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Inmitten des fallenden Schnees

von Emony

Kapitel 3

Leonard goss sich einen weiteren Bourbon ein und wollte gerade einen Schluck davon trinken, da sprach ihn sein Patient an. Er setzte den Tumbler resignierend auf der Armlehne des Sessels ab und drehte den Kopf gerade weit genug Richtung Schlafzimmer, um den Mann durch die offene Tür ansehen zu können.

„Sollten Sie nicht weniger trinken, wenn Sie … ich weiß nicht … sich um einen Verletzten kümmern müssen?“

Leonard blinzelte irritiert und hob seine rechte Augenbraue steil an. Wollte der Kerl ihn ernsthaft belehren? Schließlich war er nicht direkt im Dienst und in seiner Freizeit konnte er – verdammt noch mal – so viel trinken, wie er wollte. „Wie bitte?“, fragte er daher grob.

„Hören Sie auf den Bourbon in sich zu schütten, als wäre es Wasser“, bat ihn der Fremde.

Als ob er sich von einem Kerl, der ihn nicht kannte, belehren lassen würde. Leonard hob das Glas nun erst recht an seine Lippen und kippte die Flüssigkeit gerade zum Trotz in einem einzigen Zug runter. Anschließend gab er ein genüssliches Schmatzen von sich und schenkte sich abermals nach.

„Nicht nur, dass ich in die Fänge eines Irren geraten bin“, murmelte Jim im Bett liegend vor sich hin, „sondern auch noch in die eines irren Alkoholikers. Scheiße!“ Er schälte sich umständlich so weit unter der Schicht aus Decken hervor, dass er seine Hände frei bekam. „Wo ist mein Handy? Ich muss dringend telefonieren.“

Leonard machte sich nicht die Mühe Augenkontakt herzustellen. Stattdessen blickte er in das Glas in seiner rechten Hand und schwenkte die bernsteinfarbene Flüssigkeit im Kreis. „Sie werden hier keinen Empfang haben.“

„Ihr lausiges Handy hat vielleicht keinen Empfang. Meins jedoch ganz sicher. Also, wo ist es?“

Die Beharrlichkeit seines Patienten imponierte und nervte ihn gleichermaßen. Leonard zuckte die Schultern und erhob sich aus dem Sessel, in dem er seit einer guten Stunde nahezu reglos gesessen hatte. Er seufzte und holte Jims Kleidung, die er zum Trocknen in der Nähe des Kamins über diverse Stuhllehnen gehängt hatte. Er knüllte alles zu einem lieblosen Bündel zusammen, betrat das Schlafzimmer – in dem für gewöhnlich seine Eltern geschlafen hatten – und warf den Wäschehaufen achtlos auf das Bett. „Hier, bitte. Suchen können Sie ja wohl selbst.“

Fassungslosigkeit stand in Jims Blick geschrieben, als dieser ihn für einen gedehnten Moment musterte. Schließlich schüttelte er nur den Kopf, murmelte unverständliche Worte vor sich hin und begann damit, seine Wäsche zu durchsuchen. „Es ist nicht da“, stellte er schließlich frustriert fest.

„Vielleicht haben Sie es beim Unfall verloren“, war Leonards lapidare Antwort. Als hätte er nicht schon genug damit zu tun gehabt, den Kerl in seiner Bewusstlosigkeit in den Wagen zu hieven. Nach einem möglicherweise verlorenen Handy hatte Leonard in der Dunkelheit und im Schneesturm nun wahrlich nicht gesucht. Er hatte ja nicht mal gewusst, dass der Typ ein Handy dabei gehabt hatte. Selbstverständlich besaß so ziemlich jeder Mensch dieser Zeit eins, aber dennoch … er hatte nicht nachgesehen oder auch nur im Ansatz einen Gedanken daran verschwendet.

Jim warf seine Jacke zurück auf den restlichen Kleiderhaufen. „Sie haben es gestohlen“, behauptete Jim und fasste sich an die Rippen, da selbst die kleinsten Bewegungen ihm bereits Schmerzen verursachten.

Leonard lachte sarkastisch auf. „Ja, Sie haben mich erwischt. Ich habe nichts Besseres zu tun, als irgend so einem armen Trottel, der ohne Reflektoren durch einen Schneesturm spaziert, das Handy zu stehlen.“ Er verdrehte nur die Augen und wandte Jim den Rücken zu. „Ruhen Sie sich aus. Ich bringe Sie morgen ins Krankenhaus. Und wenn wir unterwegs Ihr Handy auf der Straße sehen, was ich bei diesem Schneefall ernsthaft bezweifle, dann holen wir es.“

„Sie wollen mich wohl verarschen …“ Jim stützte sich auf seine Ellbogen auf.

„Keineswegs“, erwiderte Leonard und warf dem anderen Mann einen ernsten Blick über die Schulter zu.

„Sicher haben Sie hier Festnetz. Für Notfälle. Ich verlange augenblicklich, dass Sie mich telefonieren lassen.“

War das zu glauben? An was für einen nervtötenden Menschen war er da nur geraten? „Hören Sie“, begann er und war ernsthaft um einen neutralen und geduldigen Tonfall bemüht, „ich verstehe Sie – wirklich. Es ist aber nun mal so, dass dies hier das Ferienhaus meiner Eltern ist. Es ist absichtlich etwas außerhalb gelegen, um die Natur in vollen Zügen genießen zu können. Es gibt hier keine nennenswerte Technik, vom Strom für das Licht und einige Haushaltsgeräte abgesehen. Telefonieren war immer ein Tabu für meine Eltern, wenn sie Ferien machten. Sie wollten absolut ungestört sein.“

„Und im Notfall?“, fragte Jim entsetzt. „Was hätten sie getan, wenn einer von ihnen sich hier ernsthaft verletzt hätte oder erkrankt wäre, oder wenn …“

„Hören Sie“, unterbrach Leonard ihn, ehe dieser sich noch mehr in die Situation hineinsteigern konnte, „derlei Möglichkeiten zogen meine Eltern einfach nicht in Betracht. Sie sind dahingehend etwas – antiquiert.“

„Was ist mit Ihrem Handy?“ So leicht wollte er sich nicht geschlagen geben. Seine Stimme war inzwischen allerdings etwas ruhiger, weniger aufgeregt, fast schon hoffnungsvoll. „Darf ich bitte damit telefonieren? Ich möchte nur meinen Bruder anrufen.“

Leonard griff in die Gesäßtasche seiner Jeans und warf Jim das Handy auf die Bettdecke. „Versuchen Sie Ihr Glück. Ich will nicht, dass Sie denken, ich versuche Sie absichtlich von der Zivilisation abzuschirmen. Ich bin kein Entführer und kein Irrer, übrigens auch kein Alkoholiker, ich bin nur ein Mann, der hier seine Ruhe haben und sich zu Weihnachten verstecken und allein sein wollte. Stattdessen habe ich nun Sie am Hals.“ Damit verließ er das Schlafzimmer und zog diesmal die Tür hinter sich zu.

Für einen Moment erlaubte er es sich, den Rücken an die geschlossene Holztür zu lehnen und die Situation zu reflektieren. Wie kam es, dass ein Fremder ein derart schlechtes Bild von ihm hatte? Zugegeben, er hätte freundlicher und einfühlsamer sein können, aber der Unfall hatte ihn dermaßen erschreckt, dass er ganz instinktiv in eine defensive Haltung gegangen war.

„Das Netz ist tot!“, hörte er Jims gedämpfte Stimme durch die Tür. „Scheiße!“

„Willkommen am Arsch der Welt!“, rief Leonard seinerseits murrend und kehrte zu dem warmen Platz vor dem Kamin zurück. Ein kurzer Blick auf die Uhr erinnerte ihn daran, dass er mal etwas essen sollte. Allerdings hatte er keinen wirklich großen Hunger. Vielleicht würde er noch etwas warten und bis dahin noch ein wenig in Selbstmitleid baden.

Er saß noch keine fünf Minuten in dem altmodischen Ohrensessel, da hörte er erneut Jims Stimme, die ihn aus seinem Gedankenkarussell zerrte.

„Mir ist langweilig!“

„Versuchen Sie zu schlafen!“, rief Leonard nur zurück und hoffte, damit sei die Sache erledigt.

Als wäre es je so einfach gewesen.

„Gibt es hier keinen Fernseher? Haben Sie Netflix?“

Leonard rollte genervt die Augen, stemmte sich erneut hoch und ging hinüber zum Schlafzimmer und spähte durch den Türspalt. „Kein Telefon, keinen Fernseher und auch kein Radio“, erklärte er mit erzwungener Geduld. „Also, entspannen Sie sich, und versuchen Sie zu schlafen.“

„Wie könnte ich? Ich bin nicht müde, dafür aber zu Tode gelangweilt und hungrig obendrein. Sie sind nicht unbedingt der beste Unterhalter, geschweige denn ein akzeptabler Gastgeber. Ihre medizinischen Fähigkeiten kann ich kaum einschätzen und ich hoffe für Sie, dass keine Folgeschäden zurückbleiben.“

„Sie können mich gerne verklagen. Ich habe nichts mehr, das Sie mir wegnehmen könnten. Da ist Ihnen jemand zuvorgekommen.“ Leonard seufzte und fragte sich, warum er sich überhaupt auf ein Gespräch mit dem Kerl einließ. „Ich kann Ihnen was zum Essen machen. Ich habe mich allerdings mit einer Reihe Fertiggerichten eingedeckt, da ich nicht unbedingt ein begnadeter Koch bin.“

„Als Arzt, der Sie angeblich sind, sollten Sie wissen, wie ungesund Fertiggerichte sind. Da sind dermaßen viele Zusatzstoffe drin und …“

„Wenn Sie tatsächlich so hungrig sind, wie Sie sagen, sollte Ihnen das für heute egal sein. Sie können essen, was da ist, oder verhungern. Mir ist das einerlei.“

„Sie sind ein echter Sonnenschein“, spöttelte Jim, ergab sich dann jedoch in sein Schicksal. „Also, was können Sie anbieten?“ Schon beim bloßen Gedanken an etwas auch nur annähernd Essbares knurrte sein Magen dermaßen laut, dass Leonard es deutlich hören konnte.

Dieser verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich einigermaßen lässig an den Türrahmen. „Glauben Sie, dass Sie aufstehen können?“

Jim zuckte leicht die Schultern. „Wenn Sie mir helfen, eventuell schon. Warum?“ Er schien nicht zu verstehen, was das eine mit dem anderen zu tun hatte.

„Ganz einfach, Freundchen“, gab Leonard wenig freundlich zu verstehen, „weil Sie ganz bestimmt nicht im Bett essen werden. Gegessen wird am Tisch, solange Sie nicht halb besinnungslos sind.“

„Ich weiß doch noch gar nicht, ob ich Ihr Angebot an Leckereien mag.“ Ein freches Grinsen huschte über Jims Gesicht, der sich scheinbar nicht länger von Leonards rauem Ton einschüchtern ließ.

Bemüht, sich nicht von dem koketten Grinsen irritieren zu lassen, listete Leonard auf, was er anzubieten hatte. „Ich habe Tiefkühlpizzen, Lasagne, Nasi und Bami Goreng, verschiedene Pastagerichte, Nudelsalat und ein paar andere Sachen gekauft.“

Jims Augen weiteten sich in Erstaunen. „Wie lange wollten Sie sich hier verschanzen?“

„Über Weihnachten und Neujahr. Mir ist nicht nach Gesellschaft.“

„Ist mir nicht aufgefallen“, erwiderte Jim jovial. „Helfen Sie mir nun auf, oder nicht?“

„Ich bin Arzt, kein unterbezahlter Krankenpfleger“, motzte Leonard. Er war schon immer froh und dankbar dafür gewesen, dass er sämtliche pflegerischen Tätigkeiten dem ihm unterstellten Personal hatte überlassen können. Pflichten wie Patienten umzulagern, zu waschen oder gar zu Toilettengängen zu begleiten, waren ihm ein Graus.

„Heute sind Sie ein Allrounder. Ohne Sie komme ich jedenfalls nicht aus dem Bett. Und wenn Sie mir schon an den Esstisch helfen, wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich vorher noch zum Bad führen würden. Ich muss da mal dringend was loswerden.“

Leonard verzog das Gesicht zu einer undefinierbaren Grimasse. Es konnte eigentlich nicht mehr schlimmer werden. Trotz allem Unmut näherte er sich jedoch dem Bett. Jim schlug die Bettdecken zurück und sah an sich hinab. „Vielleicht hätten Sie mir noch Hosen …“

„Sie wollen, dass ich Ihnen meine Kleidung leihe?“ Das war ja wohl der Gipfel der Unverfrorenheit.

„Soll ich in Unterhosen an Ihren Esstisch sitzen? Mir persönlich ist das ja egal.“ Erneut erschien ein dermaßen freches Grinsen auf Jim Gesicht, dass es Leonard fast die Sprache verschlug.

Fast.

„Das wäre ja noch schöner“, grollte dieser und bedeutete Jim sich einen Moment zu gedulden. Aus dem viertürigen Kleiderschrank, der, wie fast das gesamte Mobiliar in der Hütte, aus dem Kiefernholz und im Landhausstil gefertigt war, holte er eine bequeme schwarze Trainingshose. „Hier, die können Sie anziehen bis Ihre eigenen Klamotten wieder trocken sind.“

„Danke“, nickte Jim und bemühte sich allein aufzustehen. Allerdings erinnerten ihn die Schmerzen im linken Fußknöchel und auch der Rippen sofort daran, weshalb er auf die Hilfe des Arztes angewiesen war.

Leonards Helferinstinkt sprang an, als er das schmerzverzerrte Gesicht des Mannes sah. „Sachte, James. Den Knöchel möglichst nicht bewegen. Die Schiene ist provisorisch und nicht allzu stabil.“ Er trat ans Bett heran und half seinem Patienten dabei in die Hosenbeine zu schlüpfen.

„Außer meinem Stiefvater nennt mich niemand James. Jim. Bitte sagen Sie einfach Jim.“

Leonard nickte und schob die Hosenbeine bis zu Jims Knien hoch. „In Ordnung - Jim. Wenn Sie jetzt aufstehen, bitte das Gewicht ausschließlich auf das rechte Bein verlagern.“

Jim nickte gehorsam und hielt sich an Leonards Schultern fest, als dieser ihm auf die Beine half.

„Wie geht es dem Kreislauf?“, wollte Leonard wissen und hielt Jim an dessen Becken fest.

„Sie sind ganz schön muskulös für einen Arzt. Treiben Sie Sport?“ Jim strich probehalber über die Schulter- und Rückenmuskulatur des anderen Mannes.

Leonard schüttelte fassungslos den Kopf. „Ein bisschen zum Ausgleich. Aber das beantwortet nicht meine Frage. Ist Ihnen schwindelig?“ Als Jim nicht sofort antwortete und stattdessen Leonard eingehend betrachtete, wurde dieser ungeduldig. Er zog Jim die Hosen nach oben über den Hintern und achtete dabei herzlich wenig darauf, ob sie bequem saßen. „Scheinbar nicht, dann mal los. Sie halten sich einfach an mir fest und hüpfen am besten auf dem rechten Bein. Denken Sie daran, das linke nicht zu belasten.“

Jim korrigierte den Sitz der Trainingshose und legte anschließend den rechten Arm um Leonards Schultern. Dieser verstärkte seinen Griff um Jims Mitte und führte ihn langsam aus dem Schlafzimmer, durch den Wohnbereich und weiter zu einem angrenzenden Bad.

Das Ferienhaus war nicht übermäßig groß, aber seiner Familie hatte es stets gereicht. Leonard erinnerte sich gerne daran, wie er als Kind am Morgen die Stufen der Empore herab kam, wo sein Schlafbereich gewesen war, und seine Mutter bereits eifrig beschäftigt gewesen war das Frühstück vorzubereiten. Der Wohnbereich war der größte Raum der Hütte und beinhaltete neben einem großen Kamin auch eine Küchenzeile und einen kleinen Essbereich. Lediglich das Badezimmer und das Elternschlafzimmer, in dem Leonard seinen Gast untergebracht hatte, waren durch Türen vom Wohnbereich getrennt.

„Nette, kleine Hütte“, ließ sich Jim vernehmen und folgte Leonard auf denkbar umständlichste Weise durch die schmale Tür, die zum Badezimmer führte. Dieses war nicht sonderlich groß. Es gab darin eine Toilette, ein Waschbecken, eine verglaste Duschkabine und eine Waschmaschine. Wenn man sich korrekt in der Mitte des Badezimmers positionierte, konnte man bequem alles gleichzeitig erreichen. Die Außenwände bestanden, wie überall im Haus, aus Holz. Lediglich die Duschkabine und der Boden waren gefliest. Allerdings in einem altmodischen Braun, das Jim nicht sonderlich zusagte. Dennoch passte alles irgendwie zusammen und machte im Großen und Ganzen einen gemütlichen Eindruck.

„Melden Sie sich, wenn Sie fertig sind“, sagte Leonard, ohne großartig auf Jims Meinung bezüglich der Hütte einzugehen. Dann ließ er seinen Gast im Badezimmer zurück und zog von außen die Tür zu. „So etwas“, brummte er missmutig vor sich hin, während er vor der Tür auf Jim wartete, „kann auch nur mir passieren. Nicht nur, dass ich so einen Trottel anfahre, nein, ich muss auch noch Pfleger spielen. Das ist wieder mal typisch!“

„Führen Sie immer Selbstgespräche?“, erklang Jims Stimme von hinter der Tür. „Wissen Sie, die Türen hier sind nicht allzu massiv.“

Leonard musste den Mann nicht sehen, um zu wissen, dass dieser wieder grinste. Es war deutlich herauszuhören. Scheinbar genoss er Leonards missliche Situation und fand zunehmend Gefallen an der Opferrolle. „Ach, halten Sie die Klappe!“ Aus dem Bad hörte er ein tiefes Glucksen. Er hatte es gewusst! Der Kerl machte sich einen Spaß aus allem.

Dem Glucksen folgte jedoch ein gequältes: „Autsch – verfluchter Mist!“

Und Leonard grinste nun seinerseits vor der Tür. Geschah dem Kerl ganz recht, wenn er sich über ihn lustig machte!


Keine Stunde später saßen die beiden Männer zusammen am gedeckten Tisch und aßen Pizza. Während Leonard sich die Mühe machte mit Messer und Gabel zu essen, hatte Jim seine Pizza schlicht geviertelt und aß inzwischen mit den Fingern. Dass Leonard ihm deshalb missbilligende Blicke zuwarf, ignorierte er schlichtweg.

„Waren Sie immer schon so ein Misanthrop?“

Die Frage veranlasste Leonard dazu das Besteck beiseite zu legen und sein Gegenüber mit zusammengekniffenen Augen zu mustern. „Ich bin kein Misanthrop.“

„Sie sind sogar der Inbegriff davon“, widersprach Jim und leckte sich Öl und Tomatensaft von den Fingerspitzen. „Und irgendwie passt das für mich nicht zusammen.“

Ungeduld und Irritation wechselten sich in Leonards Mimik ab. Er wollte gar nicht darauf reagieren. Seine innere Stimme riet ihm, einfach zu schweigen und zu essen. Aber aus irgendeinem Grund störte es ihn, dass ein Wildfremder ihn für einen Misanthropen hielt. „Was passt für Sie nicht zusammen?“, fragte er daher entgegen aller Vernunft.

„Dass jemand, der scheinbar einen Hass auf die Menschen hat, Arzt wird. Und ich frage mich, was zuerst da war und wie es dazu kam, dass Sie jetzt hier sind und so sind wie Sie sind.“

„Sie glauben doch ohnehin nicht, dass ich Arzt bin. Also, was kümmert es Sie?“ Leonard hoffte, bei allem was ihm heilig war, dass sein Patient kein Psychotherapeut war und ihn analysieren wollte. Das hätte ihm gerade noch gefehlt.

Zunächst zuckte Jim lediglich die Schultern. „Ich bin nur neugierig. Und Ihnen täte es vielleicht gut, sich den Frust von der Seele zu reden.“

„O Gott, Sie sind Therapeut“, brach es schließlich aus Leonard heraus. Rasch goss er sich einen Bourbon in das frische Glas, das bis dahin unberührt auf dem Tisch gestanden hatte.

Jim lachte auf und rieb sich anschließend behutsam die schmerzenden Rippen. „Nein, weit gefehlt. Ich bin einfach jemand, dem sich Menschen gerne anvertrauen. Und ich weiß, wann ein Mann gewohnheitsmäßig zu viel trinkt. Sie sind vielleicht kein Alkoholiker, aber auf dem besten Weg dahin einer zu werden, wenn Sie glauben, Ihren Kummer in Alkohol ertränken zu können.“

Leonard kniff argwöhnisch die Augen zusammen und verbiss sich jeden weiteren Kommentar.

Der Hauch eines versöhnlichen Lächelns huschte über Jims Gesicht. „Ich habe eine Bar. Und ich habe sehr viele Jahre Erfahrung mit Menschen, die, wie Sie auch, versuchen ihre Probleme durch Alkohol loszuwerden.“

„Dann wissen Sie auch, dass Alkohol die Zunge lockert.“ Daraufhin nahm Leonard sich, wie zum Trotz, sein Bourbon-Glas und leerte es erneut in einem einzigen großen Schluck.


Zwei Pizzen und vier Bourbons später, hatte Leonard seine liebe Mühe, Jim zurück zum Schlafzimmer zu befördern. Ihm war nämlich selbst inzwischen dermaßen schwindelig, dass es ihn anstrengte, sich selbst auf den Beinen zu halten. Irgendwie gelang es ihnen jedoch unbeschadet ins Schlafzimmer zu gelangen. Jim ließ sich aufs Bett plumpsen und Leonard stürzte recht unkoordiniert neben ihn, wo er für einen Moment auf dem Rücken liegen blieb. Liegend war ihm jedoch noch schwindeliger als stehend, daher richtete er sich langsam wieder auf. „Tschuldigung“, murmelte er und bemühte sich auf die Beine zu kommen.

„Sie müssen die Person sehr geliebt haben, die Ihnen dermaßen zugesetzt hat.“

Leonard winkte ab. „Ja, irgendwann mal. Ist aber schon lange her. Das Miststück kann mich mal.“ Wäre er nicht so betrunken, hätte er sich womöglich gefragt, warum er Jim überhaupt darauf geantwortet hatte. Es ging ihn verdammt noch mal nichts an!

Jim grinste scheinbar zufrieden. „Na, immerhin weiß ich jetzt grob, woher der Wind weht.“ Er nahm Leonards linke Hand und betrachtete den Ringfinger eingehend, der schmucklos war. Eine leichte Vernarbung war allerdings noch sichtbar. „Sie sind Arzt, folglich konnten Sie den Ring nur außerhalb der Arbeitszeiten tragen. Die Vernarbung sagt mir, dass Sie ihn nur für die Arbeit abgelegt und ansonsten stets getragen haben. Und zwar für einige Jahre.“

„Neun“, nickte Leonard und blieb an der Bettkante sitzen.

Jim kroch nebenbei unter die Decken. Das linke Bein ließ er allerdings lieber auf der obersten Decke liegen, da ihm der Druck derselbigen bereits Schmerzen verursachte. „Da es Sie so fertig macht, hat wohl sie wohl Schluss gemacht.“

Der Kerl glaubte doch wohl nicht, dass er Leonards Vertrauen bereits gewonnen hatte. „Ich mag angetrunken sein, aber ich bin nicht betrunken genug, um vor Ihnen einen Seelenstrip hinzulegen.“ Ihre Blicke trafen sich.

Jim grinste erneut auf diese Art, die Leonard zunehmend nervte. „Den Seelenstrip können wir gern verschieben. Einem Körperstrip wäre ich jedoch nicht abgeneigt.“

Leonard war sich ziemlich sicher, dass er sich verhört hatte. Er verzog das Gesicht, winkte ab und grinste dann seinerseits. Lag es am Alkohol oder hatte Jim ihn gerade ziemlich offensichtlich angeflirtet? Ihm wurde erneut ganz schwindelig. „Damit Sie bei der Polizei aussagen können, ich hätte Sie nicht nur entführt, sondern vergewaltigt. Ich mag betrunken sein, aber ich bin nicht blöd.“ Mühsam gelang es ihm schließlich, sich vom Bett hochzustemmen. Der ganze Raum drehte sich um ihn. Er wusste, dass er weniger hätte trinken sollen. Doch je mehr Jim versucht hatte, es ihm auszureden, desto mehr hatte er ihn in dieser Hinsicht an Jocelyn erinnert und umso mehr wollte er daher trinken. „Ich schlafe nicht mit Männern.“

„Schade. Ich würde dich jedenfalls nicht von der Bettkante stoßen, Bones.“

Jim sah ihn so herausfordernd an, dass Leonard zunächst nichts zu erwidern wusste. Das konnte er doch nicht wirklich ernst meinen. Oder etwa doch?

„Bones?“, fragte er dann und tat so, als hätte er den Rest überhört. Jims Blick schien ihn zu scannen und verharrte einen Moment länger als erlaubt über Leonards Körpermitte, bis dieser vor Scham die Hände davor positionierte. „Wieso Bones?“

„Du hast mir immerhin einige Knochen gebrochen. Leonard klingt furchtbar spießig. Gefällt mir einfach nicht. Passt irgendwie nicht zu dir.“

Leonard seufzte. „Ich bin spießig. Also passt der Name sogar sehr gut zu mir.“

„Das sehe ich anders.“ Jim zuckte die Schultern, ein fast schon unschuldiges Lächeln auf den Lippen.

„Wie du meinst.“ Ein neuerliches Seufzen entkam Leonard, dann torkelte er hinüber zur Tür, an der er sich recht dankbar festhielt. Seine alte Schlafstätte auf der Empore zu erreichen, ohne sich zu verletzen, würde heute Nacht eine echte Herausforderung werden. „Jetzt versuch endlich etwas zu schlafen und gönn mir auch etwas Ruhe.“

„In Ordnung, Bones. Schlaf deinen Rausch ordentlich aus, damit du mich morgen ins Krankenhaus fahren kannst, wie versprochen.“

„Keine Sorge, das werde ich“, erwiderte Leonard und drehte sich für einen kurzen Schulterblick zu Jim um, der ihn trotz Schmerzen, die er zweifellos hatte, anlächelte. „Nacht, Jim.“

„Gute Nacht, Bones.“

Leonard konnte Jims Blick deutlich in seinem Rücken spüren. Der Kerl verwirrte ihn mehr, als es ein anderer Mensch zuvor in seinem Leben getan hatte. Zuerst beschuldigte Jim ihn der Entführung und der Folter, dann hielt er ihn für einen irren Alkoholiker und nach wenigen Stunden offerierte er ihm die Möglichkeit Sex miteinander zu haben. Womöglich war nicht Leonard der Irre, sondern Jim …

In einer Sache hatte Jim jedoch Recht. Leonard musste unbedingt aufhören dermaßen viel zu trinken!
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