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Starship Shiva

von Thilo

Die Piraten von Frikka

Im Jahr 2252 …

 

Ineiau und Hekari materialisierten im Transporterraum der Virginia, um auf dem schweren Kreuzer der Constitution-Klasse den Dienst anzutreten nach ihrer Versetzung von dem Scoutschiff Ursa Minor. Außer Captain Lance Cartwright und dem Transportertechniker erwartete sie ein weiterer menschlicher Mann in einer senfgelben Uniform mit den Rangabzeichen eines Commanders. Wie Cartwright war er afrikanischer Abstammung, jedoch größer und kräftiger gebaut, und sein Haar und Bart waren bereits ergraut, obwohl er etwa gleich alt wie der Captain erschien.

Obwohl Captain Cartwright zuerst einen misstrauischen Eindruck machte, erschien er Ineiau leicht erstaunt und amüsiert, nachdem er sie beide gemustert hatte.

„Willkommen auf der Virginia, Lieutenant Ineiau und Krankenpflegerin Hekari. Ich bin etwas überrascht, dass Sie beide immer noch wie Andorianer aussehen.“

„Danke Sir, bisher galt für uns beide noch die Anweisung von Captain Akhanhse, dass alle Ani der Ursa Minor sich an die Andorianer der Besatzung anpassen, damit diese sich nicht ausgegrenzt fühlen. Aber selbstverständlich können wir beide auf der Virginia unsere eigene Gestalt annehmen“, antwortete Ineiau für sie beide.

Hekari warf ihr einen komischen Blick zu.

Cartwright überlegte kurz. „Nein, da wir bei Ihnen die Möglichkeit haben, würde ich es für besser halten, wenn Sie beide als Menschen wie die anderen Besatzungsmitglieder erscheinen würden.“

Der ergrauende Commander neben Cartwright bemerkte ganz offensichtlich ihrer beiden Reaktionen darauf. „Ihr Vorschlag, ohne Gestaltwandlung an Bord zu sein, hat Mrs Hekari nicht gefallen. Aber Captain Cartwrights Anordnung scheint zwar Mrs Hekari zu gefallen, aber nicht Ihnen. Ich dachte, dass die Verwandlung in andere Personen ein wichtiger Teil der Kultur in Ihrer Art wäre.“

„Es gilt unter Ani unter Umständen als unhöflich, sich nicht an jemand anderes anzupassen. Und ich würde mir ganz ehrlich irgendwie seltsam vorkommen ohne Anpassung an meine Vorgesetzten und Freunde“, erklärte Hekari, während sie gleichzeitig Ineiau einen wissenden Blick zuwarf.

„Ich verstehe, Mrs Hekari. Das scheint aber nicht auf Mrs Ineiau zuzutreffen“, stellte Cartwright das für ihn Offensichtliche fest.

„Meine Fähigkeiten zur Anpassung sind … nicht sehr gut“, antwortete Ineiau vorsichtig, sich auf ihre Probleme nach ihrer Verwundung auf der Phantom beziehend, die die ersten Jahre danach eine Gestaltwandlung völlig unmöglich gemacht hatte und sie immer noch einschränkte, weswegen sie es vermieden hatte, sich anzupassen, bis ihre Versetzung auf die Ursa Minor mit ihrer überwiegenden Ani-Besatzung sie wieder dazu zwang. Und ihr gefiel inzwischen der soziale Druck dazu überhaupt nicht, was zwar unter Ani nicht ungewöhnlich war, aber auch nicht besonders häufig vorkam. Hekari, mit der sie sich ihre Kabine teilte, war anfangs zwar darüber irritiert gewesen, hatte aber dann recht schnell Verständnis für Ineiau entwickelt.

Hekari berührte sie sanft am Arm. „Aber das schaffen wir. Außerdem sind Menschen nicht so kritisch wie andere Ani.“

„Ich würde gerne einfach selbst beurteilen, ob Ihre Fähigkeiten, als Mensch zu erscheinen, ausreichend sind, oder ob wir etwas anderes machen müssen. Sie sind nicht an Bord, weil Sie ein Chamäleon sind, sondern weil wir einen neuen Wissenschaftsoffizier benötigen und Sie die besten Bewertungen unter den zur Verfügung Stehenden haben. Wobei mir ganz ehrlich Gestaltwandler ziemlich suspekt sind. Alleine deswegen würde ich es vorziehen, wenn Sie eine feste menschliche Gestalt benutzen würden“, erklärte Cartwright. Sichtbar kam ihm ein vergessener Punkt, und er deutete auf den grauhaarigen Mann neben sich. „Dieses ist mein Erster Offizier Commander Morgan Eisen. Entschuldigung, Morgan.“

„Kein Problem, Lance.“ Eisen wandte sich an Ineiau und Hekari: „Wir benutzen an Bord etwas, was sich Vornamensbasis nennt. Ich hoffe, dass Ihnen das nicht unangenehm ist, obwohl es ja meines Wissens den Anreden in Ihrem eigenen Kulturkreis entspricht.“

„Wir haben keine Einwände dagegen, Sir“, antwortete Ineiau.

Eisen hob eine buschige, graue Augenbraue und Hekari stupste Ineiau mit dem Ellbogen in die Seite.

„Wir haben keine Einwände dagegen, Morgan“, verbesserte sich Ineiau zu Eisens offensichtlicher Zufriedenheit.

 

„Captain’s Log USS Virginia NCC-1715 – Sternzeit 2252.2103: Wir sind auf dem Weg nach Linna 749, um das Beobachtungsteam der dortigen Zivilisation zu versorgen und zu unterstützen.

Die Bewohner nennen ihre Welt selbst Frikka. Sie haben nach Föderationsstandard die industrielle Stufe E erreicht, sind aber noch mit ihren zahlreichen kleinen Nationen und Fraktionen, die zusätzlich in verschiedene Kasten unterteilt sind, weit von einer weltweiten kulturellen Vereinigung entfernt.

Um nicht gegen die Erste Direktive zu verstoßen und um die Entwicklung von Frikka nicht zu beeinflussen, lebt das Beobachtungsteam verdeckt unter den Einheimischen. Und auch unser wissenschaftliches Team, das für zwei Standardmonate zusätzliche Forschungen und Erkundungen der Welt und ihrer Bewohner vornehmen wird, wird sich entsprechend tarnen müssen. Da es sich bei den Frikkanern um eine menschengroße, zweibeinige, wolfsartige Spezies handelt, verwenden das Beobachtungsteam und wir synthetische Biohüllen, die es Menschen ermöglichen, als Einheimische zu erscheinen.

Unser Erster Anthropologe Lieutenant Frank Dehner wird das sechsköpfige wissenschaftliche Team anführen. Zur Akklimatisierung an ihre Biohüllen wurden die sechs Besatzungsmitglieder bereits zwei Wochen vor unserer Ankunft in ihnen verkapselt. Es ist nicht nur für mich sehr ungewohnt und irritierend, dass jetzt im Prinzip ein Rudel Wölfe an Bord ihren Dienst verrichtet.“

 

Ineiau strich die blaue Tunika an Lieutenant Bruce Awry glatt und prüfte noch einmal ihren Sitz. Awry gehörte als Biologe zu dem Wissenschaftsteam für die Frikka-Mission und sah in seiner Biohülle wie ein großer humanoider Wolf mit grau-braun geflecktem Fell aus. Und in den letzten vier Tagen hatte er festgestellt, dass für die Wolfsgestalt mit ihrer buschigen Rute eine Uniform mit Hosen unpraktisch und unbequem war, obwohl die Kleiderkammer eine Öffnung für die Rute in die Hose ausgeschnitten hatte. Nicht nur Awry war der Überzeugung, dass es eher aussah, als wäre ihm die Hose geplatzt.

Da die vier weiblichen Mitglieder des Teams mit ihren Tuniken keine Probleme hatten, hatte er schließlich Ineiau verlegen wirkend angesprochen, ob er eines ihrer Uniformkleider ausprobieren könnte, da sie beide etwa die gleiche Größe und Statur hatten.

Ineiau war immer noch leicht erheitert darüber, dass Awry und andere Menschen die Tuniken als „Frauenkleidung“ bezeichneten. Offenbar galten unter Menschen nur Hosen für Männer als angebrachte Kleidung, während Röcke und Kleider ausschließlich Frauen vorbehalten waren. Und dass, obwohl Frauen wiederum keinen Einschränkungen mit Hosen unterworfen waren. Für sie als Ani, bei denen es keinerlei sichtbare Geschlechtsunterschiede gab, war diese Unterscheidung der Kleidung nach Geschlechtern trotz aller Erklärungsversuche ziemlich rätselhaft und unlogisch.

Sie musterte weiter Awry. „Das sieht doch gut aus“, stellte sie zufrieden fest.

Er betrachtete sich trotz seiner Wolfsgestalt sichtbar skeptisch im Garderobenspiegel. „Es ist mit dem Rock sehr viel angenehmer, als die Rute durch das Loch in der Hose zu fädeln. Aber ich fühle mich irgendwie in Ihrer Tunika verkleidet …“

Ineiau grinste und spürte dabei ihre Tribalzeichnungen im Gesicht rot durch ihre menschliche Gestalt scheinen. „Sie sind verkleidet! Aber das liegt nicht an der Tunika. Möchten Sie noch Weitere zum Wechseln mitnehmen, oder wollen Sie lieber bei Bedarf meinen Kleiderschrank plündern?“

Awry lachte und zeigte dabei das eindrucksvolle Raubtiergebiss seiner Biohülle. „Ich nehme sehr gerne eine zweite Tunika als Reserve mit. Aber ich fürchte, dass ich Sie noch ein paar Mal heimsuchen werde, bis wir auf Frikka ankommen.“

„Sie sind hier jederzeit willkommen, Bruce“, antwortete Ineiau immer noch grinsend, während sie eine zweite blaue Tunika aus dem Schrank nahm und ihm reichte. „Frank Dehner hat sich anscheinend aber noch nicht von seinen Hosen getrennt, soweit ich es mitbekommen habe.“

„Frank und Röcke? Ich glaube, er würde lieber im Erdboden versinken, als sich wie eine Frau zu kleiden“, erwiderte Awry lachend.

„Im Erdboden versinken?“, fragte Ineiau irritiert nach.

„Eine Redensart. Es wäre ihm mehr als peinlich. Vielen Dank noch einmal für Ihre Hilfe, Ineiau“, verabschiedete sich Awry.

 

„Krankenstation an Lieutenant Ineiau“, wurde sie später beim Lesen der Berichte über Frikka durch das Intercom gestört.

Sie legte das Datenpad neben ihren Kaffeebecher auf dem kleinen Tisch vor ihren Sessel und betätigte das Intercom. „Ineiau hier, bitte sprechen Sie.“

„Würden Sie bitte in die Krankenstation kommen. Wir haben hier ein Problem“, antwortete der Bordarzt Marten Doorman.

„Ich komme sofort. Ineiau Ende“, erwiderte sie beunruhigt. Vor nicht einmal einer Stunde war bereits Hekari außerhalb ihrer Schicht in die Krankenstation gerufen worden. Außerdem irritierte sie, dass Doktor Doorman nicht erwähnt hatte, was jetzt überhaupt das Problem war.

Sie erhob sich, überprüfte kurz im Garderobenspiegel, ob ihre Gestalt als nordeuropäische Frau mit brünetten Haaren noch stimmte. Sie war der zweiten Pilotin Ensign Sophie Benthin dankbar, dass sie sich an ihr anpassen durfte. Ohne Vorlage fiel es ihr immer noch schwer, eine andere Gestalt anzunehmen und zu halten.

Verstimmt erkannte sie, dass ihre Haare wieder ihre natürliche schwarzgrüne Farbe angenommen hatten. Nach kurzem Zögern entschied sie, sie dann eben so zu lassen, und verließ die Kabine.

 

Ineiau betrat die Krankenstation, die gerade von Hekari und den anderen Krankenpflegerinnen aufgeräumt und gereinigt wurde. Offenbar war das medizinische Personal gerade erst mit einer größeren Behandlung fertig geworden. Auch Captain Cartwright war anwesend und beobachtete missmutig die Arbeiten. Er wollte sie begrüßen, stutzte aber dann sichtbar bei ihrem Anblick.

„Grün? Das ist eine … ungewöhnliche Haarfarbe!“

„Es ist meine natürliche Haarfarbe, Sir … Lance“, antwortete Ineiau.

„Es steht Ihnen. Behalten Sie es ruhig so“, erwiderte Cartwright mit einem dünnen Lächeln.

Auch Doktor Doorman kam jetzt aus einem der beiden Patientenzimmer in den Hauptraum. Er sah kurz unsicher Cartwright und Ineiau an.

Der Captain wirkte ebenfalls für einen Moment unentschlossen, bevor er sprach: „Ineiau, Frank Dehner hat eine allergische Reaktion auf seine Biohülle als Frikka-Wolf und kann deshalb an der Mission auf dem Planeten nicht teilnehmen. Sie werden für ihn einspringen müssen.“

Ineiau sah ihn wenig begeistert an.

Bevor sie etwas sagen konnte, ergriff jedoch Doorman das Wort: „Ich weiß bereits von Hekari, dass die Verwandlung in einen Wolf weit außerhalb der gestaltwandlerischen Fähigkeiten von Ani liegt. Wir haben noch eine Biohülle in Reserve, die glücklicherweise noch nicht für jemanden vorbereitet wurde. Laut Ihrer Krankenakte haben Sie bis auf die bei Ani übliche Unverträglichkeit von Alkohol sonst keine Allergien gegen Tierhaare oder Ähnliches. Oder gibt es noch etwas anderes?“

„Nein, ich habe keine Allergien. Aber ich bin Botanikerin und keine Anthropologin. Was ist mit unserer zweiten Anthropologin Ensign Laura Laville?“

„Laura hat Angst vor großen Hunden und damit auch Wölfen“, antwortete Cartwright. „Ich hoffe, dass das nicht auch auf Sie zutrifft?“

Ineiau schüttelte den Kopf. „Nein, allerdings habe ich bisher nur kleine Schoßhunde, wie Irish Setter, gesehen.“

Cartwright gelang es, sichtbar mühsam ein Lachen zu unterdrücken. „Irish Setter zählen zu den großen Hunden! Möchte ich wissen, was Sie unter großen Hunden verstehen?“

„Ich hatte bisher Hunde als Gegenstücke zu unseren Kikka angesehen. Ich selbst hatte als Kind nur eine Sa-Kikka, die entsprach etwa größenmäßig einer Hauskatze von der Erde. Aber die größeren Re-Kikka können durchaus sechs Meter Länge und bis zu vierhundert Kilo Gewicht erreichen.“

Zu ihrer Überraschung sah Cartwright jetzt wirklich geschockt aus, während Doktor Doorman einen ratlosen Eindruck machte.

„Entsprechen diese … Kikka jetzt eher unseren Hunden oder Pferden?“, fragte Doorman vorsichtig nach.

„Nein, das sind gefiederte Dinosaurier! Re-Kikka sind im Prinzip Utahraptoren! Ich hatte bisher angenommen, dass nur die Kleinen dieser Biester als Haustiere gehalten werden“, antwortete Cartwright.

„Sie sind zumindest häufiger, weil handlicher“, mischte sich jetzt auch Hekari ein, während sie amüsiert Ineiaus Haare betrachtete. Statt wie die meisten Ani kurz die Augen zu schließen, schnippte sie mit ihren Fingern und ließ ihre eigenen Haare die natürliche schwarzviolette Farbe annehmen.

„Ich glaube, ich würde mich nicht aus dem Haus wagen, wenn mein Nachbar so ein Jurassic-Park-Ungeheuer als Haustier halten würde“, erwiderte Doorman mit einem sichtbaren Erschauern. „Ineiau, wir haben inzwischen Dehner aus seiner Biohülle befreit und ihre eigene vorbereitet. Da Sie nur noch etwas über eine Woche Zeit zum Akklimatisieren an Ihren neuen Körper haben, würde ich Sie gerne sofort darin verkapseln. Sie sollten dafür vorher ihre eigene neutrale Gestalt annehmen.“

 

Nachdem die synthetische Biohülle aktiviert worden war, konnte Ineiau auch wieder sehen. Da die beiden künstlichen, hellblauen Augen etwas weiter auseinanderstanden als ihre eigenen, erschien ihr die Sicht seltsam verzerrt, obwohl Doktor Marten Doorman ihr versichert hatte, dass sie sich schnell daran gewöhnen würde.

Sie erhob sich vom Behandlungstisch und trat vor dem Spiegel, aber statt ihres normalen Abbildes erschien dort eine wolfsartige Gestalt mit einer langen Schnauze, die in dichten, langen, cremefarbenen Pelz gehüllt war. Fasziniert beobachtete sie, wie die Biohülle ihre Mimik zumindest teilweise in das Wolfsgesicht und dessen Stehohren übertrug.

„Ich bin versucht, dich zu kraulen und deinen Kopf zu tätscheln“, konnte sich neben ihr Hekari nicht verkneifen.

Während sie sich mit einem strengen Blick zu ihr umdrehte, sah sie noch im Spiegel, dass sich ihre Ohren nach hinten klappten. „Untersteh dich!“ Sie bemerkte, dass ihre Aussprache verzerrt und undeutlich klang durch die lange Schnauze, in die ihr eigener Mund integriert war.

Doktor Doorman grinste zufrieden. „Ihre Aussprache wird sich noch wieder normalisieren. Und Sie werden auch üben müssen, zu essen und zu trinken mit ihrem neuen Gesicht.“ Nach einer kurzen Pause ergänzte er: „Wie Sie jetzt bemerken, hat es durchaus einen Grund, dass Sie sich erst einmal eine Woche an Ihre Biohülle akklimatisieren, bevor Sie auf Frikka landen.“

 

Auch wenn Ineiau offiziell als Erste Wissenschaftsoffizierin der Virginia das Kommando über das Außenteam hatte, ließ sie den anderen Mitgliedern weitgehend freie Hand bei ihrer Arbeit, die wirklich nicht in ihrem eigenem Fachbereich lag. Zu ihrer Erleichterung waren die fünf Wissenschaftler ihr dafür dankbar, kamen aber trotzdem zu ihr, wenn sie eine Entscheidung oder allgemein Hilfe benötigten. Sie teilten sich eine der kleinen Arbeiterhütten, die zu der großen Gärtnerei gehörten, die vom Beobachtungsteam in der Hafenstadt Turkina als Tarnung und Basis benutzt wurde. Dementsprechend war das Außenteam der Virginia als Gastarbeiter dort beschäftigt, obwohl im Großen und Ganzen nur Ineiau wirklich als Gärtnerin arbeitete, während die anderen ihren Beobachtungen und Forschungen nachgingen. Ihr war es durchaus recht, da sie dadurch auch die Nutzpflanzen in diesem Teil der Welt studieren konnte, die bisher weitgehend unbeachtet durch Wissenschaftler der Föderation geblieben waren. Sie war überrascht, von Doktor Julius Wagenmüller, dem Leiter der Beobachtungsmission zu erfahren, dass sie selbst die erste Botanikerin aus der Föderation überhaupt auf Frikka war.

Heute Abend war sie aber zusammen mit Bruce Awry zu dem Markt am Hafen unterwegs, um Obst, Gemüse und frische Snoopablätter zum dortigen Verkaufsstand der Gärtnerei für den nächsten Tag zu bringen. Da die Wölfe keine Lasttiere kannten, zogen sie beide den zweirädrigen Karren mit den Waren.

Unterwegs begegnete ihnen außer weiteren Handkarren auch ein vierrädriges Fahrzeug mit Eigenantrieb, welches Ineiau an die frühen Automobile von der Erde erinnerte, die sie in einem Museum in der deutschen Stadt Wolfsburg gesehen hatte.

Das kleine Fachwerkhaus mit dem Verkaufsstand stand dicht an dicht mit weiteren ähnlichen Häusern rund um den mit Feldsteinen gepflasterten Marktplatz. Über die spitzen Häuserdächer hinweg konnte sie den Mastenwald der Schiffe und Boote im Hafen sehen. Und sie erblickte zwischen den anderen Häusern zwei ausgebrannte Ruinen. Da diese auch nicht direkt nebeneinanderstanden, vermutete Ineiau, dass sie das Werk der Piraten waren, von denen sie gehört hatte, die immer wieder die Städte an der Roten Bucht heimsuchten auf ihren Raubzügen.

Als sie den Verkaufsstand erreichten, wurden sie dort von einer grauen Wölfin erwartet, die sich als Ena vorstellte. Ineiau und Awry konnten ihr ihre richtigen Namen beziehungsweise Vornamen nennen, da diese durchaus als lokale Namen durchgingen, statt wie ein Teil der Beobachter einen Tarnnamen benutzen zu müssen.

Ena winkte einen halbwüchsigen Wolf in der gleichen, cremeweißen Farbe wie Ineiaus Biohülle heran. „Roa, komm und hilf, die Waren abzuladen!“

Ineiau fiel auf, dass Roas Kittel einen ziemlich verschlissenen Eindruck machte. Ena bemerkte ihre Reaktion und erklärte leise: „Roa ist kein Mitarbeiter von Atagos Gärtnerei. Seine Eltern wurden vor vier Jahren von den Piraten der Roten Bucht bei einem Überfall auf Turkina getötet. Seitdem ist er alleine auf der Straße und lebt von Gelegenheitsarbeiten.“

Ineiau nickte verstehend und trug ihre Kiste Snoopablätter in den kleinen Lagerraum. Da Roa jetzt auch wieder in Hörweite kam, nachdem er einen Sack Mohrrüben ähnelndem Gemüse ins Lager gebracht hatte, verkniff sie sich erst einmal weitere Fragen.

Roa musterte sie mit wachem Interesse, dann schnupperte er verzückt. „Sind das frische Snoopablätter?“ Er wandte sich an Ena. „Darf ich welche haben, wenn wir fertig sind?“

„Du hast keine Möglichkeit, sie richtig zuzubereiten, und würdest sie wieder so kauen. Ich kann dir nachher eine Kanne Snoopatee machen. Wärst du damit einverstanden?“, erwiderte Ena nicht unfreundlich.

Roa nickte begeistert, während seine Rute wild wedelte. „Oh ja, das wäre noch besser!“, rief er und eilte zum Wagen, um den nächsten Sack abzuladen.

„Bleibt ihr beiden zum Essen? Oder stört Ihr euch an einem Straßenkind am Tisch?“, fragte Ena, während sie ihre eigene Kiste mit Snoopablättern im Lager auf die von Ineiau gebrachte abstellte.

„Bruce und ich nehmen die Einladung sehr gerne an. Und nach dem, was ich von ihm gesehen habe, gefällt mir der Junge. Wenn er fleißig und zuverlässig ist, wie kommt es, dass er bisher keine Anstellung von Atago erhalten hat?“

„Atago hält sich sehr streng an die Bräuche und Traditionen. Und damit hält er sich immer noch an das blöde Kastenwesen, obwohl es die Leitwölfe und Priesterinnen von Turkina abgeschafft haben“, erwiderte Ena leicht verärgert wirkend.

Auch Ineiau war bereits aufgefallen, dass Doktor Julius Wagenmüller unter seinem Tarnnamen Atago sich pedantisch und erzkonservativ an die hiesigen Konventionen hielt, selbst wenn diese von den Bewohnern als längst veraltet angesehen wurden.

Während sie gemeinsam zum Wagen zurückgingen, schnupperte Ena überrascht und sah sich erstaunt um.

„Stimmt etwas nicht?“, fragte Ineiau und schnupperte ebenfalls, ohne jedoch etwas Auffälliges zu riechen.

„Ja … nein, es ist schwer zu sagen. Ich hatte eben einen völlig fremdartigen Geruch in der Nase, den ich nicht unterbringen konnte. Aber da dein Kittel so stark nach Snoopa duftet, kann ich die Quelle nicht lokalisieren.“

„Ich habe den ganzen Vormittag Snoopablätter gepflückt“, erwiderte Ineiau vorsichtig, während in ihr die Befürchtung aufkam, dass die Wölfe womöglich den Unterschied zwischen ihr und Wölfen oder Menschen riechen könnten.

„Bitte nicht falsch verstehen! Ich mag den Duft von frischen Snoopablättern. Wahrscheinlich kam der fremde Geruch vom Hafenbecken“, antwortete Ena nicht ganz überzeugt. „Ich meine, Atago und die anderen Gärtner riechen irgendwie immer sonderbar, aber das war jetzt ganz anders und unheimlich, obwohl es nicht wirklich unangenehm roch.“

Ineiau entschied, dass sie möglichst unauffällig Abstand zu der grauen Wölfin halten sollte, und bereute es etwas, die Einladung zum Essen angenommen zu haben, bei dem Ena womöglich feststellen könnte, dass sie tatsächlich Ineiau gerochen hatte.

 

Entgegen Ineiaus Besorgnis war das Essen ohne Zwischenfälle vergelaufen. Sie und Roa halfen Ena noch beim Abwasch, während Bruce Awry sich bereits mit dem mit leeren Kisten und Säcken beladenen Karren auf dem Rückweg zur Gärtnerei machte.

Sie wollte sich gerade von den beiden Wölfen verabschieden, als die Alarmglocke erschallte. Während sie noch überrascht zum Glockenturm sahen, hörten sie Schüsse und Schreie.

„Ein Piratenüberfall!“, schnappte Ena und wollte Ineiau und Roa zurück ins Haus drängen.

Ein älterer Wolf kam aus einer Nebengasse gerannt. Es ertönte ein einzelner heller Knall, und er stürzte aus dem Lauf heraus zu Boden und bewegte sich nicht mehr. Eine rote Blutlache bildete sich um ihn. Aus der Gasse kam johlend eine Gruppe bewaffneter Wölfe gestürmt.

Ineiau, Roa und Ena flüchteten ins Haus und legten in Windeseile den schweren Riegel vor die Tür, wobei sie begriffen, dass die Tür eher eine symbolische Barriere bildete, angesichts der noch offenstehenden Läden des direkt daneben liegenden, großen Verkaufsfensters.

Ein Pirat griff auch prompt durch das Fenster nach dem Türriegel.

Ineiau reagierte mehr instinktiv als bewusst, wie es ihr als Sicherheitskraft auf der Phantom beigebracht worden war. Sie packte die Hand des Wolfes, zog sie zu sich und riss gleichzeitig ihr Bein hoch. Ihr Gegner heulte schmerzerfüllt auf, als sie seinen Arm dadurch brach. Wimmernd sprang er weg vom Fenster, nachdem sie ihn freigegeben hatte.

Die anderen Piraten beschlossen offenbar, kein weiteres Risiko mehr einzugehen, und schlugen mit Äxten die Tür ein. Als sie in das Haus eindrangen und die drei mit vorgehaltenen Waffen in die Zimmerecke drängten, brüllte jemand von weiter hinten. „Tötet sie nicht! Die Große wird einen guten Preis als Gladiator erzielen!“

Die Piraten trieben sie auf den Marktplatz, wo bereits andere Anwohner ängstlich zusammengedrängt auf ihr Schicksal warteten. Sich umblickend sah Ineiau, dass die Piraten außer ihrem Verkaufsstand auch die anderen Geschäfte plünderten. Einzelne Häuser standen in Flammen.

Sie sah den Piraten, dem sie den Arm gebrochen hatte, wimmernd zusammengekrümmt auf einer Bank sitzen. Eine andere Piratin mit ungepflegtem, dunkelbraunem Fell voller Knoten und Kletten wollte sich seinen verletzten Arm ansehen, wich aber zurück, als ein großer, schwarz-grau gefleckter Wolf mit einem pelzbesetzten Mantel dazu trat. Er betrachtete kurz den nun ängstlich wirkenden Verletzten. „Idiot! Du bist jetzt nutzlos!“, dröhnte der schwarz-graue Wolf, zog eine mehrläufige Pistole unter seinem Mantel hervor und schoss den anderen in den Kopf.

Keiner der Piraten protestierte dagegen oder wirkte irgendwie schockiert über den kaltblütigen Mord an einem aus ihren eigenen Reihen.

„Los, Beeilung, bevor noch mehr Stadtwachen kommen!“, brüllte der Wolf im Pelzmantel.

Ineiau erkannte jetzt an seiner Stimme, dass er auch vorher den Befehl gegeben hatte, Ena, Roa und sie nicht zu töten. Gleichzeitig fragte sie sich, warum bisher keine Stadtwachen den Angriff abgewehrt hatten.

Die gefangenen Anwohner mussten Kisten, Ballen und Fässer aus den geplünderten Geschäften tragen.

Als sie schwer bepackt zum Hafenbecken geführt wurden, erblickte Ineiau mehrere tote Stadtwächter und andere Wölfe am Kai liegend. Den vielen kleinen Einschlägen in den Häusern nach vermutete sie, dass die Piraten mit Kartätschenschüssen den Schiffsanlegekai leer gefegt hatten.

Sie bestiegen ein wartendes zweimastiges Schiff, auf dessen Back zwei langläufige Kanonen auf Drehlafetten standen. Nachdem sie ihre Last in den Laderaum des Schiffes gebracht hatten, wurden sie in einen hölzernen Käfig an Deck gesperrt. Zwei den Piraten als zu alt oder zu kränklich erscheinende Wölfe wurden von ihnen einfach über Bord geworfen. Ineiau hoffte besorgt, dass sie es an Land schaffen würden.

Das Schiff legte ab und lief mit vollen Segeln aus dem Hafen. Die Kanonen des Hafenforts gaben wirkungslos einige Schüsse hinter ihnen ab.

 

Nach einiger Zeit erreichte das Piratenschiff eine auf einem Meeresfelsen errichtete Festung vor der Küste. Ein großes mit Stahlblech beschlagenes Tor wurde geöffnet, und das Schiff glitt in ein höhlenartiges Dock. Ineiau und die anderen Gefangenen wurden aus dem Holzkäfig hinausgelassen. Sie mussten die Beute aus dem Laderaum in die Festung tragen. Über eine steile, schmale Wendeltreppe wurden sie nach oben getrieben. Sie legten ihre Last in ein Lagerhaus in einem offenen Hof ab. Dann wurden sie erneut zur Wendeltreppe gebracht und stiegen weiter nach oben. Sie erreichten schließlich einen erhöhten Hof, auf dem eine Seilerei stand, weit über den Klippen zum Meer. Weitere Piraten standen hier bereits Wache bei einem kleinen Häuflein Wölfe, die offensichtlich ebenfalls Gefangene waren.

Der schwarz-grau gefleckte Piratenhäuptling im Pelzmantel sah sich die neuen und alten Gefangenen an. „Ihr gehört jetzt als Sklaven den Piraten der Roten Bucht! Das bedeutet, Ihr seid mein! Bis ich euch verkaufen kann als Arbeiter, Gladiatoren oder Huren, werdet Ihr hier in meinen Werkstätten arbeiten. Für Ungehorsam, Faulenzerei oder Nutzlosigkeit gibt es nur eine Strafe.“ Er zeigte auf einen ausgemergelt aussehenden Wolf unter den vorherigen Gefangenen.

Mit begeistertem Johlen packten ihn mehrere Piraten und warfen ihn über die Brüstung auf die Klippen.

Einige andere Gefangene sahen für einen Moment aus, als wollten sie auf ihre Peiniger losgehen, sackten dann aber resigniert wieder in sich zusammen angesichts der auf sie gerichteten Waffen. Ineiau hörte leises Weinen.

Nachdem der Todesschrei des Ermordeten verstummt war, grinste der Häuptling bösartig. Er sah sich um, bevor er seine Piraten anwies: „Es wird schon dunkel. Bringt sie in den Kerker.“

 

Eine Sklavengruppe, zu der Ineiau gehörte, wurde am nächsten Morgen in eine Segelmacherei beim unteren Hof geführt. Ein Pirat teilte die Sklaven zu verschiedenen Arbeiten in der weitläufigen Schneiderwerkstatt ein. Er stoppte bei Ineiau und einem großen schwarzen Wolf. „Ihr beiden Großen kommt mir gerade recht! Ich brauche euch als Träger vom Lager in die Werkstatt. Bewegt euch!“

Ineiau bemerkte, dass der schwarze Wolf Abstand zu ihr hielt.

Sie erreichten das Lagerhaus auf der anderen Seite des Hofes, und der Pirat deutete auf die großen Ballen mit dem erstaunlich leichten und dünnen Segeltuch. „Die kommen in die Werkstatt“, befahl er ihnen und setzte sich dann an einem neben der Tür stehenden kleinen Tisch, um sie bei der Arbeit zu beaufsichtigen, während er etwas aus einer Tonflasche trank.

Der schwarze Wolf hielt weiter Abstand und versuchte wortlos, einen der großen schweren Segeltuchballen alleine anzuheben. Als Ineiau zu ihm trat, schüttelte er den Kopf. „Ich bin unrein.“

Ineiau sah ihn überrascht an. „Inwiefern?“

„Ich bin Totengräber.“

Der Pirat setzte seine Flasche ab und schnaubte verächtlich. „Und dann hast du es gewagt, so dicht bei mir zu stehen, Totengräber?“, knurrte er.

Ineiau ließ ihren Blick zwischen den beiden kurz hin und her wandern. Dann zuckte sie mit den Schultern. „Wir können die Ballen nur gemeinsam tragen. Das Kastenwesen ist abgeschafft, wir sind alle gleich. Und mir ist ein Totengräber erheblich sympathischer als ein Räuber und Mörder!“ Sie ignorierte den finsteren Blick, den ihr der Wächter daraufhin zuwarf.

Der schwarze Wolf grinste. „Darin sind wir einer Meinung.“ Leiser und für den Piraten nicht hörbar fügte er hinzu: „Es könnte sein, dass dich deine Bereitschaft, in meiner Nähe zu sein, vor Zudringlichkeiten durch die Wachen schützt. Die meisten sind bezüglich der Kasten sehr konservativ, obwohl sie als Kriminelle eigentlich wirklich außerhalb jeder Gesellschaft stehen.“

Zusammen gelang es ihnen, mühsam den schweren Ballen hochzuwuchten. Langsam gingen sie mit ihrer Last über dem Hof.

„Du bist kräftiger, als ich es erwartet hätte“, bemerkte der schwarze Wolf.

„Ich arbeite normalerweise in einer Gärtnerei. Das übt“, erwiderte Ineiau nicht ganz wahrheitsgemäß. Obwohl sie beide fast gleich groß waren, wusste sie, dass sie eine etwas größere Körper- und Muskelmasse als der Wolf hatte.

Sie erreichten die Werkstatt und legten den Ballen für die dort arbeitenden Sklaven ab. Die hier wachende Piratin zeigte mit ihrem Gewehr auf ein zusammengefaltetes, fertiges Segel. „Bringt das ins Dock, Sklaven. Danach holt ihr weitere Ballen aus dem Lager hierher“, wies sie schroff Ineiau und ihren Begleiter an, während sie weiter Snoopablätter kaute.

Sie nahmen das Segelpaket und wollten sich auf dem Weg machen.

„Du bist eben schon rückwärtsgegangen. Wir müssen die Wendeltreppe damit runtersteigen. Schaffst du das?“, fragte der schwarze Wolf besorgt.

„Ja, das schaffe ich.“ Sie zögerte einen Moment. „Ich weiß nicht, wie ich dich ansprechen soll. Mein Name ist Ineiau.“

„Deka“, antwortete er schnaufend.

Sie erreichten die steile Wendeltreppe, die hinunter zu dem Dock führte, und begannen vorsichtig, sie herabzusteigen.

„Wirst du schon länger hier festgehalten, Deka?“, fragte Ineiau, als sie außer Hörweite der Wachen waren.

„Seit zwei Monden. Die meisten Sklaven werden recht schnell auf der anderen Seite der Roten Bucht in Sazana zusammen mit den hier hergestellten Waren verkauft. Die betreiben weiterhin noch Sklaverei, während es alle anderen umliegenden Stadtstaaten verboten haben. Deshalb ist Sazana die einzige Stadt, die kein Kopfgeld auf die Piraten ausgesetzt hat, mit ihnen handelt und auch vor ihnen nichts zu befürchten hat.“

Ineiau stutzte kurz, während ihr bewusst wurde, dass Deka ihr damit etwas erzählte, was für sie zwar neu, aber eigentlich zum Allgemeinwissen gehören sollte.

Er bemerkte offenbar ihre Reaktion und grinste. „Ich komme ebenfalls aus Turkina. Bevor die Piraten mich verschleppt hatten, hatte ich meine Werkstatt in der Lerastraße nahe der Gärtnerei. Du riechst nach den Snoopabäumen, die dort wachsen.“

„Ich hatte am Tag des Überfalles Blätter von ihnen geerntet“, erwiderte Ineiau beeindruckt von Dekas Geruchssinn, während sie sich fragte, worauf er hinaus wollte.

„Die Gärtner und Gastarbeiter dort haben alle einen irgendwie seltsamen Geruch. Aber du riechst ganz anders. Es ist ein Geruch, den ich noch nie bei einem Wolf wahrgenommen habe.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Egal, woher er kommt.“

Ineiau dachte kurz an Ena, die ebenfalls in ihrer Nähe irritiert geschnuppert hatte. „Du bist nicht die Erste, die meinen Geruch seltsam findet.“ Sie wechselte das Thema: „Gibt es in der Festung außer dem Tor des Schiffsdocks noch einen anderen Ausgang?“

„Nein, es gibt nur dieses Tor zur See. Die einzige Alternative wäre es, über die Mauern zu klettern, aber die Klippen und die Wellen machen es unmöglich, mit einem Boot dort anzulegen. Und auch im Dock ist normalerweise kein Boot, wenn das Schiff weg ist. Ich glaube, dass der Häuptling der Piraten Sorge hat, dass sich einige seiner Leute mit dem Inhalt der Schatzkammer absetzen würden, wenn sie die Möglichkeit hätten.“

Sie erreichten den Fuß der Treppe und hielten kurz an, um wieder Kraft zu sammeln.

„Das Piratenschiff musste gegen den Wind kreuzen, als es mit mir von Turkina hierher segelte. Ist die Windrichtung beständig?“, fragte sie, wissend, dass möglicherweise die Antwort darauf wieder Allgemeinwissen sein könnte.

„Ja, der Wind dreht sich nicht und bläst immer in Richtung des Festlands. Aber ohne Schiff müssten wir ein Floß bauen, ohne dass die Piraten es mitbekommen. Und selbst, falls wir das schaffen würden, dann wären immer noch die Riffe an der Küste, denen wir mit einem Floß nicht ausweichen könnten. Außerdem gibt es hier die großen Grashaie, die auch Wölfe nicht verschmähen.“

Da sie jetzt das Dock erreichten und in die Hörweite von Wächtern kamen, schwiegen sie. Sie sahen, dass das Piratenschiff nicht da und wahrscheinlich auf einem weiteren Raubzug unterwegs war.

Sie legten das Segel an dem zugewiesenen Platz ab und wollten sich wieder auf den Weg zur Segelwerkstatt machen.

Der wachhabende Pirat stoppte sie. „Hey, Ihr Faulpelze! Nehmt gefälligst die Kisten mit den Flaschen da mit ins Lager. Und wehe, ihr verschüttet was davon oder zerbrecht etwas. Das ist Lampenöl, und ich lasse euch das Zeug auflutschen, wenn ich auch nur einen Tropfen irgendwo verschüttet vorfinde!“

„Ach komm, Yukaro. Wir können sie das Lampenöl auch so auflecken lassen. Das war das letzte Mal sehr lustig“, brachte einer seiner Kumpane ein, und beide lachten dann bösartig wie Hyänen.

Ineiau und Deka nahmen jeder eine der schweren Kisten. Da ein ganzer Stapel davon neben dem Schiffsliegeplatz herumstand, würden sie wohl noch mehrfach laufen müssen.

Als sie wieder auf der Wendeltreppe alleine waren, sprach Ineiau weiter. „Ich hätte eine andere Idee, um hier wegzukommen, aber dafür müssten wir die Wächter loswerden, bevor das Schiff wieder zurückkommt.“

„Ich wüsste keine Alternative zu einem Boot, es sei denn, dass du fliegen könntest. Die Wächter sind uns zwar zahlenmäßig unterlegen, aber wir sind unbewaffnet. Und die meisten von uns sind zu verängstigt, um ohne einen besonderen Auslöser einen Aufstand zu wagen. Das gilt auch für mich! Obwohl ich größte Lust hätte, den Mistkerlen an die Gurgel zu gehen!“

 

Am Morgen des dritten Tages in der Inselfestung wurden Ineiau und die anderen Sklaven zur Arbeit auf dem erhöhten Hof mit der Seilerei oberhalb der Klippen zum Meer geführt. Sie stellte fest, dass für die Arbeit an dem Spill zum Seildrehen alle vorhandenen Sklaven vorgesehen waren und dabei von sämtlichen Wächtern beaufsichtigt wurden.

Sie hörte dicht hinter sich entsetzte Schreie und drehte sich um. Zwei der Piraten hatten sich eine halbwüchsige Wölfin ausgewählt und zerrten sie brutal weg von ihrer Mutter. Einer der Wächter riss lachend der Wölfin den Kittel vom Leib.

Für Deka war das offenbar der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Mit einem Wutgeheul stürzte sich der große schwarze Wolf auf den überraschten Wächter, der noch triumphierend den Kittel in der Hand hielt, packte ihn und warf ihn scheinbar mühelos über die Brüstung.

Der Schrei des Piraten verstummte abrupt, als er auf den vom Meer umspülten Klippen ankam.

Als wäre das Ende des Schreies ein Startsignal gewesen, lösten sich jetzt auch die anderen Sklaven aus der Erstarrung und gingen jetzt ebenfalls mit lautem Kriegsgeheul auf die darauf unvorbereiteten Wächter los. Mehrere Schüsse fielen.

Der zweite Wächter stieß die junge Wölfin von sich, zog seine Pistole und schoss auf Deka, bevor dieser auch auf ihn losgehen konnte.

Deka schrie auf, als die Kugel in seinem Arm schlug, und prallte rückwärts gegen die Brüstung.

Bevor der Wächter die mehrläufige Pistole neu spannen und ein zweites Mal schießen konnte, sprang Ineiau vor und trat ihm aus dem Sprung heraus in den Bauch, wissend, dass fast alle Wesen dort verwundbar waren. Der Pirat klappte stöhnend zusammen. Bevor Ineiau ihm weiter zusetzen konnte, stürzte sich schon die Mutter seines ausgewählten Opfers auf ihn und verbiss sich in seine Kehle.

Ineiau drehte sich einer mit einem Wutgeheul auf die Mutter zustürmende weitere Wächterin zu, packte deren Speer und schleuderte die leichtere Wölfin mit ihrem eigenen Schwung gegen die Brüstungsmauer. Bevor sie sich wieder aufrappeln konnte, griff Ineiau von hinten nach ihrem Kopf und schmetterte ihn gnadenlos mit aller Kraft gegen die Mauer, an der die leblos zusammensackende Piratin eine rote Blutspur hinterließ.

Sie ahnte mehr den nächsten Angriff, als dass sie ihn sah, und sprang instinktiv zur Seite. Ein großer, narbiger Wächter verfehlte sie nur knapp mit den bereits mit Blut besudelten Klauen seiner rechten Pranke. Ineiau bemerkte etwas irrational, dass der Pirat die gleiche Fellfarbe wie sie und Roa hatte. Wütend fletschte er sein großes, kräftiges Gebiss und wollte ihr offenbar an die Kehle gehen. Sie wusste, dass ihr eigenes künstliches Gebiss sehr viel schwächer war als das der echten Wölfe und ihr selbst einen Kehlbiss unmöglich machte, selbst falls sie dazu willens gewesen wäre.

Sie schmetterte ihre linke Faust ins Gesicht ihres Gegners und spürte dabei einige seiner Zähne abbrechen. Der narbige Wächter wich überrascht über diese ihm fremdartige Art des Angriffes zurück. Wölfe benutzten ihre Zähne und Klauen zum Kampf, aber zum Boxen waren sie körperlich weniger geeignet und hatten es nie entwickelt, während Ineiau an der Akademie und in ihrer Zeit als Sicherheitskraft neben anderen Nahkampftechniken auch den Faustkampf gelernt hatte.

Mit einem Kriegsgeheul drang Ineiau weiter auf ihren zurückweichenden Gegner ein, während sie mit beiden Fäusten in schneller Folge auf seinen Kopf einschlug. Er versuchte zunehmend verzweifelt, ihre Schläge mit seinen Händen abzuwehren, scheiterte aber. Er taumelte hilflos zurück, bis sie ihn mit zwei letzten Fausthieben zu Boden schickte. Mit einem Knurren versuchte ihr Gegner, jetzt nach einer dicht bei ihm liegenden Axt zu greifen. Noch während sich seine Finger um den Axtgriff schlossen, sprang Roa an Ineiau vorbei auf ihn zu.

„Für Mama und Papa!“, schrie er mit Tränen in den Augen und stach mit einem abgebrochenen Speer mehrfach wild auf den Piraten ein.

Schluchzend ließ Roa die blutige Waffe fallen und warf sich laut weinend an Ena, die ihnen zur Hilfe kommen wollte. Ena umarmte ihn und wiegte ihn wie ein kleines Kind.

Ineiau sah sich besorgt nach weiteren Gegnern um, aber der Kampf war vorbei. Nur noch Sklaven waren auf ihren Füssen. Keiner der Piratenwächter war am Leben geblieben.

Sie besah sich immer noch atemlos und geschockt von der erlebten Gewalt die Überlebenden. Dann ging sie müde zu Deka, um ihm Erste Hilfe zu leisten. So, wie es aussah, war er nicht der Einzige, der ihre medizinischen Kenntnisse benötigen würde.

Jetzt mussten sie nur noch irgendwie von der Inselfestung entkommen, bevor das Piratenschiff zurückkehrte.

 

„Du hast den Totengräber berührt, als du seine Wunde behandelt hast, bitte fass mich nicht an“, bat der blutüberströmte braune Wolf.

Ineiau schüttelte müde den Kopf. „Ist jemand, der deinen verstorbenen Angehörigen ein würdiges Begräbnis gibt, weniger wert als ein Sklavenhändler und Mörder? Du wirst verbluten und sterben, wenn ich deine Wunde nicht reinige und nähe. Ist es dir das wert?“

Der braune Wolf zögerte mit einer Antwort, als die Mutter, der nur knapp einer Vergewaltigung entgangenen halbwüchsigen Wölfin, Ineiau zornbebend beisprang: „Ohne den Totengräber wäre meiner Tochter Suzarra furchtbares Leid angetan worden, und danach wäre sie wahrscheinlich wie ihr Vater ermordet worden. Deka und seine Kaste auf eine Stufe mit den Dreckskerlen zu setzen, ist … einfach nur ungerecht!“ Sie reichte ohne ein weiteres Wort Ineiau die Schnapsflasche, die damit begann, die tiefe Wunde des Verletzten zu desinfizieren, während dieser sich bemühte, seine Schmerzen nicht zu zeigen, aber keinen weiteren Einspruch gegen die Behandlung erhob.

„Außerdem ist das Kastenwesen veraltet und wurde von Turkina und den meisten anderen Stadtstaaten abgeschafft. Die Einzigen, die sich noch daran halten, sind die Sklavenhalter in Sazana. Ich verstehe nicht, wie man an dem Blödsinn noch festhalten kann“, fügte Ena hinzu.

„Ineiau, wir sind die Wächter los. Was wäre deine Idee gewesen, um von diesem Felsen zu entkommen? Wir können schließlich nicht einfach wegfliegen“, erkundigte sich Deka, der ihr interessiert zusah, wie sie die Verwundeten behandelte.

„Doch, wir können fliegen!“, antwortete Ineiau mit einem müden Grinsen, während sie den blutverkrusteten Pelz rund um die Verletzung ihres Patienten abrasierte, damit sie sie nähen konnte. „Wir haben alles dafür Notwendige hier: Segeltuch, Seile, Kisten, Lampenöl und dafür passende Laternen, die wir in Brenner umwandeln können. Und einen beständigen Wind zum Festland.“

Die anderen Wölfe sahen sie verständnislos an.

„Wir bauen Heißluftballons“, erklärte Ineiau in der Hoffnung, dass diese bereits auf Frikka bekannt waren.

„Was ist das?“, fragte Ena.

Ineiau unterdrückte ein Seufzen. „Im Ballon aus dem Segeltuch wird die Luft durch das Verbrennen von Lampenöl angeheizt. Warme Luft steigt nach oben. Unter dem Ballon ist eine Kiste oder eine Plattform, auf der wir mitfliegen.“

„Das … kann doch nicht funktionieren!“, brachte ein älterer Wolf verblüfft hervor.

„Doch es funktioniert. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen“, erklärte Ineiau bestimmt.

„Das Piratenschiff kommt zurück!“, unterbrach Roa von seinem Beobachtungspunkt auf der Brüstung die Diskussion und zeigte dabei auf einen Punkt am Horizont.

Deka erhob sich mit einem Stöhnen. „Damit rennt uns die Zeit davon. Wir müssen das Tor verbarrikadieren, damit die Piraten nicht hineinkommen. Und wir müssen möglichst schnell Ineiaus … Heißluftballon bauen, sonst sind wir alle tot. Ich glaube nicht, dass die Piraten auch nur einen von uns am Leben lassen würden, falls sie unser habhaft werden!“

„Wir werden mehrere Ballons benötigen“, erklärte Ineiau, während sie die Wunde des braunen Wolfes vernähte. Sie zählte die überlebenden Sklaven. „Wir benötigen zumindest vier, wenn jeder davon fünf Wölfe aufnimmt.“

„Dann los! Wie Deka schon sagte, haben wir keine weitere Zeit zu verlieren!“, brachte Ena die anderen in Gang.

Deka und einige weitere Sklaven eilten die Wendeltreppe zum Dock hinab, während der Rest unter Ineiaus Anleitung begann, die Ballonhüllen zusammenzunähen, die Plattformen zu bauen und die Lampen anzupassen.

 

Die Ballons füllten sich mit heißer Luft von den improvisierten Ölbrennern, die auf eine möglichst heiße Flamme ausgerichtet waren. Die Wölfe staunten ungläubig, als sich der erste Ballon mit seinem darunter hängenden Korb in die Luft erhob und nur durch sein Halteseil am Wegfliegen gehindert wurde. Trotzdem machten Ineiau die Brenner und ihr relativ schwerer Brennstoff in den Flaschen Sorge. Sie hatten einen großen Teil des Lampenöls verbraucht, um die Ballons startklar zu machen. Die kleinen mitgeführten Ölvorräte konnten nur die Abkühlung der Luft im Ballon verlangsamen, aber nicht verhindern. Und falls ihnen auf halber Strecke zum Festland das Öl ausging, würden die Ballons mit ihnen ins Meer zu den Grashaien stürzen. Aber Deka konnte sie zumindest so weit beruhigen, dass sie am heutigen Tag einen starken, gleichmäßigen Wind hatten, der ihnen helfen sollte.

Sie hörten von unten, wie die wütenden Piraten versuchten, mit viel Gebrüll das schwere, mit Stahlblechen verstärkte Tor aufzubrechen.

Mit mehr als nur gemischten Gefühlen verteilten sich die Sklaven auf die Heißluftballons.

Ineiau bestieg zusammen mit Ena, Roa und Deka den letzten Ballon.

Oja, die Mutter von Suzarra, löste als Erste das Halteseil ihres Ballons. Die Wölfe und Ineiau hielten den Atem an, als der Ballon aufstieg und langsam in Richtung Festland davon schwebte.

„Wir fliegen!“, rief Suzarra begeistert.

Nacheinander stiegen auch die anderen Ballons auf.

„Das war wohl gerade rechtzeitig“, hörte Ineiau Roa ausrufen.

 Sie drehte sich von den anderen vor ihnen fliegenden Ballons weg und sah auf dem erhöhten Hof der Seilerei eine ganze Reihe von bewaffneten Wölfen, die ungläubig ihnen hinterher sahen.

„Warum steigen wir höher als die anderen?“, fragte Ena nach einiger Zeit offenkundig überrascht.

„Und warum treiben die Ballons auseinander? Wir sollten doch alle den gleichen Wind haben?“, fügte Deka hinzu.

„Die anderen sind zu fünft, während wir nur zu viert und damit leichter sind. Und möglicherweise weichen die Luftströmungen in unserer jetzigen Höhe von denen am Boden ab. Wir müssen tiefer, sonst treiben wir südlich am Land vorbei“, erklärte Ineiau. Laut rief sie den anderen Ballons zu: „Nicht weiter heizen! Wir müssen tiefer fliegen, sonst treiben wir aufs Meer!“

Die Wölfe auf dem nächsten Ballon riefen ihre Bestätigung zurück und gaben dann an die weiter entfernten Ballons die Nachricht weiter.

Ineiau beobachtete beunruhigt, wie ihr eigener höher fliegender Ballon sich weiter von den anderen entfernte.

„Das Piratenschiff folgt uns!“, rief Roa aufgeregt.

„Sie sollten uns nicht einholen können. Sie sind wie wir nur so schnell, wie sie der Wind treibt“, antwortete Ineiau.

„Sie haben, wie die meisten anderen Schiffe doch außer den Segeln einen Sonnenmotor. Sollten sie damit nicht schneller sein?“, fragte Deka.

Ineiau sah den schwarzen Wolf alarmiert an. „Das wusste ich nicht!“

„Das weiß doch jeder“, antwortete Roa keck.

„Nicht jeder ist am Hafen auf der Straße aufgewachsen“, rügte Ena ihn.

Sie beobachteten angespannt, wie die Piraten langsam zu ihnen und den anderen Ballons aufholten.

Ineiau prüfte ihren Kurs. „Wir sind zu weit abgetrieben. Die anderen sollten es aber noch an Land schaffen.“ Sie sah sich zu ihren Begleitern um. „Es tut mir leid, dass ihr mit mir aufs Meer treibt.“

„Wir wussten, dass es riskant ist. Und ganz ehrlich hätte ich nicht gedacht, dass es überhaupt welche von uns schaffen würden“, antwortete Ena.

„Zumindest werden die meisten von uns entkommen. Das war es wert. Mache dir bitte keine Vorwürfe deswegen“, stimmte ihr Deka zu.

Roa nickte nur stumm und traurig.

Sie beobachteten still zusammen, wie die anderen Ballons hinter der Küste aufsetzten oder dort in Bäumen hängen blieben. Die entkommenden Wölfe kletterten aus ihren Ballonkörben, rannten an der Küste entlang und sahen ihnen bestürzt nach, während sie sich weiter vom Land entfernten.

„Die Piraten folgen nun uns“, berichtete Roa schließlich leise.

Sie sahen, wie das Piratenschiff zu ihnen aufschloss.

„Mich kriegen sie nicht lebendig wieder zurück“, erklärte Ena entschlossen.

Deka und Roa stimmten ihr mit gesträubtem Fell und gefletschten Zähnen zu.

„Dann sind wir zu viert. Ich bezweifele, dass sie uns auf Blütenblätter betten würden.“

„Blütenblätter? Das klingt sonderbar. Aber ich glaube, dass sie sich stattdessen mit uns in ihrer Folterkammer vergnügen würden“, erwiderte Deka grimmig.

An den verdächtig nach Wolfspelz aussehenden Mantel des Piratenhäuptlings denkend stimmte Ineiau ihm mit einer Geste zu.

Das Piratenschiff kam dichter. Auf der Back standen neben den beiden Kanonen dicht gedrängt Bewaffnete, die sich wahrscheinlich fragten, wie man überhaupt einen Ballon entern könnte. Einige legten Gewehre an, und es fielen mehrere Schüsse.

Ineiau hörte dicht neben ihrem Kopf eine Kugel vorbeipfeifen.

„Ich will sie lebend! Und beschädigt nicht ihre Pelze!“, brüllte der Häuptling und bestätigte damit Ineiaus Befürchtungen über die Herkunft der Pelze seines Mantels.

Inzwischen war trotz des Brenners die Luft im Ballon so weit abgekühlt, dass sie weiter absanken.

Einige Piraten kletterten auf dem Bugspriet und den Vormast in der wahrscheinlichen Hoffnung, von dort den Ballonkorb zu erreichen.

„Wir müssen höher!“, rief Ena mit einem Blick auf ihren zusammengeschmolzenen Lampenölvorrat. „Gibt es eine Möglichkeit, außer mit heißer Luft höher zu steigen?“

„Außer Ballast abwerfen, fällt mir nichts ein. Aber wir hätten dafür nur die restlichen … Ölflaschen …“, erwiderte Ineiau, während ihr mitten im Satz eine Idee kam. Sie nahm eine der verbliebenen fünf Flaschen, schraubte sie auf und stopfte einen der zur Polsterung in der Kiste benutzten Lumpen in den Flaschenhals. „Molotowcocktail!“, verkündete sie triumphierend.

Ena betrachtete die Ölflasche mit einem angewiderten Gesichtsausdruck. „Ich will das Zeugs nicht trinken!“

„Nicht trinken, werfen!“, antwortete Ineiau, hielt den inzwischen mit Lampenöl vollgesogenen Lumpen an die Flamme des Brenners, um ihn anzuzünden, und warf den Molotowcocktail auf das Piratenschiff.

Die Flasche prallte auf die Reling und zerbrach, aber der Großteil des brennenden Lampenöls ergoss sich wirkungslos ins Meer. Die Piraten löschten mit einen Wassereimer das Feuer und starrten dann verständnislos auf die nur angesengte Reling.

Aber Ineiaus Begleiter begriffen jetzt, was Molotowcocktails waren. In Windeseile machten Ena und Roa die restlichen vier Flaschen bereit zum Werfen.

Die erste Flasche fiel harmlos ins Meer. Die Zweite prallte gegen das Segel des Vormastes und setzte es in Brand. Brennendes Öl tropfte auf die Piraten hinab, die jetzt entsetzt erkannten, was ihre entflohenen Sklaven vorhatten. Die Dritte zerplatzte inmitten der Bewaffneten auf der Back. Schreiende brennende Wölfe rannten panisch auseinander oder sprangen trotz der Grashaie über Bord.

„Tötet sie!“, brüllte der Häuptling, aber seine Piraten ignorierten ihn angesichts des sich schnell ausbreitenden Feuerinfernos. Das Schiff fiel vom Kurs ab und begann, sich vom Ballon zu entfernen.

Das Feuer erreichte die Bereitschaftsmunition für die Kanonen auf der Back. Das Vorschiff wurde von einer schnellen Reihe von Explosionen erschüttert und ließ brennende Trümmer auf Schiff und Piraten niederregnen.

Ineiau war dankbar, dass das jetzt lichterloh brennende Schiff weiter von ihnen wegtrieb. Obwohl die Schreie der Piraten ihre eiskalte Schauer über den Rücken jagten. Ena ließ sichtbar geschockt über die schreckliche Wirkung ihrer improvisierten Waffen den letzten Molotowcocktail sinken. Ineiau nahm ihn ihr wortlos ab und füllte seinem Inhalt in den Tank des Brenners, um zumindest noch ein bisschen mehr Höhe und Zeit zu gewinnen.

Mit einem gewaltigen Krachen barst dann das ganze Schiff auseinander, als die Munitionskammer in die Luft flog. Die Schreie verstummten.

Die vier Ballonfahrenden sahen still mit einer Mischung aus Grauen und Befriedigung, wie das Wrack versank und das Meer das Feuer verlöschen ließ.

 

Hekari sah auf, als Commander Eisen in die Krankenstation kam. Sie gab ihrer Sorge um ihre Freundin nach: „Gibt es etwas Neues von Ineiau?“

Eisen schüttelte bedauernd den Kopf. „Leider nein, es gelingt den Schiffssensoren nicht, verschiedene Arten von Lebensformen auf dem Planeten zu unterscheiden. Wir haben auch gezielt nach Lebewesen mit zwei Herzen gesucht, aber selbst das hat nicht geklappt. Und wir können nicht mit tieffliegenden Fähren oder Magellan-Sonden den ganzen Kontinent scannen. Damit würden wir definitiv gegen die Erste Direktive verstoßen.“

„Und eine Suche nach Metallen würde wahrscheinlich nichts bringen, da die Bewohner diese ja ebenfalls selbst herstellen“, vermutete Hekari mehr zu sich selbst.

Doorman war gerade aus seinem Büro in den Hauptraum der Krankenstation zu ihnen getreten. „Hekari, nicht nur das, aber in den Biohüllen sind keine Metalle enthalten. Sie dienen ja der Tarnung, und da wäre es nicht hilfreich, wenn jeder Metalldetektor auf sie anschlägt“, erklärte er mit einem bedauernden Lächeln.

„Ich hatte mehr an Ineiaus Schulter gedacht, Marten“, erwiderte Hekari.

„Die Schulter! Warum sind wir da nicht früher drauf gekommen? Aber ich fürchte, dass die Sensoren das nicht aufspüren könnten.“

Eisen wirkte jetzt sichtbar irritiert. „Unsere Sensoren können aus dem Orbit Metalle aufspüren und unterscheiden. Aber was hat das mit Ineiaus Schulter zu tun?“, verlangte er zu wissen.

„Die Knochen in Ineiaus linker Schulter und Arm sind, mit Ausnahme der Handknochen, durch Endoprothesen aus einer Titanlegierung ersetzt worden“, antwortete Hekari.

„Frikka ist erst in einer frühen Phase der Industrialisierung. Sie sollten noch nicht in der Lage sein Titan, geschweige fortschrittliche Legierungen daraus in nennenswerten Umfang herzustellen. Hekari, Sie sind ein Genie“, rief Eisen und stürmte aus der Krankenstation.

Hekari und Doorman sahen ihm überrascht hinterher.

 

„Bist du ein Dämon?“, fragte schließlich Ena.

Ineiau sah sie überrascht an und vergaß dabei fast, an den bevorstehenden Absturz ins Meer zu denken. „Nein, was bringt dich auf die Idee?“

„Du weißt Dinge, die sonst keiner kennt, wie die Heißluftballons und die Molotowcocktails, für die du sogar Namen hattest. Du bewegst dich anders als jede andere Wölfin, die ich bisher gesehen habe. Und du riechst ganz anders, ohne selbst dabei einen nennenswerten Geruchssinn zu haben“, erwiderte die graue Wölfin.

„Aber trotzdem benimmt Ineiau sich nicht, wie es Dämonen nachgesagt wird“, warf Roa ein. „Sie ist hilfreich, freundlich und hat ihr Leben riskiert, um uns zu retten.“

„Vielleicht gibt es auch gute Dämonen, aber sie ist auf jeden Fall kein Wolf“, mischte sich jetzt auch Deka ein.

„Ihr habt recht, ich bin kein Wolf, aber auch kein Dämon. Ich komme von einer anderen Welt, die ihr nicht kennt. Ich bin hier, um eure Kultur kennenzulernen“, antwortete Ineiau vorsichtig.

„Wie kommt es, dass du dann aber wie ein Wolf aussiehst? Du hast doch nicht womöglich den Körper eines Wolfes übernommen?“, fragte Roa ängstlich.

„Nein, dieser Körper wurde künstlich erschaffen und war nie lebendig. Ich sehe normalerweise nicht wie ein Wolf aus.“

„Also wie ein Golem?“, vermutete Deka.

Ineiau gelang es, ihre Überraschung über die ziemlich gut passende Übersetzung des Frikka-Wortes zu verbergen, während sie zur Bestätigung nickte.

„Aber warum möchtest du unsere Kultur verdeckt beobachten? Warum zeigen sich deine Leute nicht einfach?“, fragte jetzt wieder Ena.

„Wir gehören zu einer Gemeinschaft von Völkern, die von verschiedenen Welten stammen. Diesen Bund nennen wir Föderation. Wir möchten euch kennenlernen, aber ohne eure Entwicklung zu stören oder zu beeinflussen. Und unsere Hoffnung ist, dass wir eure Gesellschaft irgendwann als Freunde in unserer Gemeinschaft willkommen heißen können, wenn ihr so weit seid.“

„Was meinst du mit so weit sein?“, fragte Roa.

„Normalerweise warten wir für die erste richtige Kontaktaufnahme ab, bis eine Kultur sich zu einer weltweiten Gemeinschaft entwickelt hat und auch ihre eigenen Schritte zwischen den Welten gemacht hat.“

„Kann man mit einem Heißluftballon zwischen den Welten reisen?“, fragte Ena.

Ineiau schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, die dafür notwendige Technik ist sehr viel komplexer.“

„Ist diese Technik eine weiße, fliegende Kiste?“, fragte Deka und blickte dabei an Ineiau vorbei zum Himmel.

Ineiau drehte sich ebenfalls um und erblickte ein Shuttle der Virginia, das sich ihnen vorsichtig näherte. „Ja, und das gehört zu uns“, antwortete sie überrascht.

Inzwischen befand sich der Ballon nur noch wenige Meter über den Wellen. Das Shuttle bremste ab und blieb dicht neben ihnen scheinbar in der Luft stehen. Die Heckluke öffnete sich, und Commander Morgan Eisen und Ensign Piotr Jasiński traten an die offene Luke. Eisen sah mit einem besorgten Gesichtsausdruck zu ihnen herüber.

Die Wölfe schnappten bei dem Anblick überrascht nach Luft. Offenbar erschienen ihnen die beiden Menschen noch fremdartiger als das Shuttle.

„Siehst du auch so aus?“, fragte Ena offensichtlich schockiert angesichts der weitgehend unbehaarten Wesen mit ihren kurzen Schnauzen.

„Ähm … ja, zumindest so ähnlich“, erwiderte Ineiau verlegen. Auch ihr kamen die Menschen nach den Wochen unter Wölfen fast fremdartig vor.

„Ineiau?“, rief Eisen mit einer Hand als Schalltrichter. Anscheinend konnte er sie nicht von den anderen Wölfen unterscheiden.

„Hier! Morgan, wir stürzen bald ins Meer. Können Sie uns an Bord nehmen?“, rief Ineiau ihm auf Englisch zu.

„Ja, das ist unsere Absicht! Wir kommen dichter ran. Halten Sie sich bereit!“

Das Shuttle verringerte den Abstand.

„Wir steigen in das Flugboot um, bevor der Ballon ins Meer stürzt“, erklärte Ineiau kurz den drei Wölfen. Gleichzeitig erkannte sie, dass das Shuttle wegen des eigentlichen Ballons nicht dicht genug an dem Korb herankommen konnte, um den Wölfen den Umstieg ohne Hilfe zu ermöglichen. Sie hielt sich mit der linken Hand an einem Tragseil fest und ergriff mit ihrer rechten die von Ena. „Auf mein Zeichen springst du! Jetzt!“ Sie gab der springenden Wölfin so viel Schwung, wie sie konnte, und hatte dabei das Gefühl, dass ihr dabei beinahe der Arm ausgekugelt wurde. Für einen bangen Moment fürchtete sie, dass es nicht reichte, aber den beiden Menschen gelang es, Enas vorgestreckte Hand zu ergreifen und sie zu zweit in das Shuttle zu ziehen.

„Der Nächste!“, rief Eisen.

Roa sah sie ängstlich an, ergriff aber dann ihre rechte Hand. Ineiau war dankbar, dass er kleiner und leichter als die ausgewachsene Wölfin war, während sie seinen Sprung unterstützte. Auch er wurde in die Sicherheit der Fähre gezogen.

Deka sah auf das jetzt schon bedrohlich dicht unter ihnen liegende Meer. „Rette dich Ineiau! Ich bin zu schwer für euch und wir haben keine Zeit mehr!“

„Quatsch! Gib mir deine Hand!“, widersprach Ineiau.

Deka griff ihre Hand und sprang auf ihr Zeichen. Trotz des von ihr mitgegebenen zusätzlichen Schwungs sprang er etwas zu kurz. Es gelang ihm nur mühsam, sich mit seinem unverletzten Arm am unteren Lukenrand festzuhalten, während seine Füße fast die Meeresoberfläche berührten. Beide Menschen und Ena packten ihn und zogen ihn gemeinsam an Bord.

Ineiau ließ das Tragseil los, trat zurück und nahm einen kurzen Anlauf mit nur zwei Schritten. Der Ballonkorb wurde inzwischen schon fast von den Wellen berührt. Sie sprang und landete halb im Wasser, aber kräftigen, bepelzten und nackten Händen gelang es, sie zu packen und ebenfalls in das Shuttle zu ziehen.

Die Fähre stieg auf, während der Korb im Meer eintauchte. Der Ballon fiel in sich zusammen.

Die beiden Menschen, die drei echten und der falsche Wolf beobachteten durch die noch geöffnete Heckluke, wie die Wellen den Ballon zerrissen, während mehrere Grashaie ihre Kreise um ihn zogen.

 

Ineiau beobachtete zusammen mit Ena und Roa, wie die alte Totengräberin, die wie eine ältere, weibliche Version von Deka aussah, ihren verloren geglaubten Sohn umarmte.

Deka stellte seiner Mutter seine drei Freunde vor. Wie anfangs schon Deka hielt die Totengräberin Abstand zu ihnen.

Ena ergriff das Wort: „Es ist in Ordnung. Ohne Deka und Ineiau würden wir hier nicht lebend stehen. Und selbst, wenn es die Kasten noch geben würde, wäre es mir jetzt egal.“

„Das Kastenwesen existiert nicht mehr! Auch wenn ich selbst bis vor Kurzem noch seine Abschaffung bedauert hatte“, hörten sie hinter sich unerwartet eine bekannte Stimme.

Sie drehten sich um und sahen die anderen befreiten Sklaven hinter sich versammelt. Der braune Wolf, der sich anfangs gegen die Behandlung durch Ineiau gewehrt hatte, fuhr fort: „Ohne eure Taten und Entscheidungen wären wir alle jetzt entweder weiterhin versklavt oder tot. Und je länger ich darüber nachdenke, umso mehr sticht es mir in der Nase, dass als Einzige die Städte mit Sklavenhaltung an dem Kastenwesen festhalten. Alleine das ist für mich ein Grund, ein Leben in Gleichheit ohne Kasten zu führen.“ Er trat zu Deka, zögerte trotz seiner Worte kurz, um ihn dann aber wie einen Bruder zu umarmen.

Roa meldete sich jetzt auch schüchtern zu Wort: „Bin ich auch jetzt gleichgestellt?“

Oja, die zusammen mit ihrer Tochter leicht erheitert die Verbrüderung beobachtet hatte, trat vor und kraulte seine Ohren. „Ja, das bist du.“

Deka betrachtete Roa prüfend. „Ich kann dir eine Unterkunft und Verpflegung anbieten, Roa.“

Roa sah ihn an. „Danke, aber ich möchte nicht auf deine Kosten leben, sondern für mich selbst aufkommen.“

„Da wird jemand erwachsen“, stellte Deka amüsiert fest. „Ich könnte einen Auszubildenden und Mitarbeiter gebrauchen, um meine alte Mutter zu entlasten. Das würde aber bedeuten, dass du wie ich als Totengräber arbeiten würdest.“

„Wie Ineiau schon auf der Piratenfestung sagte, ist es eine wichtige Aufgabe, um unseren Verstorbenen einen würdigen Abschied zu geben“, erklärte der braune Wolf neben Deka würdevoll.

„Dann bin ich gerne dabei“, erklärte Roa begeistert sein Einverständnis.

„Vergiss trotzdem nicht, ab und zu, bei mir am Markt vorbei zu schauen für eine Tasse Snoopatee“, erinnerte ihn Ena lächelnd.


 

Im Jahre 2280 …

 

Captain Ineiau musste zugeben, dass Admiral Lance Cartwright nicht unbedingt unrecht hatte, als er ihr sagte, dass die jetzige Situation ihre Schuld wäre, obwohl ihre Außenmission auf Frikka als Auslöser inzwischen achtundzwanzig Jahre zurücklag.

Sie fragte sich besorgt, was da noch für sie nachkommen würde, während die Shokaku, ihr neues Schiff, mit dem Sonderbotschafter Sarek vom Vulkan und ihr nach Frikka eilte.

Und auch das Beobachtungsteam auf Frikka war völlig unvorbereitet und ahnungslos gewesen, als die Wölfe nach der überraschend schnellen und gewaltfreien Vereinigung aller Stadtstaaten ihre Nachricht ins Weltall funkten: „Ineiau von der Föderation, unsere Welt ist jetzt eine Nation und bereit für den ersten Kontakt!“

 

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