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Das Wunder von Atlanta

von Emony

Kapitel 1

Long ago, far away, life was clear;
close your eyes...
Remember, is a place from long ago;
Remember, filled with ev'rything you know.
Remember, when you're sad and feeling down;
Remember, turn around.
Remember, life is just a memory.
Remember, close your eyes and you can see.
Remember, think of all that life can be;
Remember.

© Harry Nilsson – Remember



Es war ein ungewöhnlich kalter Dezember in Georgia. Das Wetterkontrollsystem der Erde verhinderte lediglich schlimme Unwetter, jedoch nicht die zum Teil ungewöhnlichen Temperaturschwankungen in manchen Gebieten der Erde.
Leonard hatte seit seiner Kindheit keinen so kalten Winter erlebt. Aber genau wie vor all den Jahren freute er sich auch jetzt darüber. Ob es Schnee geben würde oder nicht, die Temperaturen passten auf jeden Fall sehr viel besser zu Weihnachten, und er würde mit seinem Vater hoffentlich einen schöneren Baum finden als im Jahr zuvor. Durch eine späte Hitzewelle waren viele der Tannen eher braun als grün gewesen und hatten dadurch reichlich hässlich ausgesehen.

Der junge Arzt stand auf der Veranda seines Elternhauses und wollte gerade anklopfen, als sich die Tür wie durch Zauberhand für ihn öffnete und David McCoy offenbarte.

„Leonard.“ Sein Vater stand in der Tür und strahlte ihn an. Und noch ehe Leonard sich versah, schloss sein Vater ihn in eine innige Umarmung.

„Daddy, Daddy! Grandma, Daddy ist hier!“ Joanna schob sich an ihrem Großvater vorbei und drängte sich zwischen die beiden Männer. „Daddy!“

„Jojo.“ Leonard löste sich von seinem Vater und hob seine Tochter mit Schwung auf die Arme. Sie klammerte sich wie ein kleines Äffchen an ihn und drückte ihn so fest, dass er sich fragte, was seine Eltern ihr zu Essen gaben, dass sie soviel Kraft besaß. „Du bist so groß geworden.“ Leonard schmiegte sein Gesicht in ihr halblanges dunkles Haar, das wie immer nach Pfirsich duftete.

„Sie wächst viel zu schnell“, hörte Leonard dann die vertraute Stimme seiner Mutter, welche lächelnd zu der kleinen Gruppe kam und dabei den Duft von Zimt und Vanille aus der Küche mit sich brachte.

„Das verdankt sie sicher deiner Kochkunst, Ma.“ Ohne Joanna abzusetzen, drückte er seine Mutter in eine kurze, aber innige Umarmung und küsste ihre Stirn. „Es tut gut wieder Zuhause zu sein.“

„Joanna und ich waren gerade damit beschäftigt die letzten Plätzchen zu backen“, ließ Eleanora ihren Sohn wissen. „Aber jetzt komm endlich rein. Es ist eisig da draußen und wir haben gerade erst frisches Holz aufgelegt.“ Sie rieb sich, wie um ihre Worte zu unterstreichen, die Arme, um sich aufzuwärmen.

Noch so ein Duft, den Leonard untrennbar mit seinem Zuhause verband. Frisches Feuerholz war einfach unvergleichlich. Lächelnd kam er daher der Aufforderung seiner Mutter nach, setzte Joanna ab und schnappte sich seine Koffer.

„Ich hab heute Nacht in deinem Zimmer geschlafen“, sagte Joanna und sah mit leuchtenden Augen zu ihrem Vater auf.

„Ah ja?“ Sie nickte. „Dann wird mein Bett sicher ganz wundervoll nach dir duften.“ Er bückte sich zu ihr hinab, um abermals das Haar seiner kleinen Tochter zu küssen. Gott, er hatte sie so sehr vermisst.

„Ich bringe deine Koffer rauf. Zieh dich erstmal aus und entspann dich etwas“, sagte David und nahm seinem Sohn den Mantel ab. „Bei einem Glas Bourbon kannst du mir dann erzählen, wie es so an der Akademie läuft.“

Kaum, dass sein Vater die Sternenflotten Akademie erwähnte, tauchte Jims Gesicht vor Leonards innerem Auge auf. Der Abschied war ihm in diesem Jahr besonders schwer gefallen. Jim hatte zuletzt ungewöhnlich ruhig auf ihn gewirkt, fast schon melancholisch, was so gar nicht zu ihm passen wollte.

„Wie geht es deinem Freund? James, war sein Name, nicht wahr?“, fragte Eleanora und hängte Leonards Mantel an die Gardarobe, ehe sie ihm ein Paar Pantoffeln hinstellte und ihm aus den Straßenschuhen half. Sie mochte es nicht, wenn man im Haus mit Straßenschuhen herumlief. Sie hielt auch nach all den Jahren Pantoffeln für ihn bereit.

„Jim, ja. Er ist bei seiner Familie.“ Das hatte er Leonard zumindest gesagt. Allerdings kannte Leonard ihn gut. Die vergangenen Jahre hatte Jim die Weihnachtsferien angeblich immer bei seiner Familie verbracht. Allerdings hatte sich Gary Mitchell eines Tages verplappert und Leonard hatte erfahren, dass er Jim jedes Jahr mit zu sich genommen hatte.

„Spielst du mir nachher etwas vor, Daddy?“ Joanna nahm seine rechte Hand in ihre beiden, sehr viel kleineren Hände und blickte hoffnungsvoll zu ihm auf.

Aus einem Grund, den er nicht nachvollziehen konnte, lauschte sie ihm gerne und voller Entzückung, wenn er Piano spielte. „Oh ich weiß nicht, Jojo. Ich bin aus der Übung.“ Die Liebe zum Klavierspiel hatte er von seiner Mutter. Nachdem er zur Akademie gegangen war, hatte es ihm jedoch an Möglichkeiten gefehlt zu spielen. Sein viel zu kleines Quartier bot nicht annähernd genug Platz für einen Flügel und leider auch für kein kleineres Klavier.

„Unsinn, Leonard. Spielen liegt dir im Blut. Das hast du von mir.“ Eleanora drückte ihm Sohn ein Küsschen auf die Wange. „Joanna, hilfst du mir noch die letzten Plätzchen zu backen? Sicher will dein Vater erstmal etwas entspannen. Er hat eine lange Reise hinter sich.“

„Na schön“, seufzte das Mädchen etwas enttäuscht.

Leonard formte ein ‚Danke’ mit den Lippen und seine Mutter nickte kaum sichtbar, ehe sie ihre Enkelin in die Küche führte. Leonard war in der Tat erschöpft. Die letzten Wochen an der Akademie waren anstrengender gewesen, als er bereit war zuzugeben. Die Zwischenprüfungen und Trainingsmissionen hatten ihm kaum Raum für Freizeit gelassen. Dementsprechend waren seine Kraftreserven aufgebraucht.

Draußen dämmerte es bereits, als er sich in einen der komfortablen Sessel gegenüber dem klassischen Kamin sinken ließ. Drei Wochen Ferien hörten sich paradiesisch an. Er konnte es nicht erwarten von seiner Mutter bekocht zu werden, mit seinem Vater über die neuesten medizinischen Wunder zu plaudern und Zeit mit Joanna zu verbringen.

Joanna, sein kleiner Engel. Jedes Mal wenn er sie sah, konnte er nicht fassen wie schnell sie wuchs. Es schien doch erst gestern gewesen zu sein, dass sie laufen gelernt oder ihn erstmals Daddy gerufen hatte. Und jetzt war sie bereits acht Jahre alt und ging zur Schule.

Dass Jocelyn nicht nur ihn, sondern auch ihr gemeinsames Kind einfach so hatte verlassen können, war Leonard unbegreiflich. Aber er war froh, dass sie Joanna nicht mitgenommen hatte, als sie mit ihrem Liebhaber Clay auf und davon war.

Leonard konnte seine Tochter zwar nur in den Ferien sehen, wusste dafür aber, dass sie in guten Händen war. Er war selbst hier aufgewachsen, wusste, was für großartige Eltern er und was für Großeltern Joanna in ihnen hatte. Jim hatte ihn gelehrt wie wichtig ein stabiles, sicheres Zuhause für ein Kind war. Und auch wenn er sich anfangs schreckliche Vorwürfe gemacht hatte, weil er sich vorgenommen hatte neu anzufangen und zur Akademie zu gehen, so wusste er doch, dass es Joanna hier sehr gut ging.

„Hier, mein Junge.“ David hielt Leonard ein Glas Bourbon hin.

„Danke.“ Er hatte seinen Vater nicht kommen hören. „Es tut gut wieder hier zu sein.“

„Du fehlst Joanna sehr“, sagte David. „Sie hat die Tage gezählt, seit du zurück an die Akademie bist.“ Der ältere Mann machte es sich in dem zweiten Sessel vor dem Kamin bequem.

„Seit Thanksgiving?“ Leonard konnte es nicht fassen und stieß mit seinem Vater an. „Wie geht es ihr? Und euch?“

„Bestens, Leonard. Mach dir keine Sorgen. Sie weiß, dass du sie liebst.“ Beide Männer nahmen einen Schluck und behielten die bernsteinfarbene Flüssigkeit einen Moment auf der Zunge, damit der Bourbon sein volles Aroma entfalten konnte, ehe sie nahezu gleichzeitig schluckten.

Leonard hatte alles, was er über Whiskey wusste, von seinem Vater gelernt. Und über Medizin, über das Leben, über Verantwortung und Loyalität. Es war seltsam, aber in Gegenwart seines Vaters kam er sich wieder jung und unerfahren vor. Und das obwohl er selbst Arzt war, eine entzückende Tochter sein eigen nennen durfte und eine schreckliche Scheidung hinter sich hatte. Hier in diesem Haus fühlte er sich wieder jung und geborgen, fast so als wäre er nie erwachsen geworden. Es würde immer sein Zuhause sein, egal wo er lebte. Und er hoffte, dass Joanna irgendwann genauso denken würde, auch wenn sie jetzt nicht verstehen konnte, weshalb er sie immer wieder verließ.

„Erzähl mir von der Akademie, Junge. Wie sind die Prüfungen gelaufen?“

Leonard konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Jetzt fühlte er sich noch jünger. Nachhause zu kommen, war jedes Mal wie eine kleine Zeitreise. „Gut. Ich glaube, so langsam komme ich dahinter.“ Und so begann Leonard von den letzten Wochen zu berichten. Davon, wie er seine Shuttleprüfung kaum ohne Jim bestanden hätte. Dass er seine Aviophobie zunehmend in den Griff bekam, ebenfalls durch Jims Zutun und davon wie interessant es war die vielen biologischen Unterschiede der Förderationsspezies kennen zu lernen.


***

Jim stand vor Franks Haus und starrte es an. Es war hässlich und wirkte genauso wenig einladend wie immer. Selbst der meterhohe Schnee vermochte es nicht, dieses Haus zumindest nach außen hin freundlich wirken zu lassen. Und wie in jedem Jahr konnte er sich einfach nicht durchringen anzuklopfen. Er verband kaum eine schöne Erinnerung mit diesem Haus, das niemals wirklich sein Zuhause gewesen war.

Hinzu kam, dass seine Mutter nicht da sein würde. Er hatte nachgeforscht und herausgefunden, dass sie rund fünftausend Lichtjahre weit weg war und ein weiteres Weihnachtsfest im All verbrachte.

Riverside kam ihm so seltsam fremd vor, seit er dort nicht mehr lebte, als gehöre er nicht mehr hierher. Unglücklicherweise gehörte er auch nirgendwo anders hin. Er war überall nur ein Gast. Mal mehr und mal weniger gern gesehen. Daher konnte Jim es kaum erwarten die Akademie zu bestehen und ins All zu fliehen. Dort war er geboren, dort gehörte er hin. Er fühlte es ganz deutlich.

Der Solarmotor seines Bikes grollte sanft auf, als er mit Vollgas davon brauste, um die Stadt so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Allerdings wusste er nicht, wohin er fahren sollte. All seine Freunde waren bei ihren Familien. Nun ja, bis auf Gary. Der war dafür irgendwo in Kanada zum Skilaufen mit seiner aktuellen Freundin. Sie hatten ihn zwar eingeladen mitzukommen, aber Jim wusste, dass er nur das fünfte Rad am Wagen sein würde, und hatte daher dankbar abgelehnt.

Bones war, wie in jedem Jahr, bei seinen Eltern über die Ferien. Eine Tradition, für die Jim ihn insgeheim immer beneidet hatte, auch wenn er ständig so tat, als wäre es egal. Für Bones war die Zeit Zuhause wichtig. Er war jedes Mal sehr viel entspannter, wenn er zurück an die Akademie kam, ausgeglichen und voller Elan. Irgendwas Magisches ging in Atlanta vor sich, das Jim noch nicht ganz erfasst hatte.

Sie sprachen allerdings auch nicht viel darüber. Jim sprach die Zeit nie an, da er nicht daran erinnert werden wollte, dass er keine solche Familie hatte, kein schönes Zuhause, und er ging davon aus, dass Bones aus genau demselben Grund nie von sich aus etwas erzählte. Es war wie ein stillschweigendes Abkommen zwischen ihnen. Jedoch musste Jim zugeben, dass er in diesem Jahr besonders neugierig darauf war, wie Bones seine Ferien verbrachte. Immerhin wirkten seine Ferien wie eine Verjüngungskur, und es dauerte meist Wochen, bis er wieder der alte Griesgram war. Nicht, dass Jim ihn lieber mürrisch als glücklich sah, aber er fand es dennoch merkwürdig.

***

Nachdem Leonard seinem Vater alles Interessante erzählt hatte, das ihm spontan eingefallen war, entschloss er sich seiner Mutter ein wenig Gesellschaft in der Küche zu leisten. „Ich sehe mal nach, ob ich Ma in der Küche helfen kann.“

„Tu das Junge“, lächelte David und überlegte einen Augenblick, ob er seinen Sohn vorwarnen sollte. Eleanora sorgte sich um das Liebesleben ihres einzigen Sohnes und hatte in den vergangenen Monaten zunehmend häufiger erwähnt, wie schade sie es fand, dass Joanna keine Stiefmutter bekam oder vielleicht sogar ein Geschwisterchen. David hatte sich darüber nur wenig Gedanken gemacht. Leonard würde schon wissen, was er tat. Er hatte ihm nie Kummer bereitet. Nun ja, nach der schweren Scheidung vielleicht. Aber seit Leonard die Sternenflotten Akademie besuchte, schien es dem Jungen sehr viel besser zu gehen. Er lachte wieder häufiger und wirkte zufrieden, wenn auch manchmal etwas überarbeitet.

Leonard drückte die Schulter seines Vaters einen Moment und verließ das Wohnzimmer. Im Grunde brauchte er auch nur seiner Nase folgen, wenn er seine Mutter finden wollte. Wie erwartet fand er sie in der Küche, in der Hand eine Art Spritze mit der sie die letzten Butterplätzchen liebevoll verzierte. Für einen Moment gestattete er es sich wortlos im Türrahmen zu stehen und seiner Mutter bei der Arbeit zuzusehen. Sie summte eine Weihnachtsmelodie, die er nur allzu gut kannte; I’m dreaming of a white christmas.

„Was macht dich so zufrieden, Schatz?“

Die unerwartete Frage seiner Mutter ließ ihn realisieren, dass sie ihn bemerkt und wohl selbst einen Augenblick lang betrachtet hatte.

„Was meinst du, Ma?“, fragte Leonard und trat zu ihr an die Arbeitsplatte, wo sein Blick wie beiläufig auf die vielen leckeren Plätzchen fiel.

„Du hast dagestanden und gelächelt. Ich frage mich, was dir durch den Kopf ging“, erklärte sie und legte ihm für einen Moment eine Hand an die Wange.

„Die Situation hat mich nur an früher erinnert. Ich hab dir gerne zugesehen, wenn du die letzten Weihnachtsvorbereitungen getroffen hast. Und ich bin froh, dass sich das in all den Jahren nicht verändert hat.“

Sie streichelte seine Wange und fuhr dabei mit dem Daumen über die dichten, kurzen Bartstoppeln, ehe sie ihn warm anlächelte. „Das fühlt sich allerdings anders an als früher.“ Sie zwinkerte ihm zu.

Leonard erwiderte das Lächeln und fuhr sich selbst über das raue Gesicht. „Sandpapier.“

„Das ist weicher“, feixte seine Mutter.

„Haha.“ Leonard zog eine Grimasse und streckte die Finger nach einem der Plätzchen aus. „Die duften herrlich, Ma.“

Eleanora klopfte ihm auf die Finger. „Hey, die sind noch nicht trocken.“

„Egal. Ich will nur eins versuchen. Nur um sicher zu gehen, dass sie noch genauso schmecken wie früher.“

Eleanora hob eine Augenbraue und musterte ihn einen Moment streng, ehe ihre Züge sich wieder lockerten. „Also wie jedes Jahr.“

„Es ist Tradition, Ma.“

Erneut schenkte sie ihm ein Lächeln. „Na schön. Eins. Nicht mehr.“ Sie suchte eins für ihn aus und hielt ihm das Gebäck hin. Wie ein kleines Vögelchen, das gefüttert werden wollte, öffnete Leonard den Mund und ließ sich das Plätzchen hineinlegen.

Genießend schloss er die Augen und begann zu kauen. „Fantastisch, wie jedes Jahr, Ma. Ich weiß nicht wie du es immer wieder schaffst, dass sie exakt gleich toll schmecken.“

„Weiß du, Schatz. Ich glaube, dass du dir das einbildest.“

Diesmal hob er eine Augenbraue. „Keinesfalls. Du hast es einfach perfekt drauf, Ma.“

„Und du bist ein unverbesserlicher Schmeichler.“

Leonard hob die Schultern. „Was soll ich sagen? Ich vergöttere deine Küche.“ Das hatte er immer schon getan. Jocelyn war insgeheim immer eifersüchtig deshalb gewesen. Sie hatte nicht annähernd so kochen können, wie Eleanora und backen konnte sie überhaupt nicht.

„Weißt du, ich hoffe ja immer noch, dass ich meine Rezepte eines Tages weitergeben kann.“

Leonard verdrehte die Augen. „Nicht schon wieder, Ma.“

„Was denn?“, gab sie sich unschuldig. „Ich mache mir Sorgen um dich, Leonard. Du bist noch zu jung, um allein zu bleiben. Gibt es denn keine Frauen an der Akademie?“

„Ma, ich studiere dort Xenomedizin. Ich habe vor mein Offizierspatent zu bekommen und …“ Er seufzte. Wie oft hatten sie dieses Gespräch nach der Scheidung schon gehabt? Zumindest in einer sehr ähnlichen Form. Er wusste es schon nicht mehr. „Ich habe keine Zeit für eine Beziehung.“

„Dein Vater hatte auch immer Zeit für mich und später auch für dich, Leonard. Wenn etwas wichtig ist, nimmt man sich die Zeit. Sieh dich doch an. Für Joanna und uns nimmst du dir doch auch Zeit.“

„Urlaub, Ma. Das ist mein Urlaub. Glaubst du ernsthaft, dass eine Frau Wochen oder gar Monate auf meine Rückkehr warten würde? Manche Mission gehen über Jahre, wie ich kürzlich erfahren habe. Und ich hab jetzt schon ein schlechtes Gewissen, weil ich Joanna so selten sehe und euch.“

Sie sah ihn einen Moment abschätzend an. „Wir geben dieses Jahr eine kleine Weihnachtsfeier hier bei uns.“

Ein Themenwechsel. Wie erfrischend. Leonard hätte es besser wissen sollen.

„Du erinnerst dich doch an Delia?“

„Das Nachbarmädchen mit dem Joanna sich angefreundet hat?“, hakte er nach und verstand die Richtung nicht ganz, in die dieses Gespräch ging.

Eleanora nickte. „Sie lebt inzwischen allein mit ihrer Mutter. Rebecca hat mehr als einmal erwähnt, dass du sehr attraktiv bist.“

Leonard schloss die Augen und versuchte ruhig zu bleiben. „Rebecca ist, wie ich annehmen darf, Delias Mutter?“ Eleanora nickte und lächelte vorfreudig. „Und woher bitte weiß sie, wie ich aussehe? Sie kennt mich doch nicht.“

„Sie hat dich immer mal wieder gesehen, wenn du den Müll raus gebracht oder dich im Vorgarten mit jemandem unterhalten hast. Außerdem hat sie dich letztes Jahr gesehen, als du Joanna bei ihr abgeholt hast. Du erinnerst dich doch noch an den Kindergeburtstag nebenan?“

„Ma …“ Leonard fuhr sich durch das aufgeräumte Haar, das ihm danach wirr vom Kopf stand. „Tu mir das nicht an. Ich bitte dich.“

„Sie wäre perfekt. Sie ist ungefähr in deinem Alter, sieht klasse aus und hat einen guten Job. Außerdem verstehen sich die Mädchen so gut. Und sie ist brünett.“

„Ich weiß, dass du seit Jocelyn keine Blondinen mehr magst, Ma. Aber ich durchaus. Und ich bin wirklich nicht an einer Beziehung interessiert.“

„Eine Romanze vielleicht? Ihr müsst ja nicht gleich planen zu heiraten“, versuchte seine Mutter die Situation zu retten.

„Ich liebe dich, Ma. Das weißt du. Aber bitte, bitte versuch nicht eine Frau für mich zu finden. Joanna ist die einzige weibliche Person, auf die ich mich im Augenblick konzentrieren möchte. Für mehr fehlt mir die Zeit und auch die Energie.“

„Ich hab sie trotzdem eingeladen. Also sei nett und … lass sich die Dinge entwickeln.“

„Das gilt auch für dich, Ma“, sagte Leonard, schnappte sich noch einen Keks und verzog sich dann, ehe seine Mutter irgendwas sagen oder tun konnte.


***

„Liest du mir noch was vor, Daddy?“ Joanna sah ihn mit großen, leuchtenden Augen an. Er nickte und stellte das inzwischen erneut geleerte Glas auf den kleinen Beistelltisch zwischen den Sesseln. Nach dem Gespräch mit seiner Mutter, hatte Leonard es vorgezogen wieder in trauter Stille mit seinem Vater vor dem Kamin zu sitzen und einen weiteren Bourbon zu genießen.

Joanna strahlte über das ganze Gesicht und drückte ihrem Großvater ein Küsschen auf die Wange. „Nacht, Grandpa.“

„Gute Nacht, Prinzessin.“

Joanna griff nach Leonards Hand und zog ihn hinter sich her die Treppen hinauf, zu ihrem Zimmer. Die Tür schwang auf und offenbarte ein typisches Mädchenzimmer. Weiße Möbel im Landhausstil – was zu dem typischen Südstaatenhaus passte, welches die McCoys seit Generationen bewohnten – eine Tapete mit Schmetterlingen und mehr Spielsachen als Leonard je gesehen hatte. Es würde knifflig werden etwas für Joanna zu finden, das sie noch nicht hatte. Zweifellos wurde sie von ihren Großeltern zu sehr verwöhnt.

„Grandma hat mir ein neues Buch geschenkt“, ließ Joanna ihn wissen, sprang aufs Bett, um sich von ihm zudecken zu lassen und bestätigte damit seine Vermutung. „Kuschelst du nicht mit mir? Grandma kuschelt immer, wenn sie mir was vorliest.“

Leonard seufzte. Er mochte es nicht mit Straßenkleidung im Bett zu liegen. „Ich setze mich auf die Decke, einverstanden? Wir können trotzdem kuscheln.“

„Na gut“, sagte sie ein wenig enttäuscht. Aber sie hatte ihn so sehr vermisst, dass sie bereit war zu nehmen, was sie bekam.

„Was ist das für ein Buch?“, erkundigte sich Leonard dann und hob den Arm, damit Joanna sich an ihn schmiegen konnte.

„Es heißt ‚Wunder einer Winternacht’. Grandma und ich haben gestern ganz schrecklich geweint. Der arme Nikolas hat seine beiden Eltern und seine Babyschwester verloren und ist jetzt ein Waisenkind.“

Leonard nahm das Buch vom Nachtkästchen neben dem Bett und betrachtete das Cover einen Moment mit erhobener Augenbraue. Darauf war ein Junge zu sehen, der auf einem zugefrorenen See stand. Sein Spiegelbild war allerdings der Weihnachtsmann. „Ich hoffe, das Buch ist nicht durchgehend so traurig.“

„Musst du dann auch weinen?“, fragte sie ihn und streichelte wie beiläufig seinen Bauch.

Er lächelte sanft. „Ich hoffe nicht.“ Leonard konnte sich noch daran erinnern, wann er das letzte Mal geweint hatte, auch wenn es einige Jahre zurücklag. Joannas Geburt hatte ihn damals überwältigt. Sie war so winzig und rosig gewesen, kaum mehr als drei Kilo schwer. Liebevoll sah er zu der nun Achtjährigen hinab und drückte ihr ein Küsschen auf das seidige Haar. Schließlich räusperte er sich und öffnete das Buch beim Lesezeichen. „Das 5. Türchen“, begann er dann zu lesen, „Zu einer anderen Zeit, in einer anderen Stimmung hätte Nikolas sicher die Schönheit des Fischerdorfes Korvajoki bestaunt, das vom weißen Schnee, dem blauen Himmel und dem Sonnenschein erleuchtet wurde, doch nun stand er mit versteinertem Gesicht am offenen Grab seiner Eltern, die kleine Faust fest um die Taschenuhr seines Vaters geschlossen…“

Leonard bemerkte, dass Joanna sich eine Träne wegwischte und leise schniefte. „Alles in Ordnung, Jojo?“

Sie nickte und drückte ihn ganz fest. „Ich kann mir kaum vorstellen, wie schlimm es sein muss so kurz vor Weihnachten die ganze Familie zu verlieren“, sagte sie leise. „Bei uns ist es jetzt auch nur noch zwei Tage bis Weihnachten.“

„Es geht uns aber gut. Keine Sorge, Baby.“

„Wie einsam muss dieser arme Junge sein, der niemanden mehr hat, zu dem er gehört oder zu dem er gehen kann.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass er den Leuten im Dorf egal ist“, sagte Leonard. „Lass uns weiterlesen und sehen, wie es ihm ergeht.“

Joanna nickte und Leonard las weiter. Aus unerfindlichen Gründen, sah er eine sehr viel jüngere Erscheinung von Jim in dem Jungen Nikolas. Natürlich hatte Jim nicht seine ganze Familie verloren, aber mit einer ständig abwesenden Mutter und einem Bruder, zu dem er ebenfalls kaum Kontakt hatte, war er kaum besser dran als Nikolas.

Nachdem Joanna schließlich eingeschlafen war, schlüpfte Leonard vorsichtig aus dem Bett und knipste die Leselampe aus. Ihr Zimmer war dennoch nicht wirklich dunkel. Eine Sternenlichterkette hing an ihrem Fenster und beleuchtete den Raum. „Träum schön, mein Engel.“ Er küsste sie und beobachtete sie noch einen Moment lang, ehe er das Zimmer verließ und die Tür leise hinter sich zu zog.

Seine Eltern hatten sich ebenfalls bereits in ihr Schlafzimmer zurückgezogen. Er selbst fand es noch gar nicht so spät, aber als er auf das Chrono sah, stellte er fest, dass es schon nach zwölf war. Das Buch hatte ihn gefesselt. Das Schicksal des kleinen Jungen hatte ihn tatsächlich ergriffen, auch wenn es nur Fiktion war. Und so hatte er Joanna weit mehr als fünf Kapitel vorgelesen und darüber die Zeit vergessen.

Auf Zehenspitzen, um ein Knarren der Holzdielen zu vermeiden, schlich er sich ins Untergeschoss. Aus seiner Manteltasche zog er einen Kommunikator und öffnete ihn. „McCoy an Kirk.“

Es dauerte einen Moment, dann hörte er ein Knistern, dem Jims erschöpft klingende Stimme folgte. „Bones? Hey. Wie ist Atlanta?“ Jims Aussprache war etwas undeutlich, fand Bones.

„Erstaunlich kalt“, erwiderte er dennoch. „Wie sieht es bei dir aus? Alles okay? Du klingst seltsam. Hast du getrunken?“

Jim lachte leise. „Nein. Ich wünschte ich hätte was zu trinken, dann wäre mir nicht so schweinekalt. Ich hab lange nicht so viel Schnee gesehen.“

„Wo steckst du? Bist du bei deiner Mutter?“

Jim zögerte mit seiner Antwort. Er war zu müde. Ihm war fürchterlich kalt. Und hungrig war er obendrein. Er hatte für einen Moment vergessen, dass er Bones die Wahrheit vorenthalten wollte.

„Jim?“, fragte Bones mit besorgter Stimme.

„Meine Mutter ist auf einer Mission.“

Für einen Augenblick verschlug es Bones die Sprache. „Was ist mit Gary?“

„Der ist mit Jennifer irgendwo in Kanada … und läuft Ski.“ Die Kälte tat ihm wirklich nicht gut. Jim hatte sich zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten verraten. Er spürte sein Gesicht kaum noch. „Wieso rufst du überhaupt an, Bones? Ist Atlanta langweilig?“

„Nein“, sagte Bones leise. „Ich … ich habe etwas gelesen, das mich an dich erinnerte, und da wollte ich einfach hören, wie es dir geht.“

„Alles bestens … ehrlich.“ Jim hatte Schwierigkeiten das Klappern seiner Zähne zu unterdrücken. Er sollte zurück nach San Fransisco fahren. Das würde sich zwar nicht wie Ferien anfühlen, aber in seinem Quartier hatte er es wenigstens warm. Und außer ihm würde sich kaum jemand auf dem Akademie Campus aufhalten. „Bones, ich muss weiterfahren. Die Energiezelle ist bald aufgebraucht und ich hab noch ein Stück vor mir.“

„Komm zu mir“, sagte Bones rasch und war selbst über seinen Vorschlag erstaunt. Die Vorstellung, dass Jim an Weihnachten ganz allein irgendwo unterwegs war, erschien ihm einfach furchtbar. Er wusste allerdings auch, dass er seinem besten Freund eine ganze Menge zu erklären hatte.

„Was? Nein, Bones. Du bist bei deiner Familie. Es ist Weihnachten. Da will ich dir nicht auf der Tasche liegen.“

„Du bist mein bester Freund, Jim. Du solltest Weihnachten nicht allein sein. Komm zu mir nach Georgia. Es ist nicht so warm wie sonst, aber wir haben genug Platz und reichlich Feuerholz. Und meine Mutter kocht sowieso immer zu viel.“

Jim zögerte. Es war irgendwie anders, wenn Bones ihn zu sich einlud verglichen mit Gary. Mit Bones verbrachte er ohnehin so viel Zeit, dass er oft das Gefühl hatte ihm auf die Nerven zu gehen. Und wenn Bones hin und wieder eine Pause von ihm brauchte, so konnte Jim ihm das nicht verübeln.

„Was ist jetzt, Jim? Kommst du?“, riss Bones ihn aus seinen Überlegungen.

„Ich will dir nicht auf die Nerven gehen.“

„Du gehst mir immer auf die Nerven, aber das ist okay. Ich bin daran gewöhnt. Zweieinhalb Jahre mit dir haben mich abgehärtet“, feixte Bones. „Also schwing deinen halberfrorenen Hintern nach Georgia, ehe ich kommen und dich holen muss. Und wenn du krank wirst und mich in meinen Ferien zum arbeiten zwingst, kannst du was erleben.“

Jim war zu müde und ihm war zu kalt, um auf die wenig ernstgemeinte Drohung einzugehen. „Ich muss mir ein anderes Fahrzeug suchen. Ich kann nicht mit dem Bike bis zu dir fahren. Das dauert ewig und ich erfriere unterwegs“, erklärte Jim. Er war sich immer noch nicht sicher, ob es eine gute Idee war. Garys Familie war absolut locker und riesig, und in ihrer Mitte war Jim nie wirklich aufgefallen. Und da Bones kaum von seiner Familie erzählt hatte, war Jim sich nicht sicher, ob er dazu passen würde, oder überhaupt willkommen war. Er wollte sich niemandem aufdrängen, besonders nicht Bones.

„Du bist so ein cleveres Kerlchen, dir wird was einfallen“, sagte Bones sanft.

„Ab wann bist du morgenfrüh auf?“, fragte Jim schließlich. Beim ersten Anzeichen von Unwohlsein seitens Bones oder dessen Familie, würde er sofort zurück nach San Fransisco fahren, beschloss Jim.

„Das hängt von Joanna ab“, sagte Bones schlicht. „Wieso?“

„Weil ich vermutlich irgendwann nachts aufschlage und niemanden wecken will. Und wer ist Joanna?“

Bones schluckte. Verdammt. Er war wohl doch erschöpfter als er dachte und hatte sich doch glatt verplappert.

„Bones?“, hakte Jim nach. „Hast du etwa eine Freundin, von der du mir nie was erzählt hast?“

Bones lachte leise. Wenn es so wäre, würde seine Mutter nicht die erstbeste Nachbarin für ihn in Erwägung ziehen. „Nicht direkt.“ Wie um Himmelswillen sollte er Jim nach zweieinhalb Jahren Freundschaft erklären, dass er ihm nie von Joanna erzählt hatte? „Du wirst es morgen erfahren.“

„Das ist nicht dein Ernst. Sag es mir, sofort. Ist sie deine Schwester? Ist sie heiß? Hast du mir deshalb nie von ihr erzählt?“

Bones verdrehte die Augen. „Schwing deinen Hintern nach Georgia. Deine Neugierde treibt dich sicher an. Ich bleibe auf, wenn du möchtest, und warte auf dich.“

„Nein, Bones. Geh schlafen. Sechs Stunden brauche ich sicher. Ich muss erstmal eine andere Transportmöglichkeit finden“, sagte Jim nachdenklich. Wer auch immer diese Joanna sein mochte, sie war zweifellos der Grund, weshalb Bones immer so gut gelaunt aus seinen Ferien in Atlanta zurück an die Akademie kam. Dass Bones ihm jedoch nie zuvor von Joanna erzählt hatte, machte Jim nachdenklich. „Schau bei Sonnenaufgang Richtung Süden.“

Bones lachte leise. Er hätte Jim nie die ‚Der Herr der Ringe’ Trilogie schenken dürfen. „Ja, du Spinner, mache ich. Bis später dann.“

„Bones?“

„Ja, Jim?“

„Danke.“

„Jederzeit, Jim.“ Bones klappte den Kommunikator zu und blickte einen Moment auf das kleine Gerät in seiner Hand hinab. „Verdammt.“ Hoffentlich würde Jim ihm nicht böse sein, weil er nie auch nur ein Sterbenswörtchen über Joanna verloren hatte.
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