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Inmitten des fallenden Schnees

von Emony

Kapitel 6

Jim schaute Leonard dabei zu, wie dieser die provisorische Schiene behutsam von seinem linken Fußknöchel abnahm. Als er sah, was der Arzt zur Stütze unter den Verband gewickelt hatte, war Jim klar, weshalb sich die Schiene so starr und unbequem angefühlt hatte. In Ermangelung einer besseren Alternative hatte Leonard schlichtweg jeweils an der Innen- und Außenseite einen Kochlöffel als Stütze verwendet. Der Verband war recht dick und der Fußknöchel letztlich gar nicht mehr so sehr geschwollen, wie Jim zunächst befürchtet hatte. Sobald der Schienenverband ganz ab war, war Jim versucht seinen Knöchel zu bewegen, um die neu gewonnene Freiheit auszukosten. Aber schon als er mit den Zehen wackelte, sah Leonard mit strengem Blick zu ihm auf.

„Stillhalten.“

Ein erschrockenes und fast schon entschuldigendes Lächeln huschte geschwind über Jims Gesichtszüge. „Okay, Doktor.“

Leonard besah sich den Fuß gründlich von allen Seiten, drückte vorsichtig hier und da und bewegte ihn behutsam, um die Beweglichkeit zu überprüfen. „Auf einer Skala von eins bis zehn, wobei eins nicht der Rede wert und zehn extrem schlimm ist, wie hoch würdest du deine Schmerzen aktuell einstufen?“

Er horchte in sich hinein, ließ Leonard den Fuß erneut durchbewegen und zog dann scharf die Luft ein, als er an seine Schmerzgrenze stieß. „Acht!“, kam es fast schon jammernd über seine Lippen.

Leonard nickte und ließ von dem Fuß ab. „Entschuldige.“

„Schon gut.“ Der Nachklang des Schmerzimpulses hielt noch einen Moment an. Es pochte regelrecht in seinem Fußgelenk, als würde jemand darauf herumtrommeln. Als es endlich nachließ, normalisierte sich Jims Atmung wieder. Bis dahin war er sich gar nicht bewusst gewesen, dass sein Atem stockend war. „Es geht schon wieder.“

„Also, dann kannst du jetzt duschen und danach lege ich dir einen Tapeverband an. Der hemmt dich zwar weiterhin in der Bewegung, unterstützt jedoch die verletzten Bänder und hilft indirekt bei der Selbstheilung.“

„Wird sowas normalerweise operiert?“, fragte Jim, der von solchen Verletzungen bisher verschont geblieben und deshalb recht ahnungslos war.

Leonard schüttelte leicht den Kopf. „In der Regel nur bei Sportlern. Die Eigenheilung ist ganz gut, wenn auch etwas langwierig. Es kann zwischen sechs und acht Wochen dauern, je nach Selbstheilungsrate. Aber mit entsprechender Schonung und anschließender Physiotherapie solltest du das Gelenk in ein paar Wochen wieder normal belasten können.“

Jim nickte nachdenklich. „Gut zu wissen.“ Also schien Leonard doch nicht von Folgeschäden auszugehen. Das beruhigte ihn. Der Arzt hielt ihm die Hände hin, um ihm vom Sofa zu helfen. „Ich schaffe es allein ins Bad.“ Das sagte Jim nicht nur, um den Arzt nicht unnötig zu belasten oder in Verlegenheit zu bringen, sondern auch deshalb, weil er sich selbst im wahrsten Sinn des Wortes schon nicht mehr riechen konnte und Leonard seinen Gestank nicht länger zumuten wollte. Der Geruch seiner Füße war inzwischen wahrscheinlich auch schon über den Punkt hinaus, der als unangenehm empfunden wurde. Trotzdem hatte sich der Arzt nichts anmerken lassen und hatte ganz professionell seine Untersuchung durchgeführt.

Die Erleichterung, die Leonard empfand, war unbeschreiblich. „Ein Badetuch findest du in dem Schränkchen unter dem Waschbecken. Shampoo und Duschgel stehen in der Duschkabine. Bediene dich einfach.“

„Danke“, nickte Jim und machte sich hüpfend auf den Weg zum Badezimmer hinüber. Auf halbem Weg hielt er jedoch inne, als ihm etwas einfiel. „Ähm, kannst du mir frische Wäsche leihen?“ Leonard rollte die Augen, nickte jedoch. „Und du hast nicht zufällig eine zweite Zahnbürste hier?“

„Schau mal im Spiegelschrank nach. Meine Mutter kauft manchmal im Vorrat, weil sie die von zuhause nie mitbringt.“ Während Jim seinen Weg nach einem dankbaren Lächeln fortsetzte, ging Leonard ins Schlafzimmer. „Ich bringe dir gleich was zum Anziehen.“

Jims bestätigendes „Okay“ war kaum noch zu hören, als dieser im Badezimmer verschwand und Leonard gleichzeitig die Türen des Kleiderschranks öffnete.

Wenige Minuten später stand Leonard zögerliche vor der Badezimmertüre, einen Sweater, Jogginghosen und Unterwäsche für Jim im Arm haltend. Er hörte das Wasserrauschen der Dusche und klopfte an. Allerdings schien Jim ihn nicht zu hören, denn er reagierte nicht. Einige weitere Augenblicke vergingen, dann fasste Leonard sich ein Herz und öffnete die Tür einen Spalt breit. Jim stand mit dem Rücken zu ihm unter der Dusche und genoss das angenehm temperierte Wasser, das seinen Körper benetzte, hörbar. Er summte eine Melodie vor sich hin, die Leonard vage vertraut vorkam. Es war eindeutig ein Weihnachtslied. Allerdings wollte er nicht länger als nötig in der offenen Tür verharren, auch, damit Jim keinen kalten Luftzug abbekam, und legte hastig die Kleidung auf dem geschlossenen WC-Deckel ab. Er war schon wieder halb zur Tür raus, als Jim damit begann sich einzuseifen. Im Nachhinein konnte er nicht mal mehr sagen, was ihn veranlasste zu verweilen, aber Leonard erlaubte es sich, Jim einige Augenblicke zu beobachten. Jim machte keinen allzu durchtrainierten Eindruck, auch wenn seine Figur sichtbar sportlich war. Er hatte einen schönen Körper – für einen Mann. Leonard blinzelte irritiert und senkte den Blick, nur um gleich darauf wieder hinzusehen. Weißer Schaum floss von Jims Kopf über seine Schultern, weiter über den Rücken hinab bis zu seinem Hintern und den Beinen und Leonard konnte für Sekunden nichts weiter tun, als zu starren. Als er sich der Situation gewahr wurde, zog er hastig die Tür zu und lehnte sich schuldbewusst von außen gegen selbige. „Was machst du denn da?“, tadelte er sich selbst und schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen an Jims nackten Körper aus seinem Geist zu verbannen. Das lag ganz sicher nur an Jims ständigen Annäherungsversuchen. Irgendwie brachten diese Leonard durcheinander. Er hatte schon zig Männer nackt gesehen. Früher nach dem Sport in der High-School, nach dem Training unter der Dusche im Fitness-Studio, in den Gemeinschaftsduschen der Universität oder in der Klinik. Es war nichts dabei. Ein Körper war wie der andere. Er schloss verzweifelt die Augen – und sah wieder Jims nackten, nassen und schaumbenetzten Körper.

Als Jim wenig später aus dem Badezimmer gehüpft kam und dabei eine Dampfwolke hinter sich herzog, fand er Leonard mit seinem Medizinkoffer auf dem Sofa sitzend und auf ihn wartend vor. Die Socken hatte er noch nicht an. Er hatte das Gefühl, dass er ohne einen besseren Halt auf dem Parkettboden hatte, der außer im Badezimmer in sämtlichen Räumen lag. „Danke für die Sachen.“

„Schon gut“, raunte der Arzt und wagte es nicht, Jim in die Augen zu sehen.

Dieser erreichte schließlich das Sofa und setzte sich ans andere Ende, so dass Leonard bequem an den ausgestreckten Fuß herankam. „Ist alles okay? Du wirkst irgendwie betreten.“

„Alles bestens“, schwindelte Leonard und kramte in seinem Arztkoffer, bis er die passenden Utensilien gefunden hatte. Er vermied weiterhin den Augenkontakt zu Jim, aus Angst, dieser könnte ihm ansehen, dass er ihn beobachtet hatte. Stattdessen konzentrierte er sich ganz und gar auf seine Arbeit, legte Jims Fuß möglichst gerade über seinen eigenen Oberschenkel und brachte ihn behutsam in einen möglichst rechten Winkel. „Halte den Fuß so. Nicht bewegen.“

Jims Nicken blieb ohne Beachtung. „Irgendwas ist doch?“

Leonard schüttelte wortlos den Kopf und korrigierte Jims Fußstellung, als er diese doch etwas in eine lockere Haltung zurückfallen ließ. „Halte den rechten Winkel, Jim.“ Er setzte den ersten Strang des Tapeverbandes so, dass er wie ein Steigbügel um Jims Ferse herum verlief und auf beiden Seiten je eine Handbreit unter dem Wadenmuskel endete. Im Handumdrehen legte Leonard den Tapeverband an und fragte anschließend: „Tut es irgendwo weh oder fühlt es sich einigermaßen angenehm an?“

„Fühlt sich gut an. Ungewohnt, aber gut.“ Jim sah den Arzt an und wartete darauf, dass dieser seinem Patienten in die Augen sah, wie es sicher üblich war, um sich die Bestätigung zur Aussage zu holen, doch Leonard nickte nur und räumte die überschüssigen Utensilien zurück in den Arztkoffer. Jim rutschte daraufhin zu ihm auf, was er für einen kurzen, aber sehr schmerzhaften Moment bereute, da seine Rippen ihm die Bewegung sehr übelnahmen. Sein linkes Bein lag nun in lockerem Winkel über Leonards. „Was ist los?“

Leonard blickte stur auf Jims angewinkeltes Bein, das ihm für seinen Geschmack viel zu nahe an seinem Schritt lag. Einfach zu nahe … Ohne Rücksicht auf Jims Verletzung zu nehmen, schob er daher das Bein des anderen von seinem eigenen herunter und stand auf. „Wieso soll irgendwas los sein?“ Ihre Blickte trafen sich nur für den Bruchteil einer Sekunde, als Leonard es wagte Jim anzusehen. Er wollte ihm beweisen, dass absolut alles in Ordnung war, aber die Tatsache, dass er Jim nicht mehr in die Augen sehen konnte, strafte ihn lügen.

Zu Leonards Überraschung zuckte Jim die Schultern und hakte nicht länger nach. Entweder war Jim blauäugiger als er zunächst gedacht hatte oder dieser bemühte sich diskret zu bleiben. Allerdings hielt Leonard seinen Patienten für einen ziemlich gerissenen Hund. Ihm war sicher nicht entgangen, dass er ihn für einige Moment beobachtet hatte. Da Leonard jedoch nicht darüber reden oder näher darauf eingehen wollte, schien Jim es ebenfalls dabei zu belassen. Aus welchen Gründen auch immer; Leonard war jedenfalls dankbar dafür.

„Jetzt, da wir satt sind und keiner mehr für üble Gerüche absondert, könnten wir doch zusammen weiterlesen“, schlug Jim scheinbar arglos vor und griff bereits wieder zu der Kuscheldecke.

Leonard erstarrte für einen Moment und hob dann nachdenklich den Arztkoffer an, den er noch wegräumen wollte. „Wieso liest du nicht allein weiter und ich …“

„Hey, du hast damit angefangen. Jetzt macht es mir Spaß abwechselnd mit dir zu lesen. Das hat was …“

„Was?“, wagte Leonard zu fragen und hoffte, dass er es nicht bereute.

Wieder zuckte Jim beinahe unschuldig die Schultern. „Es ist schön. Gemütlich. Angenehmer als erwartet. Fast schon … besinnlich.“

Leonard schluckte einen Kloß in seinem Hals herunter. Jim konnte seinen Adamsapfel auf- und abspringen sehen.

„Komm schon“, bat der jüngere Mann und klopfte neben sich auf das Sofa.

Schon allein beim Gedanken daran, sich wieder in Jims körperliche Nähe zu begeben, wurde Leonard seltsam flau zumute. Sein Verstand sagte ihm, dass es lächerlich war, dass er sich wie ein unsicherer Teenager benahm, aber er kam nicht dagegen an. Er konnte beim besten Willen nichts dagegen tun. Dabei war es doch einfach nur ein der Körper eines Mannes, der duschte. Das war doch bei Leibe nichts Neues für ihn. Körper grundsätzlich waren ihm nicht fremd. Er war Arzt! „Ich, ähm – mache mir noch einen Tee. Willst du auch einen?“

Ein warmes Lächeln erschien auf Jims Zügen. „Sehr gerne.“

Erleichtert darüber einen Grund zu haben, wieder etwas mehr Abstand zwischen sie zu bringen, verstaute er rasch seine Arzttasche und ging hinüber zur Küchenzeile. In einem der oberen Schränke fand er dann eine Bambusbox mit diversen Teesorten. „Meine Mutter steht auf diese Ayurveda-Tees. Die meisten sind aber wirklich nicht übel.“

Jim hatte keine Ahnung was Ayurveda war, wollte sich aber auch nicht die Blöße geben und nachfragen. „Ich nehme einfach den gleichen Tee wie du. Ich vertraue dir.“

„Ach, so plötzlich?“, fragte Leonard leichthin über seine Schulter und endlich wich die Anspannung ein wenig aus seinem Körper. „Dann wird es ‚Innere Harmonie‘ sein.“

Jim gluckste leise an seinem Platz auf dem Sofa. „Hört sich gut an.“

Wenig später nippte Jim an seiner Tasse und sog den angenehmen Duft der Teemischung tief ein. „Sehr aromatisch. Ich glaube, das ist der leckerste Tee, den ich je getrunken habe.“

„Mir sind Mutters Teesorten manchmal etwas zu exotisch, aber diesen mag ich der Tat ganz gerne“, meinte Leonard und folgte Jims Beispiel. Nach zwei weiteren Schlucken stellte er die Tasse auf die Holzkiste, die als Couchtisch diente, und schlug das Buch in seinem Schoß auf, wo das Lesezeichen steckte.

Er hatte es sich, sehr zu Jims Leid, wieder auf dem Sessel bequem gemacht, anstatt sich zu ihm auf das Sofa zu gesellen. Jim nutzt den Abstand, um Leonard gründlich anzusehen. Er war nicht nur ein sehr interessanter und vielschichtiger Mann, sondern auch ein ausgesprochen attraktiver. Allerdings schien er sich dessen nicht bewusst zu sein. Jim fand ihn jedenfalls anziehend und wollte unbedingt mehr über ihn erfahren. Wenn er mehr über ihn wüsste, gelänge es ihm vielleicht doch noch die raue Schale des Arztes zu knacken. Er wollte wissen, ob er mit seiner Vermutung richtig lag, dass sich darunter ein recht weicher Kern versteckte. Leonard blätterte um und räusperte sich, ehe er weiterlas. Die Stimme wieder hart und kühl, wie es Jim inzwischen gewohnt von ihm war, wenn er einen von Scrooges Dialogen vorlas. Jims Augenmerk schweifte von Leonards Stimme ab und wandte sich dessen Fingern zu, die das Buch zärtlich hielten. Er hatte lange, schlanke Finger, was seinen Händen eine schöne Größe und Form verlieh. Die Nägel waren ganz kurz geschnitten, was Jim stets begrüßte und auf gute Pflege hindeutete. Der Dreitagebart in Leonards Gesicht ließ als einziges Anzeichen noch darauf schließen, dass er momentan weniger Wert auf sein Äußeres legte. Doch Jim mochte den Dreitagebart, der Leonards Männlichkeit perfekt unterstrich. Als Leonards Stimme plötzlich verstummte, wurde Jim sich der peinlichen Tatsache bewusst, dass er gar nicht mehr auf die Worte gehört hatte, sondern ganz und gar in seiner Beobachtung versunken war. Ein verlegenes Lächeln legte sich auf seine Lippen.

„Wo bist du gerade gedanklich?“ Leonard war Jims geistige Abwesenheit nicht unbemerkt geblieben. „Denkst du an deinen Bruder?“

Jim schüttelte irritiert den Kopf. Sam war nun wirklich der letzte, an den Jim gerade dachte. Er nahm sich seine Tasse und trank ein paar Schlucke, um die Trockenheit seiner Kehle loszuwerden. „Nein. Nein, an Sam habe ich nicht gedacht.“

„Du schienst weit fort zu sein.“

Jim lachte leise auf und rieb sich anschließend die stechenden Rippen. Er würde es nie lernen. „Im Gegenteil“, sagte Jim. „Ich war ganz hier. Ich …“ Sein Blick wanderte von Leonards fragend drein blickendem Gesicht über dessen Brustkorb, der sich hob und senkte, weiter zu dem Buch, das er in seinen Händen hielt und das ganz unschuldig in seinem Schoß lag. „Du bist unglaublich. Hat dir das jemals jemand gesagt?“

Darauf wusste Leonard absolut nichts zu erwidern. Er steckte das Lesezeichen zurück in das Buch, klappte es zu und legte es neben seine Tasse auf die Holzkiste, die ihn von Jim trennte.

„Ich weiß, du hast mir eine klare Abfuhr erteilt. Und das respektiere ich auch. Aber ich will verdammt sein, wenn ich dir nicht sage, wie unglaublich anziehend ich dich finde.“ Jetzt war es raus und Jim konnte es nicht mehr zurücknehmen. Wahrscheinlich würde Leonard jeden Moment das Buch nach ihm werfen, oder seine Teetasse, aber das war Jim egal. Es war ja nicht so, dass er irgendwas zu verlieren hatte. Leonard saß reglos auf seinem Platz und sah ihn an. Immerhin wagte er es wieder Jim direkt anzusehen. Der Ausdruck in seinem Gesicht war jedoch geprägt von Unglauben.

Sein letzter Flirt lag Jahre zurück. Jahrzehnte, um genau zu sein. Leonard hatte vor Jocelyn genau zwei andere Freundinnen gehabt. Die Beziehungen hatten jedoch nur wenige Monate gehalten, keine länger als ein halbes Jahr. Dann war er mit Jocelyn zusammen gekommen und sie hatten geheiratet. Komplimente waren immer etwas gewesen, das er gegeben, aber nie empfangen hatte. Er konnte nicht wirklich damit umgehen, was Jim ihm so offenherzig mitgeteilt hatte. Und so recht wollte er auch nicht daran glauben, weil er sich selbst nie so gesehen hatte. Er war manchmal schmerzhaft ehrlich und direkt und loyal bis zum Ende. Anziehend war jedoch kein Begriff, den er je mit sich selbst in Verbindung gebracht hatte. Er wusste daher nicht, was er erwidern sollte. Alles in ihm drängte danach hinaus an die frische Luft zu gehen, Abstand zu gewinnen. Aber sie saßen in der Hütte fest und es gab kaum eine Möglichkeit Jim auszuweichen. Er stand im Grunde mit dem Rücken an der Wand.

Jim wagte es nach einer gefühlten Ewigkeit, in der Leonard ihn nur ungläubig angesehen hatte, langsam auf dem Sofa vorzurücken. Er saß schließlich in Leonards unmittelbarer Nähe und wollte ihn berühren, doch Leonard schrak regelrecht zurück und sprang von seinem Sessel auf. „Entschuldige“, bat Jim und fürchtete zu weit gegangen zu sein. „Ich wollte mich nicht aufdrängen.“

„Hast du nicht.“ Leonard wandte ihm die Kehrseite zu und ging um den Sessel herum. Einige lange Sekunden verstrichen und er konnte Jims Blick deutlich in seinem Rücken spüren. „Ich weiß nicht, wie du das machst, aber …“

„Aber?“, hakte Jim nach, als Leonard nicht fortfuhr und stattdessen den Blick zur Küchenzeile richtete, als gäbe es dort irgendwas ganz Interessantes zu sehen.

Leonard wandte sich ihm wieder zu. „Aber du hast mich neugierig gemacht.“

Ein unsicheres Lächeln erschien auf Jims Gesicht. „Inwiefern neugierig.“

Der Arzt zuckte die Schultern und drehte sich wieder weg. Er rieb sich über das Gesicht und starrte erneut zur Küche hinüber. Was tat er hier nur? Er kannte Jim keine zwei Tage. Das war nicht sein Stil. Er war nie jemand gewesen, der sich unüberlegt in eine Sache stürzte und in eine so waghalsige schon gleich gar nicht. Als sich Jims Hand auf seine Schulter legte, zuckte Leonard unter der unerwarteten Berührung zusammen. Wann war Jim aufgestanden und zu ihm herüber gekommen? Sein Herz schlug ihm plötzlich wie wild in der Brust.

„Bones“, begann Jim und drehte Leonard zu sich herum. Er verlor beinahe das Gleichgewicht dabei und hielt sich instinktiv mit beiden Händen an den Schultern des anderen fest.

Leonard legte ihm die Hände unter die Unterarme, um Jim zusätzlich zu stützen und sah ihm dabei in die Augen. Verdammt, das Blau dieser Augen war einfach unfassbar klar. Und Jims volle Lippen so verführerisch. „Ich habe dich vorhin beobachtet“, gestand er dann, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

Jims Hände wanderten von Leonards Schultern hinab zu dessen Hüfte. Er hielt sich am Becken des anderen fest und lächelte bedeutsam. „Ich weiß und ich habe es genossen.“ In Leonards Blick lag so viel Unsicherheit, dass der Wunsch, ihm diese weg zu küssen, nur noch mehr in Jim heranwuchs. Zögerlich hob er wieder seine Hände, um Leonards Gesicht damit zu umrahmen. Als er keinen Widerspruch in Leonards Augen fand, lehnte er sich vor, um ihn zu küssen.

Ihre Lippen hatten sich noch nicht berührt, da riss sich Leonard so jäh von Jim los, dass dieser beinahe stürzte und alle Mühe hatte, sein Gleichgewicht wieder zu finden. „Ich kann das nicht. Es tut mir leid.“ Daraufhin schnappte er sich seine Winterjacke, schlüpfte geschwind in seine Stiefel und verschwand trotz des vielen Schnees und der Eiseskälte nach draußen.

Nichts was Jim sagte, konnte ihn davon abhalten. Und so blickte er dem Arzt nur fragend und vollkommen verblüfft hinterher. „Idiot!“, schimpfte er sich selbst und hüpfte unbeholfen zurück zum Sofa, auf das er sich mit einem frustrierten Seufzen fallen ließ. Er setzte sich so hin, dass er die Tür gut im Blick hatte, die er nicht mehr aus den Augen ließ.

Vor der Tür sank Leonard auf die wenigen Stufen vor dem Haus, die er Stunden zuvor mühsam vom Schnee befreit hatte und legte den Kopf auf seine Knie. Was war nur los mit ihm? War er so einsam, dass er bereit war, sich auf einen Fremden einzulassen? Er hatte sich selten von seinen gottgegebenen Trieben leiten lassen, hatte sich immer gut im Griff gehabt. Er war wenig körperliche Zuwendung gewohnt. Vor allem in den letzten Jahren, als Jocelyn zunehmend Ausreden gefunden hatte, um nicht das Bett mit ihm teilen zu müssen. Er hatte irgendwann angenommen, dass er einfach nicht mehr attraktiv war und dass sie ihn deshalb nicht mehr haben wollte. Und dann tauchte Jim in seinem Leben auf und erzählte ihm plötzlich das genaue Gegenteil. Ausgerechnet ein Kerl wie Jim, der nach Leonards Maßstäben quasi der Inbegriff von Attraktivität war. Die ganze Welt schien plötzlich auf dem Kopf zu stehen.
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