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Diese gewöhnliche Welt

von Laurie

Kapitel #3

Es dauert genau siebenundzwanzig Minuten, bis man ihn erkennt.

Genauer gesagt dauert es vermutlich deutlich weniger. Der Mann neben Jim, ein älterer Mensch mit Halbglatze, zerknittertem Anzug und einer Brille, die ihm ständig auf die Nasenspitze rutscht, hat ihm schon seit dem Start des Shuttles zunehmend auffälligere Blicke zugeworfen. Jim hat sich betont intensiv in sein Buch vertieft (eine Papierausgabe von Kapitän Hornblower auf allen Meeren – womöglich nicht die klügste Wahl, denn jedes Mal, wenn er den Namen Horatio liest, muss er an Bones denken) und gehofft, dadurch jegliche Kommunikationsversuche seines Nachbarn im Keim zu ersticken, aber sein Glück hält nicht an. Der Mann wird immer zappeliger und nach siebenundzwanzig Minuten kann er sich nicht mehr beherrschen.

„Hey, sind Sie nicht dieser ... na, dieser Kerl halt?“, fragt er, immerhin leise genug, dass es nicht das gesamte Shuttle mitbekommt.

Jim überlegt, wie viel Unhöflichkeit er sich leisten kann, und beschließt, dass es ausreicht, wenn er den Mann kurz fragend anblickt.

„Na, von der Sternenflotte. Sie waren neulich in den Nachrichten.“ Der Mann runzelt die Stirn; Jim merkt förmlich, wie ihn ein Geistesblitz trifft. „Das Kelvin-Baby!“

Jim starrt weiterhin in sein Buch, redet sich ein, dass der Mann es vermutlich nicht böse meint, und versucht, sich nichts anmerken zu lassen. In den letzten Jahren ist er besser darin geworden, derartige Bemerkungen zu ignorieren, aber das heißt nicht, dass er nicht immer noch jedes Mal einen Stich verspürt.

„Haben Sie nicht die Welt gerettet, oder so?“

Dass er inzwischen nicht mehr nur dank seines Vaters erkannt wird, sondern auch wegen seiner eigenen Taten, sollte wohl ein schwacher Trost sein – ist es jedoch nicht. Helden, das hat Jim sehr früh herausgefunden, sind überbewertet.

Nicht zu reagieren, ist die sicherste Option. Jim hält den Kopf gesenkt und blättert eine Seite weiter, doch sein Nachbar lässt sich nicht beirren. „Gut gemacht, Junge, gut gemacht. Ich halte ja nicht viel von der Flotte, aber Sie sind ein Held.“

Oh Gott, denkt Jim; und es wird nicht besser, als der Mann beschließt, Jims Heldenstatus zu zementieren, indem er ihm einen Drink ausgibt. Jim kann ihn gerade noch daran hindern, nach dem Flugbegleiter zu rufen, und verbringt die nächsten Minuten damit, den Mann davon zu überzeugen, dass er wirklich keinen Drink möchte.

Die Wahrheit ist zwar eher, dass er keinen Alkohol trinken darf, weil er immer noch Medikamente nehmen muss, aber das braucht der Mann nicht zu wissen. So enthusiastisch, wie er ist, will Jim ihm nicht seine Illusionen bezüglich unverwundbarer Helden nehmen.

Obwohl der Mann nervt, haftet ihm ein gewisses Unterhaltungspotential an, das Jim kurz von seinen Problemen ablenkt – zumindest bis sein Nachbar beschließt, dieses denkwürdige Zusammentreffen zu feiern, indem er sich dann eben allein einen Drink genehmigt. Zu Jims endloser Faszination zieht er einen Piccolo aus seiner Tasche, der bestenfalls lauwarm sein kann, kippt ihn in den Orangensaft, den er sich zu Beginn des Fluges besorgt hat, und schüttet alles in wenigen Zügen in sich hinein.

Jim kann sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er sich vorstellt, wie entsetzt Bones wäre; und dann denkt er schnell an etwas anderes. Bones ist zwar ein angenehmerer Begleiter als dieser seltsame Fremde, aber es ist gut, dass er nicht hier ist. Jim hat sich bewusst für ein wenig Abstand entschieden. Er muss lernen, seine Probleme allein in den Griff zu bekommen, und er kann sich nicht immer darauf verlassen, dass Bones hinter ihm aufräumt. Er will sich nicht darauf verlassen. Es ist besser so.

(Und er vermisst Bones‘ sarkastische Kommentare garantiert nicht jetzt schon.)

Das bisschen Alkohol macht den Mann so müde, dass er relativ bald einschläft, und der Rest des Fluges verläuft ereignislos. Jim verbietet es sich, an etwas anderes zu denken als die britische Marine zur Zeit Napoleons, und kommt erst wieder in der Gegenwart an, als er in Iowa aus dem Shuttle steigt.

Er hat keine Ahnung, was genau er jetzt tun soll, keine Vorstellung davon, was auf ihn zukommt. Aber das ist in Ordnung. Mit diesem Zustand kennt er sich aus und er wird tun, was er immer tut: weiter nach vorne gehen und abwarten, was passiert.

~°~



Das viele Lesen war nicht seine beste Idee.

Das Shuttle fliegt nur bis Iowa City und eigentlich wäre es ein Leichtes, sich dort eine Weiterreisemöglichkeit nach Riverside zu besorgen. Allerdings hat Jim solche Kopfschmerzen und seine Augen brennen so sehr, dass selbst diese einfache Aufgabe ihm im Moment wie ein unüberwindbares Hindernis vorkommt. Es erfordert deutlich weniger Energie, sich ein Hotelzimmer direkt neben dem Flughafen zu buchen, sämtliche neugierigen Blicke des Personals zu ignorieren, sich ins Bett zu legen und bis zum nächsten Nachmittag zu schlafen.

Er träumt von Khan, von Bones und wieder von Khan, und als er aufwacht, desorientiert und beinahe panisch, beschließt er, sich ein wenig treiben zu lassen. Riverside wird (höchstwahrscheinlich) auch in ein paar Tagen noch an Ort und Stelle stehen und Jim hat es sich verdient, faul in einem Bett zu liegen, ohne dass irgendjemand seine Vitalwerte kritisch beäugt oder ihm Blut abnehmen will.

Er wechselt zur Online-Version seines Buches und lässt sich den Rest vorlesen, isst im Bett und verbraucht viel zu viele Credits für warmes Wasser in der Dusche. Als ihm im Hotel die Decke auf den Kopf fällt, wandert er durch die Stadt, schaut sich einen bestenfalls durchschnittlichen Actionfilm in einem uralten Kino an, beobachtet im Park die Vögel und in den Cafés die Leute und gibt sich Mühe, alles bewusst zu erleben.

Er ist am Leben. Er lebt und Khan ist wieder eingefroren; er hat gewonnen. Er weiß immer noch nicht, was er davon halten soll, dass nun Khans Blut durch seine Adern fließt, aber als er einer jungen Mutter dabei zuschaut, wie sie ihr weinendes Kleinkind mit unendlicher Geduld tröstet, beschließt er, dass er nicht länger darüber nachdenken will. Khan hat es nicht verdient, dass man sich weiter mit ihm beschäftigt; er ist fort und Jim lebt und das ist alles, was zählt.

Das Wissen darum, dass es Khan vermutlich nicht gefallen hätte, der indirekte Grund für Jims Überleben zu sein, hilft ebenfalls. Allein schon, um ihn noch nachträglich zu ärgern, muss Jim klarkommen.

~°~



Riverside ist noch genauso unspektakulär wie vor vier Jahren. Am dritten Tag nach seinem Fortgang aus San Francisco steht Jim am Anfang der Hauptstraße, starrt die vertrauten Gebäude an und fühlt ... nichts. Weder ist da ein Gefühl von Heimkehr noch spürt er den Widerwillen, den er erwartet hat. Vor ihm liegt einfach nur eine Straße wie jede andere und Jim muss sich Mühe geben, sie mit seiner Vergangenheit zu verknüpfen.

Er war nicht mehr hier, seit er damals an jenem schicksalshaften Tag in das Shuttle nach San Francisco gestiegen ist, und er bereut es nicht. Straßen wie diese gibt es auch in San Francisco zuhauf und dort läuft er weniger in Gefahr, für einen nutzlosen Herumtreiber und Unruhestifter gehalten zu werden. Irgendetwas verrät ihm, dass es keine Rolle spielt, wie oft er die Welt rettet – hier in Riverside wird er immer nur der junge Kirk bleiben, der es zu nichts gebracht hat und ein schlechtes Vorbild für die Jugend darstellt.

Langsam schlendert Jim die Straße entlang, nicht weil ihm viel daran liegt, sich umzusehen und in Erinnerungen zu schwelgen, sondern weil er befürchtet, dass sich ein Riss in ihm öffnen wird, wenn er sich nicht bewegt. Sein Spaziergang dauert nicht lange; ein paar Blöcke weiter befindet sich ein Geschäft, das Leihfahrzeuge vermietet, und Jim nutzt die Gelegenheit, sich ein Motorrad zu besorgen. Die Stadt ist nicht sein eigentliches Ziel und je schneller er von hier wegkommt, desto besser.

Die junge Frau, die auf sein zweites Rufen hin aus dem hinteren Teil des Ladens auftaucht, erkennt ihn entweder nicht oder interessiert sich nicht dafür, dass sie einen Helden vor sich hat. Rasch und so wortkarg, dass es an Grobheit grenzt, wickelt sie die ganze Angelegenheit ab, lässt Jim die Unterlagen ausfüllen und überreicht ihm den Schlüsselchip, und bevor er entscheiden kann, ob er dankbar oder irritiert sein soll, hat er den Laden schon wieder verlassen. Sich wieder als Zivilist durch die Welt zu schlagen, ist nicht so kompliziert, wie er befürchtet hat, redet er sich ein. Es ist gut, nicht Captain Kirk zu sein, sondern einfach nur irgendjemand.

Die Fahrt zur Farm dauert nur kurz, aber Jim zieht sie in die Länge, indem er der Schiffswerft einen Besuch abstattet. Lange steht er dort und starrt auf die Shuttles, die blinkenden Lichter und die Gerüste und versucht mit aller Macht, nicht daran zu denken, dass die Enterprise zurzeit vermutlich ein ähnliches Bild bietet wie der halbfertige Frachter, der sich hier in Konstruktion befindet. Die Erinnerungen daran, wie sie in diesem Werft aussah, trotz ihrer Unfertigkeit eine perfekte Dame, umhüllt von dem Versprechen auf Großes, überkommen ihn so plötzlich, dass ihm die Luft wegbleibt. Hier hat es angefangen, sowohl für ihn als auch für die Enterprise, hier hat er Bones kennengelernt, und jetzt steht er wieder hier, vier Jahre später, ganz allein, und weiß nicht, was er fühlen soll.

Früher hatte er nie Probleme damit, allein zu sein. Jetzt ist er sich da nicht mehr so sicher, so gerne er sich etwas anderes einreden möchte. Um sich nicht von seinen Zweifeln überrollen zu lassen, wendet er das Motorrad und fährt weiter, ohne einen Blick zurück auf die Werft zu werfen. Er kommt klar.

Er hat nur nicht erwartet, dass er sein Schiff und seine Mannschaft so schnell vermissen würde.

~°~



Die Farm hat sich verändert. Das Haupthaus bekam einen neuen Anstrich verpasst, das Dach der Scheune wurde neu gedeckt und ein Teil des Hofes wurde neu gepflastert, und in gewisser Weise ist all das ... enttäuschend? Es ist ein weiterer Beweis dafür, dass das Leben ohne Jim weitergeht, dass diese Welt sehr wohl ohne ihn zurechtkommt, dass sie nicht innehält und wartet, bis er in einen Handlungsstrang zurückkehrt, den er zuvor verlassen hat, ohne an die Konsequenzen zu denken. Als Captain wird man immer gebraucht oder zumindest wird einem das Gefühl vermittelt, dass man immer gebraucht wird. Man steht an der Spitze, man gilt als wichtigste Person an Bord; jedem Fähnrich wird in der Akademie eingetrichtert, dass man bereit sein sollte, im Notfall den Captain mit seinem Leben zu beschützen.

Hier, denkt Jim, käme vermutlich niemand je auf die Idee, etwas für ihn zu opfern.

Die Erkenntnis sollte ihn nicht so sehr erschüttern. Er wollte für eine Weile fort von der Flotte und dem Druck, den sie ihm auferlegt, aber gleichzeitig merkt er mit jeder verstreichenden Minute mehr, wie sehr er sich in nur einem Jahr an seinen Status als Captain gewöhnt hat.

Von Leuten umgeben zu sein, die nach einem Wort von ihm alles für ihn stehen und liegen lassen, ist manchmal immer noch ungewohnt, doch gleichzeitig tut es gut. Selbst die Verantwortung für hunderte von Leben zu haben, tut gut. Bones würde vermutlich behaupten, dass Jim damit all die Probleme kompensiert, die seine Kindheit ihm aufgebürdet hat, aber Bones ist nicht hier, also schiebt Jim jeden Gedanken an ihn weit beiseite, parkt sein Motorrad neben dem Haus und geht mit hoch erhobenem Kopf auf die Tür zu. Nichts und niemand hier kann ihm noch etwas anhaben. Gegen Khan und Nero sind sowohl Frank als auch die restlichen Geister der Vergangenheit nur erbärmliche Witzfiguren.

Er klingelt einmal, zweimal und gerade als er zu vermuten beginnt, dass niemand zuhause ist, wird die Tür aufgerissen – und Jim sieht sich einem der Albträume seiner Kindheit gegenüber.

Frank trägt eine fleckige Hose und ein ausgeleiertes T-Shirt und hat sich seit mindestens einer Woche nicht rasiert, und er stiert Jim so irritiert an, dass Jim für einen irrwitzigen Moment fast so etwas wie schlechtes Gewissen verspürt.

„Was willst du denn hier?“, fragt Frank unwirsch, als er sich von seinem Schock erholt hat.

Jim merkt, dass er darauf keine richtige Antwort hat. Er merkt auch, dass die Wut und die Verachtung, die er erwartet hat – mit denen er fest gerechnet hat, weil er sie braucht, um das hier durchzustehen –, auf sich warten lassen. Bislang spürt er nur dieselbe klinische Distanziertheit, die auch die Stadt in ihm ausgelöst hat.

Frank starrt ihn immer noch an und Jim räuspert sich. Er ist ein Captain. „Ich war in der Nähe“, sagt er, was nicht mal eine Lüge ist; nicht dass irgendetwas Verwerfliches daran wäre, Frank anzulügen. „Kann ich reinkommen?“

Beinahe hofft er, dass Frank ablehnt, weil ihm das einen konkreten Grund gäbe, wütend auf ihn zu sein. Allerdings erweist sich diese Welt wieder einmal als Spielverderber, denn mit einem Grunzen tritt Frank beiseite. „Wenn du was zum Essen willst, bist du hier an der falschen Adresse, Junge.“

Ohne sich zu einer Antwort herabzulassen, tritt Jim seine Schuhe am Fußabtreter ab und schilt sich im selben Moment dafür. Frank hat immer darauf bestanden, dass sie die Schuhe abtraten, es selbst aber nie getan.

„Ist’s dir in der Flotte bei all den feinen Leuten und den Aliens zu anstrengend geworden, was?“, fragt Frank. Er hat sich an die gegenüberliegende Wand gelehnt und beobachtet mit zusammengekniffenen Augen, wie Jim seine Jacke an einen Garderobenhaken hängt, die daneben hängende Jacke seiner Mutter ignorierend. Er war schon immer gut darin, Jim mit nur einem Blick zu vermitteln, dass Jims Existenz ein einziger Fehler ist, doch selbst jetzt gelingt es Jim nicht, ihn so dafür zu hassen, wie er es gerne täte. Jedes Mal, wenn er all seine negativen Gefühle auf Frank projizieren will, merkt er, wie müde er ist.

Ein winziger Funke Wahrheit verbirgt sich in Franks Bemerkung – alles ist anstrengend – und das bringt Jim zu einer Antwort. „Ich wollte ... schauen, ob meine Sachen noch hier sind. Ein paar davon würde ich gerne zu mir holen.“

Es ist nicht einmal die schlechteste Ausrede. Jim hat alle seine Besitztümer zurückgelassen, als er von hier fortgegangen ist, und obwohl er bislang nichts davon vermisst hat, denkt er, dass er zumindest die altmodischen Fotoalben zu sich nehmen könnte – falls Frank sie nicht längst entsorgt hat.

Frank zuckt mit den Schultern. Ihm scheint völlig egal zu sein, dass Jim im Flur seines Hauses steht, und das ist schwerer zu ertragen, als wenn er Jim angeschrien hätte. Mit Ärger und Verachtung kann Jim umgehen, mit Gleichgültigkeit weniger.

Früher hat Frank ständig geschrien, und viele von Jims Albträumen – zumindest die, die sich nicht um seinen Vater drehten – hatten sein Gesicht. Obwohl er strenggenommen selten etwas getan hat, was das Jugendamt auf dem Plan gerufen hätte, war er alles andere als eine liebevolle Vaterfigur und noch heute fragt Jim sich manchmal, wie viele seiner Probleme darauf zurückzuführen sind.

Frank war immer sehr gut darin, Jim beiläufig daran zu erinnern, dass Frank stärker war als er und dass Jims Vater tot ist. Ihn jetzt so ... fast zurückhaltend zu sehen, bringt Jims Weltbild einmal mehr durcheinander.

„Nur zu. Ist alles noch in deinem alten Zimmer, deine Mutter wollte es so. Ich hab deinen Kram nicht angerührt.“

Und damit wendet er sich ab und trottet in die Küche und lässt Jim mit der Frage zurück, was zur Hölle hier eigentlich passiert. Vielleicht hat Bones bei seiner Totenbeschwörung gepfuscht und Jim ist versehentlich in einem Paralleluniversum aufgewacht.

Weil ihm nichts Besseres einfällt, macht er sich tatsächlich auf den Weg in sein altes Zimmer. Von innen hat das Haus sich weniger verändert als von außen, und Frank hat nicht gelogen: Alles sieht noch so aus wie zu der Zeit, als Jim hier gewohnt hat, mit der Ausnahme, dass alles von einer Staubschicht überzogen ist. Sogar ein bereits getragenes T-Shirt hängt immer noch achtlos über der Lehne des Schreibtischstuhls, und ... dort, in der Schreibtischschublade, liegen die Fotoalben.

Sie haben seinem Vater gehört. George Kirk hat seine Vorliebe dafür, Bilder und Texte nicht nur digital zu erleben, sondern echtes Papier unter den Fingern zu spüren, an seinen jüngsten Sohn vererbt, und obwohl Jim die Fotoalben von klein auf leidenschaftlich gehasst hat, haben sie ihn gleichzeitig immer so sehr fasziniert, dass er es nicht über sich brachte, sie zu entsorgen. Bones würde behaupten, dass Jim schon immer masochistisch veranlagt war.

Der Gedanke entlockt ihm ein schwaches Lächeln und bringt ihn dazu, sein PADD hervorzuziehen. Wider Erwarten hat Bones ihm seit seiner Ankündigung, San Francisco zu verlassen, nicht mehr geschrieben, und Jim redet sich ein, dass das besser so ist. Hoffentlich gönnt Bones sich endlich einmal eine wohlverdiente Pause.

Kurz überlegt Jim, ob er sich bei ihm melden soll, entscheidet sich allerdings dagegen. Er will nicht wirklich ausführen, wieso er ausgerechnet hier ist und was er vorhat – so genau weiß er das ja selbst noch nicht –, und vage Andeutungen würden Bones nur beunruhigen. Außerdem will Jim nicht lästig sein.

Er blättert die alten Alben durch, starrt in die glücklichen Gesichter seiner Eltern und scheitert wie jedes Mal daran, nicht daran zu denken, dass sein Vater tot ist, seine Mutter nie gelernt hat, mit ihrem Kummer umzugehen, und Sam ... Wo Sam ist, weiß Jim nicht, aber auch sein Leben wurde vom Tod ihres Vaters überschattet.

Seufzend klappt Jim das Album wieder zu. Die Vorstellung, weiter in diesem stillen Zimmer zu sitzen, ist von Sekunde zu Sekunde unattraktiver, also wird er Frank wohl oder übel noch einmal unter die Augen treten müssen. Vielleicht, hofft er, lässt die Wut sich diesmal blicken – wenn die Trauer, die die alten Fotos immer in ihm wachrufen, abgeebbt ist.

Im Haus ist es geisterhaft ruhig, als Jim nach unten geht; nicht einmal die zu lauten Radioübertragungen, mit denen er aufgewachsen ist, sind zu hören. Frank sitzt am Küchentisch, nuckelt an einer Bierflasche und starrt auf ein PADD, und weil er Jim nicht bemerkt, nimmt Jim sich einige Momente, um ihn zu betrachten.

Die letzten Jahre haben ihn nicht gut behandelt. Er hat zugenommen, seine Haare lichten sich verdächtig und er strahlt die Aura eines Mannes aus, der höchstens noch eine Handvoll guter Jahre haben wird und dann viele unschöne. Beinahe verspürt Jim so etwas wie Mitleid mit ihm, und das überrascht ihn so sehr, dass er sich wieder in Bewegung setzt, um sich nicht allzu sehr mit dem Tumult in seinem Inneren beschäftigen zu müssen.

Frank blickt nicht auf, als er ans Waschbecken tritt und sich Wasser in ein Glas laufen lässt.

„Ich hoffe, es ist in Ordnung, wenn ich dein Wasser verbrauche“, sagt Jim spöttisch, um Frank ein wenig zu ärgern, doch auch das erzielt keine Wirkung. Frank grunzt nur.

„Deine Mutter kommt so schnell nicht wieder“, sagt er.

„Ich weiß.“ Jim weiß auch, dass er andernfalls vermutlich nicht hierhergekommen wäre. Mit Frank umzugehen, war immer leichter, weil in seinen Augen keine bodenlose Trauer liegt, wenn er Jim ansieht.

„Was willst du dann hier, Junge?“

Jim lehnt sich gegen die Anrichte, um möglichst viel Platz zwischen ihnen zu lassen. „Hab ich doch gesagt. Meine Sachen holen.“ Und mich selbst wiederfinden ...

„Hmm. Du siehst scheiße aus. Hast du keinen, der sich um dich kümmert?“

Jim denkt an Bones und Spock und all die Leute, vor denen er davongelaufen ist, und zwingt sich, Franks Blick nicht auszuweichen. Ohnehin fragt Frank vermutlich nicht aus Sorge um Jims Wohlergehen, sondern weil er sich über ihn lustig machen will, wenn die Antwort nein lautet.

„Doch.“

„Hast du endlich eine feste Freundin gefunden? Oder einen Freund?“

Jim weiß nicht, was diese Fragen schlimmer macht – dass ihnen kein süffisanter Unterton anhaftet oder dass seine Gedanken wieder wie von selbst zu Bones huschen, obwohl das Unsinn ist. Bones ist sein bester Freund. Er ist nicht –

Oh. Ein Puzzleteil, von dem Jim bislang nicht einmal gewusst hat, dass es fehlt, rutscht an seinen Platz, und es ist so offensichtlich, dass er sich selbst für seine Ignoranz auslachen könnte. Natürlich ist auch das eine Erklärung für alles, was sich in den letzten Wochen – Monaten, wenn er ehrlich ist – so komisch angefühlt hat.

Bons ist derjenige, der Jim am meisten bedeutet, und wenn er nicht mehr so verwirrt ist, wird sich alles zwischen ihnen klären. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen, und obwohl Jim nur bejaht, um Frank ein wenig zu ärgern, ist seine Antwort keine vollständige Lüge.

(Vielleicht, denkt er. Irgendwann.)

Franks Interesse reicht nicht so weit, dass er nachfragt, und das ist besser so. Leute wie er sehen die Welt zu gerne nur in Schwarz-Weiß. „Wie lange bleibst du?“, will er stattdessen wissen, Jim misstrauisch über den Rand seiner Bierflasche hinweg fixierend.

Eine subtile Herausforderung liegt hinter diesen Worten und die Vorstellung, sich irgendwo ein Hotelzimmer zu besorgen oder im Freien zu schlafen, ist nicht sehr verlockend – Jim wird immer noch so schnell müde –, also zuckt er nonchalant mit den Schultern. „Keine Ahnung. Auf jeden Fall über Nacht.“

Wieder enttäuscht das Universum ihn. Anstatt des erwarteten Protests reagiert Frank nur mit einem Schnauben. „Kannst mir morgen dabei helfen, den Generator zu reparieren. Das Scheißding spinnt, seit wir letztes Jahr einen Sturm hatten und ein Teil der Decke in der Scheune runtergekommen ist.“

Er nimmt einen letzten Schluck, rülpst, steht auf und schlurft aus der Küche. „Ich bin heute Abend in der Stadt“, sagt er über die Schulter hinweg. „Falls jemand was von mir will, sag, dass er in das Loch zurückkriechen soll, aus dem er gekommen ist.“

Und damit verschwindet er und Jim weiß wieder einmal nicht, was er denken soll. Wäre es nicht so verstörend, wäre Franks Desinteresse ihm gegenüber beinahe amüsant.

Jims halbausgegorener Plan hatte vorgesehen, durch eine Konfrontation mit Frank das Loch in seinem Inneren zu füllen. Beschimpfungen oder ein handfester Streit wären harmlos im Vergleich zu dem, was er jetzt fühlt.

Vielleicht ist er es nicht einmal mehr wert, dass man wegen ihm irgendeine Regung zeigt. Vielleicht war es ein Fehler, hierherzukommen. Vielleicht ... vielleicht wird er trotzdem hierbleiben. Irgendwann und irgendwo muss er anfangen, sich an sein neues Ich in dieser neuen Welt zu gewöhnen.

Ein weiteres Mal zieht er sein PADD hervor, doch auch diesmal packt er es unverrichteter Dinge wieder weg. Hier, in diesem alten Farmhaus in Iowa, in dem seine Eltern einst glücklich waren, erscheinen ihm Bones und das Leben als Captain der Sternenflotte plötzlich sehr, sehr weit entfernt.

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