung und politische Wirrungen, und all das erfordert so viel Energie, dass keine mehr für ruhige Gespräche übrigbleibt.

Vielleicht fängt es auch viel früher an, dort im Maschinenraum der Enterprise, als Jim spürt, dass er stirbt, und vergisst, Scotty zu sagen, dass er nicht nur Spock herbeiholen soll, sondern auch Bones.

Vielleicht fängt es noch früher an, schon während der Akademiezeit, als er wieder und wieder nicht glauben kann, dass Bones ihn nicht im Stich lassen wird. Vielleicht fängt es an, als er Bones‘ Sorgen nicht ernst nimmt, selbst vor dem Warpkern-Fiasko, wie er es gerne bezeichnet. Vielleicht fängt es an mit Zweifeln und Unausgesprochenem und Überarbeitung, die keine Zeit lässt für gemeinsame Unternehmungen; und vielleicht fängt es mit einem Mir geht’s gut an, das ein Lass mich in Ruhe implizierte und das, wie sie beide genau wissen, eine Lüge ist.

Auch jetzt ist Jims Mir geht es gut eine Lüge und natürlich denkt Bones auch diesmal nicht daran, sich so leicht abwimmeln zu lassen. Und vielleicht fängt es auch damit an – dass Jim nach diesen zwei Wochen im Koma so lächerlich schwach und verwirrt ist und ihn das an seine Kindheit erinnert, als er ständig umgeben war von Leuten, die stärker waren als er und keine Skrupel hatten, ihn das wissen zu lassen; und es fängt an, als Jim seine Frustration an Bones auslässt, weil Bones nun mal derjenige ist, der immer da ist.

Inzwischen hegt Jim die Vermutung, dass Bones im Krankenhaus eingezogen ist. Er hat nicht wirklich etwas anderes erwartet; natürlich ist Bones da, wie er es in den vergangenen vier Jahren immer war, wenn Jim krank war oder verletzt oder einfach nur niedergeschlagen. Wenn er nicht gerade Untersuchungen durchführt, sitzt er neben Jims Bett, mal in dienstlicher Kleidung, mal in ziviler, spricht mit ihm oder liest ihm die Nachrichten vor oder schläft, wenn die Erschöpfung ihn einholt. Jim weiß, wie viel Bones in den letzten Wochen durchgemacht hat, merkt es daran, dass seine Berührungen vorsichtiger sind als nötig, und sieht es an der Art, wie er Jim anblickt, wenn er glaubt, dass Jim es nicht bemerkt. Bones hat seine Karriere für ihn aufs Spiel gesetzt und hat wochenlang bis zum Umfallen gearbeitet und sich so viele Sorgen gemacht, dass es für ein ganzes Leben reicht, und Jim weiß das – und er fühlt sich deshalb nur noch schlechter.

Bones kümmert sich um ihn und Jim ist davon genervt. Das ist die bittere Wahrheit. Wenn Spock ihn besuchen kommt, ist er erleichtert, wenn Chekov oder Sulu oder Scotty oder Uhura vorbeikommen, freut er sich, aber wenn Bones da ist – wenn Bones da ist, fühlt er sich manchmal so, als könne er nicht mehr atmen.

Er kann nicht einmal genau sagen, wieso, und das macht ihm Angst. Bones ist sein bester Freund; mehr noch, er ist vielleicht die Person, die Jim am meisten bedeutet. Wenn er nicht mit Bones reden kann, bedeutet das wahrscheinlich, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Es bedeutet, dass Khan gewonnen hat. Und es bedeutet –

Jim weiß selbst nicht, was es bedeutet, und das ist vermutlich kein gutes Zeichen.

~°~



„Gestehen Sie sich Ihre Gefühle ein“, rät die Therapeutin, die man ihm aufs Auge gedrückt hat, sobald er es geschafft hat, länger als fünf Minuten am Stück wach zu bleiben. Bones behauptet, nichts damit zu tun zu haben, aber Jim vermutet trotzdem, dass er nicht ganz unschuldig an der Sache ist. Nachdem Jim seine vorsichtigen Versuche, mit ihm über das Warpkern-Fiasko zu reden, abgewimmelt hat mit der nur halb der Wahrheit entsprechenden Begründung, zu erschöpft dafür zu sein, hat Bones ihm auf seine übliche tatkräftige Art eine Alternative besorgt.

Er schnaubt nur. Eigentlich kann die Therapeutin nichts dafür, und eigentlich ist sie eine angenehme Person – aber er will nicht über seine Gefühle reden. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.

„Es ist in Ordnung, dass Sie nicht darüber reden wollen“, behauptet sie wie aufs Kommando. „Aber Ihre Gefühle in sich hineinzufressen, hilft Ihnen auf lange Sicht nicht weiter.“

Seine Gefühle in sich hineinzufressen, hat bislang gut funktioniert, und Jim widerspricht nur nicht, weil er zu müde ist und die Befürchtung hegt, dass jede Bemerkung seinerseits das Gespräch verlängern wird.

„Sie könnten ein Tagebuch führen“, schlägt sie allen Ernstes vor, während sie ihn über den Rand ihres PADDs hinweg fixiert. Früher hätte Jim versucht, zu entziffern, was sie über ihn aufgeschrieben hat, aber jetzt hat er nicht die Energie dazu und eigentlich ist es ihm auch egal. „Oder Sie können das, was Sie anderen Personen mitteilen wollen, in Briefe schreiben. Sie müssen sie nicht abschicken, aber Ihre Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen, kann Ihnen schon dabei helfen, sie zu verarbeiten.“

Jim schnaubt wieder und dankenswerterweise gibt die Frau danach relativ bald auf. Zeit dafür, seinen vorläufigen Sieg zu genießen, hat Jim allerdings nicht; kaum dass die Therapeutin das Zimmer verlassen hat, materialisiert Bones wie ein besonders hartnäckiger Dämon vor Jims Bett. Er hält einen medizinischen Scanner in der einen Hand und eine Tüte mit verdächtig ungesund aussehendem Takeaway-Essen in der anderen und Jim ertappt sich bei dem Wunsch, dass er weit, weit fort wäre. Jim will nicht mit ihm reden und will auch nicht darüber nachdenken, wieso, darum tut er so, als sei er an seinem PADD beschäftigt.

„Was machst du da?“, fragt Bones kritisch, wie immer darauf bedacht, dass Jim sich nicht überanstrengt. Es ist anstrengend, den Eingabestift zu halten und sich auf die viel zu kleinen Buchstaben auf dem Bildschirm zu konzentrieren, aber das ist Jim egal. Er ist froh um jede Ausrede.

„Ich schreibe meine Gefühle auf. Hat mir die Therapeutin empfohlen.“

Erstaunlicherweise hat er damit Erfolg. Bones blickt zwar immer noch kritisch drein, aber nachdem er Jim gründlich mit dem Scanner traktiert hat, packt er das Essen wieder ein – und geht, um Jim in Ruhe mit seinen Geistern kämpfen zu lassen. Jim blickt ihm nach und fühlt sich gleich noch schlechter.

~°~



Liebes Tagebuch
ich war tot
das ist doch lächerlich

Liebe Mom,
ich bin nicht mehr tot, aber das weißt du vermutlich schon.
Du hättest dich mal melden können.


Khan –
ich hoffe, sie frieren dich für immer ein
ich würde dich gerne hassen, aber ich bin zu müde dazu
aber ich hasse, dass dein Blut jetzt durch meine Adern fließt
das ist bescheuert

Bones,
du bist mein bester Freund, aber gerade nervst du mich
hast du niemanden sonst, dem du auf die Nerven gehen kannst? Deine Ex?
Jedes Mal, wenn du mich anschaust, muss ich daran denken, was mit Khan passiert ist
ich bin gestorben und du warst nicht da, und das ist meine Schuld
aber trotzdem
irgendwie ist immer alles meine Schuld?
du solltest das nicht mitmachen müssen


~°~



Bones bleibt nicht lange fort. Nach wenigen Stunden ist er wieder da und das sollte Jim Sicherheit geben (er ist nicht allein, Bones verlässt ihn nicht) – und tut es nicht, wieso auch immer.

„Scheiße, Bones, du erdrückst mich“, ruft er irgendwann, als Bones seinen nicht sehr geschickt verpackten Vorschlag, doch mal eine längere Pause zu machen, ablehnt.

„Reg dich nicht auf“, sagt Bones mit einem kritischen Blick auf den Monitor über Jims Bett und Jim ist kurz davor, ihm sein Kissen an den Kopf zu werfen. Sein Ärger erschreckt ihn selbst, aber er kann nichts dagegen unternehmen. All die Frustration und die Angst und die Schuldgefühle und die Zweifel der letzten Wochen (Jahre) suchen sich ein Ventil.

„Hör endlich auf, mich wie ein rohes Ei zu behandeln! Glaubst du, ich merke nicht, wie du mich ständig anschaust? Als würde ich jede Sekunde wieder tot umkippen? Du kannst mich nicht für den Rest meines Lebens in Watte packen! Mir geht’s gut, Bones, ich bin am Leben und mir geht es gut, klar?“

Bones presst die Lippen zusammen und Jim weiß, dass er ihn damit verletzt hat, nicht unbedingt mit dem Inhalt seiner Worte, sondern mit der Heftigkeit, mit der er sie hervorgestoßen hat. Die Befriedigung, die er deshalb verspürt, trägt nicht dazu bei, dass er sich besser fühlt.

Er hat es so leid. Er hat es leid, dass er hinter seinem Rücken als medizinisches Wunder bezeichnet wird, dass vor seiner Zimmertür Tag und Nacht Sicherheitspersonal herumlungert, dass manche der Ärzte ihn betrachten, als sei er ein Experiment, das noch in der Schwebe hängt. Er hasst die Tatsache, dass er immer noch keine zehn Schritte gehen kann, ohne sich danach minutenlang ausruhen zu müssen (sie lassen ihn nicht einmal zur Toilette gehen!), dass er kaum lesen kann, weil seine Augen so schnell ermüden, und er hasst die Tatsache, dass er so verwirrt ist.

Die Schuldgefühle und die Frage nach dem was hätte ich besser machen können? sind ein Thema. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich nicht wieder aufgewacht wäre ist ein völlig anders Thema.

Er spricht nicht über diese Gedanken, nicht mit Bones und nicht mit Spock und auch mit sonst niemandem, schon gar nicht der Therapeutin, und er schreibt sie auch nicht auf, weil sicher sicher ist und fasse deine Gefühle in Worte ohnehin nur mäßig funktioniert. Es ist nicht so, dass er nicht mehr leben will; es ist einfach so, dass er verwirrt ist und wütend und verletzt und dass er nicht weiß, wie er damit umgehen soll. Bones könnte ihm sicher helfen oder ihm noch andere Personen empfehlen, mit denen er reden kann, aber ein Teil des Problems besteht darin, dass Jim nach wie vor nicht reden will. Er will ... oft genug weiß er es selbst nicht. Er weiß nur, dass er es nicht mehr viel länger in diesem Krankenzimmer aushält und dass er vielleicht tatsächlich in der Schwebe hängt.

Alles ist so ungewiss. Er weiß nicht, ob man ihm wieder das Kommando über die Enterprise übertragen wird, ob man sie auf Missionen schicken wird und ob seine Crew bei ihm bleiben wird. Das Oberkommando hält sich bislang bedeckt – alles, was man Jim mitgeteilt hat, ist, dass er erst mal abwarten soll. Vermutlich wird es lange dauern, bis er wieder als Captain auf der Brücke eines Schiffs stehen wird, und was er bis dahin tun soll ... auch das weiß er nicht. Manchmal hat er das Gefühl, er hat sich so sehr daran gewöhnt, Captain Kirk zu sein (etwas, das sich so richtig anfühlt), dass er verlernt hat, Jim zu sein.

Er will einfach nur weg, weg von allem, und nicht mehr denken müssen.

Es ist gut, dass Bones nicht weiß, was in ihm vorgeht; er spürt ohnehin schon zu viel, denn in seinen Augen liegt wieder diese verdammenswerte Sorge, als er erneut auf den Monitor mit Jims Vitalwerten schaut. „Jim, ich weiß, dass du frustriert bist –“

„Ich bin nicht frustriert, ich hätte einfach gern mal ein bisschen Ruhe!“, ruft er, was immerhin nur eine halbe Lüge ist. Ihm ist bewusst, dass er gefährlich wie ein Kleinkind klingt, und es ist ihm egal. Er war tot, verdammt noch mal, und er ist es alles so leid.

Bones stößt einen tiefen Seufzer aus. „Soll ich dir was geben, das dir beim Schlafen hilft?“

Die Frustration wächst. „Darum geht’s mir nicht. Bitte, Bones, ich brauche einfach ...“ Das Problem ist, dass er nicht genau weiß, was er braucht. Er weiß nur, was er jetzt, in diesem Moment, will, und nach vier Jahren der Freundschaft mit Bones weiß er auch, dass diese beiden Dinge nicht unbedingt dasselbe sind. Es ist ein weiterer Grund dafür, wütend auf Bones zu sein. Bevor Jim ihn kennengelernt hat, hat er sich selten so philosophisch angehauchte Gedanken gemacht. „Ich will einfach mal allein sein. Kannst du bitte gehen? Geh heim, geh duschen, iss was, schlaf in einem richtigen Bett, kümmer dich mal um dich selbst. Ich komm hier klar.“

Es so zu formulieren, als ginge es hier um Bones‘ Wohlbefinden, ist freundlicher, als noch einmal die Wahrheit auszusprechen. (Du erdrückst mich.) Und es könnte ihm wirklich guttun, mal aus diesem Krankenhaus herauszukommen. Bald wird irgendjemand von ihm Miete verlangen.

„Jim –“

„Bitte.“

Bones fährt sich mit der Hand durchs Haar. Er sieht so müde aus und so resigniert ... und Jim ist das nicht wert, genauso wenig wie er die endlose Sorge wert ist, die sich wieder in Bones‘ Miene schleicht, als er endlich seine Begutachtung des Monitors abschließt.

„Wenn irgendwas ist, meldest du dich sofort bei mir, klar?“, sagt er und das kommt so überraschend, dass Jim fast vergisst, zu nicken. Er hat sich auf eine längere Diskussion eingestellt und ist für den Bruchteil einer Sekunde fast enttäuscht, dass Bones so vergleichsweise schnell nachgibt; und im selben Moment ärgert er sich über sich selbst. Er will in Ruhe gelassen werden.

Und Bones lässt ihn in Ruhe, zumindest vorerst. Er rattert noch eine Litanei an Dingen hinunter, auf die Jim achten soll, verspricht, bald wiederzukommen – und verschwindet. Jim sieht ihm lange nach und verbringt dann die nächsten Minuten damit, an die Decke zu starren und sich einzureden, dass er sich erleichtert fühlt.

~°~



Hey, Botschafter Spock.
Danke für Ihre Nachricht, mir geht’s so weit gut.
War es in Ihrer Zeitlinie auch so beschissen?

Liebes Tagebuch,
ich hab keine Lust mehr.


~°~



Natürlich kommt Bones am nächsten Morgen zu einer gottlos frühen Zeit wieder und natürlich fühlt Jim sich kein bisschen besser. Danach entwickelt sich ein gewisses Muster zwischen ihnen. Bones hängt weiterhin in Jims Zimmer herum, Jim schickt ihn weg, meistens unter dem Vorwand, dass Bones sich um sich selbst kümmern solle, Bones geht und Jim liegt da und weiß nicht, wie er sich fühlen soll, bis Bones wiederkommt.

Bones gibt sich Mühe, wirklich. Sobald Jim etwas anderes essen darf als die Krankenhaus-Schonkost, bringt er ihm Jims Lieblingsgerichte (ungesundes Zeug, das normalerweise begleitet werden würde von einer Predigt über richtiges Essen, das Bones jetzt aber nicht mal einen Kommentar wert ist), er sieht sich gemeinsam mit ihm eine furchtbar kitschige Serie an, er versucht, ihn mit Scherzen aufzumuntern, die vermutlich nicht einmal er selbst lustig findet, und er versucht, Jim dazu zu motivieren, mit seiner Therapeutin über die Ereignisse rund um Khan und über Jims Gefühle zu reden. Immer wieder beteuert Jim, dass es ihm gutgeht und dass es nichts zu bereden gibt (und es geht ihm gut, zumindest mehr oder weniger, zumindest manchmal – zumindest geht es ihm besser als all den Leuten, die Angehörige verloren haben, weil er sich in politische Intrigen hineinziehen ließ und Khan Noonien Singh unterschätzt hat), immer wieder versucht Bones es erneut und immer wieder endet es damit, dass Jim um eine Auszeit bittet.

Du erdrückst mich. Selbst Spock bemerkt irgendwann etwas.

„Gibt es Probleme zwischen Ihnen und Doktor McCoy?“, fragt er bei einem seiner Besuche. Bones ist nicht da und Jim ist froh darüber; aber natürlich gibt er das nicht zu, schon gar nicht Spock gegenüber. Der arme Kerl läuft noch immer durch die Weltgeschichte, als verfolge ihn eine Armada an Geistern, und das Letzte, was Jim will, ist, ihn in unlogische zwischenmenschliche Wirrungen hineinzuziehen.

„Nee, warum?“, fragt er deshalb.

Spock hat ihm sein „ich stelle mich dumm“-Spielchen noch nie durchgehen lassen und umso mehr überrascht es Jim, dass er es diesmal tut.

„Lediglich ... eine Beobachtung“, sagt er nur. Das kurze Zögern ist aussagekräftiger, als sämtliche Erörterungen es sein könnten, und beweist eindrucksvoll, dass auch Spock nicht mehr – noch nicht wieder – derselbe ist wie vor der Begegnung mit Khan.

Und das ärgert Jim. Er will nicht, dass sich etwas ändert, nicht in diesem Fall, so kindisch es ist. Wenn selbst Spock sich anders verhält als früher, ist das ein unwiderlegbarer Beweis dafür, dass eine Tragödie mit gravierenden Auswirkungen geschehen ist. Die Sache erscheint dadurch so endgültig.

Je länger er im Krankenhaus bleiben muss, desto mehr nervt ihn nicht nur Bones mit seiner übertriebenen Fürsorge und mit der ständigen unwillkürlichen Erinnerung an all das Unausgesprochene zwischen ihnen; auch die Besuche der anderen Crewmitglieder, so sehr er sich zu Beginn darüber gefreut hat, werden ihm langsam lästig. Er kann nicht einmal genau bestimmen, wieso. Er weiß nur, dass er es satt hat, im Bett zu liegen, während alle anderen ihre Leben weiterleben – oder eben nicht weiterleben, weil sie sich an ihn ketten und er an dieses Bett gekettet ist.

Irgendwann schickt er auch Spock nach immer kürzerer Zeit weg. Im Gegensatz zu Bones diskutiert Spock nicht und Jim ist sich nicht sicher, ob er sich deshalb beleidigt fühlen soll oder nicht. Früher war sein Leben nicht so bunt, aber auch längst nicht so kompliziert.

~°~



Liebes Tagebuch,
wie die Therapeutin vorgeschlagen hat: fünf Dinge, die mich heute glücklich gemacht haben:
- es ist jetzt offiziell, dass sie Khan so schnell nicht wieder aufwecken werden
- Botschafter Spock hat eine nette Nachricht geschickt
- das Essen war okay
- es ist heute niemand gestorben, den ich kenne, zumindest soviel ich weiß
- ??


~°~



Einen Monat, nachdem er aus dem Koma aufgewacht ist, wird alles noch ein wenig komplizierter. Jim kommt gerade aus einer Physio-Sitzung, als er bemerkt, dass auf seinem privaten PADD eine persönliche Nachricht eingegangen ist – eine Nachricht, die ausnahmsweise nicht von Bones oder Spock oder Scotty stammt, sondern von einer Nummer, deren Existenz Jim häufig genug vergisst.

Der Kontakt ist als Mom eingespeichert und diese Bezeichnung stimmt zumindest theoretisch. Es ist fast ein halbes Jahr her, dass Jim etwas an diese Nummer geschickt hat, und als er jetzt die Nachricht liest, wünscht er sich, dass es bei der Funkstille geblieben wäre. Funkstille ist er gewohnt; sie ist wie ein alter Freund für ihn, der nicht die Gefahr birgt, ihn zu enttäuschen.

Leonard McCoy hat mir mitgeteilt, was genau passiert ist, schreibt Mom, und Jim runzelt die Stirn. Bones hat irgendetwas Derartiges erwähnt, und wenn Jim sich richtig erinnert, hat er ihn zuvor sogar gefragt, ob das in Ordnung sei. Allerdings war das an einem Tag, an dem Jim besonders schlechte Laune hatte und ohne groß nachzudenken nur nickte, um ihn abzuwürgen.

Beinahe wünscht er sich, auch Mom hätte Bones ignoriert, denn wie üblich trieft ihre Nachricht nicht gerade vor mütterlichem Mitgefühl. Jim, es tut mir so leid. Ich kann leider nicht da sein ... Und dann folgt das Übliche: mehrere Absätze über ihre Arbeit und wieso diese so unglaublich wichtig ist und dass Jim das sicher versteht; und gerade, als Jim zu hoffen wagt, dass es doch noch ein wenig persönlicher wird, ist die Nachricht auch schon wieder vorbei.

Ich hoffe, du erholst dich gut und darfst bald nach Hause, ist Winonas letzter Satz. Ungläubig starrt Jim auf sein PADD, wütend auf sich selbst, weil er nach all den Jahren immer noch zulässt, dass sie ihn verletzt. Natürlich hat sie Besseres zu tun, als ihren Sohn zu besuchen; natürlich sind ihr Trauma und ihre Probleme damit, sich von den Ereignissen rund um Jims Geburt zu distanzieren, wieder einmal wichtiger als Jim.

Aber das ist in Ordnung. Jim kennt es nicht anders und vermutlich ist es sowieso besser, wenn Winona nicht hier auftaucht. Im besten Fall würden sie sich verlegen anschweigen, im schlimmsten Fall würde Jim sie anschreien, und auf beides hat er keine Lust. Es gibt andere, wichtigere Personen in seinem Leben, denen er nicht so gleichgültig ist, und auch wenn er zurzeit nicht sehr gut darin ist, ihnen dafür zu danken, muss das genügen.

Er weiß nicht, wieso er die Nachricht ein zweites Mal liest; vielleicht, um sich endgültig davon zu überzeugen, dass Winona eine lausige Mutter ist, vielleicht auch, weil er schlichtweg nichts Besseres zu tun hat. Diesmal springen ihm nicht die Ausreden ins Auge, sondern der letzte Satz. Nach Hause.

Bitter verzieht Jim den Mund. Sein erster Gedanke gilt der Enterprise, die, wenn er Scottys Berichten Glauben schenkt, noch lange nicht einsatzbereit ist. Sein zweiter Gedanke ... er hat keinen zweiten Gedanken, weil es keine wirkliche Alternative zur Enterprise gibt. Sie ist das einzig wahre Zuhause, das er je gekannt hat, und manchmal fragt er sich, wie er je ohne sie überleben konnte.

Natürlich hat er eine Wohnung hier in San Francisco, aber sie ist nur ein Ort, an dem er ab und an schläft, nicht viel mehr. Das einzige Zuhause, das diese Bezeichnung vielleicht noch verdient, war Bones’ Zimmer an der Akademie, doch diese Zeiten sind vorbei und die Erinnerungen daran, was am Ende ihrer Akademiezeit geschehen ist, nehmen ihnen den Glanz.

Nach Hause. Noch lange, nachdem Jim die Nachricht mit wenigen Sätzen beantwortet und dann gelöscht hat, klingen diese Worte in ihm nach. Wenn es so einfach wäre ... Nun, da sein Zuhause in Trümmern liegt, ist er an einem Punkt angekommen, der dem vor vier Jahren ähnelt, als er als verlorener junger Mann durch die Weltgeschichte streifte, ständig auf der Suche nach dem nächsten Kick, nach irgendeinem Halt. Obwohl er nicht mehr derselbe Mensch wie damals ist, hat sich eines nicht geändert: Er hängt in der Schwebe.

Damals hat er sich aus einem Impuls heraus der Sternenflotte angeschlossen, und diesmal ... Er denkt ein weiteres Mal über die Wörter nach Hause nach und trifft eine Entscheidung. Hier kann er nicht bleiben, weil alles ihn erdrückt, also wird er das tun, worin er sein Leben lang Übung hat: weglaufen.

~°~



Hey Mom,
danke für deine nichtssagende Nachricht. Wieder mal eine tolle Leistung.


~°~



Dass Bones nicht mehr sein primärer Arzt ist, macht die Sache leichter. Jim weiß gar nicht genau, wieso man ihn von seiner Behandlung abgezogen hat; falls Bones es ihm erklärt hat, hat er in diesem Moment nicht gut genug zugehört. Er hat die vage Vermutung, dass Stress und Befangenheit als Gründe herangezogen wurden, aber wie es letztendlich dazu kam, spielt kaum eine Rolle. Fakt ist, dass Bones inzwischen meistens in ziviler Kleidung neben Jims Bett sitzt und andere Ärzte die Untersuchungen vornehmen und die Pläne schmieden, so sehr Bones sich darüber beschwert.

Jim ist es nur recht. Vielleicht ist das herzlos, aber es sorgt dafür, dass er etwas freier atmen kann. Sich der Obhut Fremder zu übergeben, ist ein zu verschmerzender Preis dafür, dass er die Sorge und die schlecht kaschierte Angst in Bones’ Augen weniger sehen muss, und das wiederum dämmt seine Schuldgefühle ein.

Es sorgt außerdem dafür, dass er den genauen Zeitpunkt seiner Entlassung geheim halten kann.

Er weiß, dass es egoistisch und vermutlich auch unverantwortlich ist, das Krankenhaus allein zu verlassen, nur mit einem Rucksack auf dem Rücken und von der wilden Entschlossenheit begleitet, sein Leben wieder ins Gleichgewicht zu bringen und niemandem dabei zur Last zu fallen – aber als er in ein Shuttle Richtung Osten steigt, fühlt er sich zum ersten Mal seit Wochen wieder ein wenig wie er selbst. Er kam schon immer gut allein zurecht und er wird es auch diesmal tun. Für Entschuldigungen und Erklärungen ist später Zeit, sobald er nicht mehr befürchtet, jeden Augenblick auseinanderzufallen.

Als das Shuttle abhebt, blickt Jim mit Bedacht nicht aus dem Fenster, um die Wunden, die Khan der Stadt zugefügt hat, nicht sehen zu müssen. Er hält den Kopf gesenkt, starrt auf sein PADD, hofft, dass niemand ihn erkennt, und betet, dass genau das eintreffen wird, was Bones ihm in den letzten Wochen so oft versprochen hat: Alles wird gut, Jim.

In einem Beweis dafür, dass das Universum wieder einmal nichts Besseres zu tun hat, als sich über Jim lustig zu machen, kündigt sein PADD prompt eine Nachricht von Bones an. Diesmal steht ihm offenbar nicht der Sinn nach beschönigenden Aufmunterungsversuchen; stattdessen springt Jim eine Flut von Fragezeichen und Ausrufezeichen entgegen. Wo bist du??? Du kannst doch nicht einfach ohne ein wort verschwinden!!! gehts dir gut??! melde dich!!

Wenn Bones auf die korrekte Großschreibung verzichtet, heißt das, dass er wirklich außer sich ist. Jim verbietet es sich, ein schlechtes Gewissen zu haben, schreibt zurück: Mir geht’s gut, mach dir keine Sorgen. Ich brauch ein bisschen Zeit für mich. Ich melde mich, schaltet sein PADD und seinen Kommunikator aus und vergräbt beides ganz unten in seinem Rucksack.

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